Drogenscreening – oder: die beaufsichtigte Urinkontrolle in der JVA

Das Bundesverfassungsgericht hat einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die sich gegen fachgerichtliche Entscheidungen richtet, mit denen der inhaftierte Inhaftierten bei mehreren zur Feststellung eines Suchtmittelkonsums durchgeführten Urinkontrollen zur Entblößung seines Genitals verpflichtet wurde.

Drogenscreening – oder: die beaufsichtigte Urinkontrolle in der JVA

Dem zugrunde lag ein Fall aus der Justsizvollzugsanstalt Bochum: Der Inhaftierte verbüßte eine mehrjährige Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt. Um Suchtmittelmissbrauch zu unterbinden, wurden von der Abteilungsleitung regelmäßig allgemeine Drogenscreenings mittels Urinkontrollen angeordnet und durch gleichgeschlechtliche Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdiensts durchgeführt. Um Manipulationen oder Täuschungshandlungen, wie die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, erfolgten die Urinabgaben unter Aufsicht. Auch beim Inhaftierten wurden in der Zeit vom 24.11.bis zum 28.12.2020 vier beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt, bei denen der anwesende Justizvollzugsbedienstete während der Abgabe der Urinprobe jeweils einen freien Blick auf das entkleidete Genital des Inhaftierten hatte. Anfang Januar 2021 beantragte der Inhaftierte eine gerichtliche Entscheidung. Er begehrte, dass zukünftig Feststellungen zum Suchtmittelkonsum durch eine Blutentnahme aus der Fingerbeere erfolgen sollten. Zudem beantragte er die Feststellung, dass die durchgeführten Urinabgaben unter Sichtkontrolle rechtswidrig gewesen seien. Die vier Urinproben innerhalb von gut vier Wochen hätten sein Schamgefühl erheblich verletzt und massiv in seine Intimsphäre eingegriffen. Die Justizvollzugsanstalt entgegnete, dass der erste Antrag auf gerichtliche Entscheidung unzulässig sei, weil zuvor kein entsprechender Antrag bei ihr gestellt worden sei. Der zweite Antrag sei unbegründet. Rechtsgrundlage der Urinkontrollen sei § 65 Abs. 1 des Strafvollzugsgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (StVollzG NRW). Diese dienten der Feststellung des Suchtmittelmissbrauchs. Um Manipulationen oder Täuschungshandlungen, namentlich die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, sei eine Urinabgabe unter Aufsicht erforderlich.

Das Landgericht Bochum verwarf den ersten Antrag als unzulässig und den zweiten Antrag als unbegründet1. Die Urinkontrollen seien rechtmäßig erfolgt. Die Maßnahme berühre nicht nur die gesundheitlichen Belange eines Gefangenen und seine Resozialisierung, sondern auch die Sicherheit des Strafvollzugs. Weiterhin ergebe sich aus § 65 StVollzG NRW keine Pflicht, eine andere Form der Kontrolle anzubieten. Andere Maßnahmen, die Manipulationen ausschließen würden, wären mit körperlichen Untersuchungen verbunden, welche einen wesentlich gravierenderen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellten. Die gegen den Beschluss des Landgerichts erhobene Rechtsbeschwerde des Inhaftierten verwarf das Oberlandesgericht Hamm als unzulässig2. In Bezug auf den Verpflichtungsantrag sei die Rechtsbeschwerde unzulässig, weil kein zulässiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung vorgelegen habe. Im Hinblick auf den Feststellungsantrag sei es nicht geboten, die Nachprüfung des angefochtenen Beschlusses zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen.

Die daraufhin erhobene Verfassungsbeschwerde, mit der der Inhaftierte insbesondere eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art.19 Abs. 4 und Art.20 Abs. 3 GG rügt, beurteilte das Bundesverfassungsgericht als offensichtlich begründet: das Bundesverfassungsgericht hob die Entscheidungen des Landgerichts Bochum wie des Oberlandesgerichts Hamm auf und verwies die Sache zurück an das Langericht Bochum:

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Der angegriffene Beschluss des Landgerichts Bochum verletzt den Inhaftierten in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht.

 Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts sind grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte, unterliegen aber der verfassungsgerichtlichen Prüfung daraufhin, ob sie die Grenze zur Willkür überschreiten oder die Bedeutung eines Grundrechts grundsätzlich verkennen3. Der fachgerichtliche Spielraum ist insbesondere dann überschritten, wenn das Gericht bei der Gesetzesauslegung und -anwendung in offensichtlich nicht zu rechtfertigender Weise den vom Gesetzgeber gewollten und im Gesetzestext ausgedrückten Sinn des Gesetzes verfehlt4 oder das zu berücksichtigende Grundrecht völlig unbeachtet gelassen hat5.

Grundrechte dürfen nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes und nur unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden; dies gilt auch für Grundrechte von Gefangenen6. Staatliche Maßnahmen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar7. Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl des Inhaftierten berühren, lassen sich im Haftvollzug nicht immer vermeiden. Sie sind aber von besonderem Gewicht. Der Gefangene hat insoweit Anspruch auf besondere Rücksichtnahme8. Der bloße Umstand, dass Verwaltungsabläufe sich ohne eingriffsvermeidende Rücksichtnahmen einfacher gestalten, ist hier noch weniger als in anderen, weniger sensiblen Bereichen geeignet, den Verzicht auf solche Rücksichtnahmen zu rechtfertigen9.

Diesen Maßstäben wird der angegriffene Beschluss des Landgerichts Bochum vom 11.03.2021 nicht gerecht. Die durch das Landgericht vorgenommene Auslegung der Tatbestandsmerkmale der von der Justizvollzugsanstalt für die angeordnete Urinkontrolle gewählten Rechtsgrundlage sowie die gerichtliche Überprüfung der durch die Justizvollzugsanstalt vorgenommenen Abwägung auf Ermessensfehler beruht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Persönlichkeitsrechts des Inhaftierten.

Es ist bereits fraglich, ob die von der Justizvollzugsanstalt auf § 65 StVollzG NRW gestützte Urinkontrolle aufgrund des damit einhergehenden schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch ohne konkreten Verdacht des Drogenmissbrauchs des betroffenen Gefangenen angeordnet werden kann.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass es verfassungsrechtlich unbedenklich ist, wenn eine Urinkontrolle bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für einen Betäubungsmittelkonsum, wozu etwa auch eine einschlägige Vorbelastung des Gefangenen zählt, zum Nachweis eines eventuell vorausgegangenen Drogenkonsums angeordnet wird10.

Hingegen betrifft der vom Landgericht im angegriffenen Beschluss in Bezug genommene Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 17.02.2006 eine freiwillige Urinprobe, zu der sich der Gefangene im Rahmen der Vollzugsplanvereinbarung zur Vorbereitung von Vollzugslockerungen bereit erklärt hatte11. Vor den Fachgerichten stand in diesem Fall in Streit, ob die Abgabe der Urinprobe nur auf Anordnung und in Anwesenheit eines Arztes zulässig gewesen sei. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Abgabe von Urinproben im Rahmen der Bewährungsüberwachung12 führte das Bundesverfassungsgericht in dieser – nicht unmittelbar einschlägigen – Entscheidung aus, dass die Menschenwürde nicht verletzt sei. Der Betroffene werde durch die Abgabe von Urin nicht zu einem bloßen Schauobjekt erniedrigt. Die Maßnahme diene weder der Herabwürdigung noch sonstigen rechtlich zu missbilligenden Zwecken, sondern unmittelbar der Resozialisierung, an der die Allgemeinheit ein überragendes Interesse habe13.

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In Nordrhein-Westfalen hat der Landesgesetzgeber mit § 65 StVollzG NRW vom 13.01.201514 eine eigenständige Rechtsgrundlage für Maßnahmen zur Suchtmittelkontrolle geschaffen. Danach können zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Justizvollzugsanstalt allgemein oder im Einzelfall Maßnahmen angeordnet werden, die geeignet sind, den Missbrauch von Suchtmitteln festzustellen. Mit Änderungsgesetz vom 01.09.201715 wurde § 65 Abs. 1 Satz 2 StVollzG NRW dahingehend geändert, dass die Maßnahme mit einem geringfügigen Eingriff, namentlich einer Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut, verbunden sein darf, wenn die Gefangenen einwilligen.

In Literatur und fachgerichtlicher Rechtsprechung ist umstritten, ob im Strafvollzug zur Bekämpfung des Betäubungsmittelkonsums in Justizvollzugsanstalten Drogentests mittels Urinkontrollen auch anlasslos, das heißt ohne Vorbelastung oder einen sonst begründbaren Verdacht eines Drogenkonsums des Gefangenen, angeordnet werden können.

Nach einer Ansicht wird bei speziellen Rechtsgrundlagen in den Strafvollzugsgesetzen der Länder, die nach dem Wortlaut eine allgemeine Anordnung von Suchtmittelkontrollen zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt zulassen, eine anlasslose Anordnung von Urinkontrollen in der Justizvollzugsanstalt für zulässig erachtet, weil der Drogenkonsum in Haftanstalten besondere Gefahren für deren Sicherheit und Ordnung mit sich bringe, denen anders nicht wirksam begegnet werden könne16. Teilweise wird einschränkend gefordert, dass die Maßnahme entfallen müsse, wenn im konkreten Einzelfall die Annahme von Suchtmittelmissbrauch fernliegend erscheine17. Nach anderer Ansicht kann aufgrund der Eingriffsintensität eine nach den speziellen Rechtsgrundlagen mögliche „allgemeine“ Anordnung von Suchtmittelkontrollen mittels Urinproben nur erfolgen, wenn die angeordneten Kontrollen an hinreichend konkrete Aussagen dazu anknüpften, welcher Adressatenkreis aus welchem Anlass und unter welchen Voraussetzungen zu kontrollieren sei. Anordnungen, die voraussetzungslos alle Gefangenen einer jederzeitigen Kontrolle durch Abgabe von beobachteten Urinkontrollen unterziehen, seien hingegen nicht verhältnismäßig18.

Unabhängig davon wird eine Urinkontrolle zum Schutz der Gesundheit überwiegend nur dann für zulässig erachtet, wenn aufgrund konkreter objektiver Tatsachen Anlass zu der Befürchtung bestehe, dass der Gefangene Suchtmittel konsumiert hat beziehungsweise eine Suchtmittelgefährdung des betroffenen Gefangenen bekannt ist und der Nachweis des Konsums und die hiermit verbundene Aufdeckung innervollzuglichen Drogenkonsums durch die Untersuchung der Urinprobe möglich erscheint. Der Konsum von Suchtmitteln durch einzelne Gefangene berge die Gefahr, dass weitere Gefangene freiwillig oder unfreiwillig, gegebenenfalls auch erstmals, mit Drogen in Kontakt kämen. Eine anlasslose Anordnung einer Urinprobe zum Schutz der Gesundheit sei aber im Lichte des aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Persönlichkeitsrechts unzulässig, weil die allgemeine Gefahr, dass Gefangene im Rahmen des Strafvollzugs mit Drogen in Kontakt kommen könnten, keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für einen Drogenkonsum des betroffenen Gefangenen liefern und nicht mit hinreichender Sicherheit erwartet werden könne, dass durch die Untersuchung der Probe Erkenntnisse im Hinblick auf einen etwaigen Drogenkonsum gewonnen werden könnten19.

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Nach der Gegenauffassung kann aufgrund des großen Anteils Drogenabhängiger an der Gefangenenpopulation ein Drogenscreening zum Schutz der Gesundheit der Gefangenen auch in Form von Zufallsstichproben angeordnet werden20.

Die Frage, ob im Strafvollzug grundsätzlich auch anlasslos Urinkontrollen angeordnet werden können, kann vorliegend offen bleiben. Denn das Landgericht hat bei der vorgenommenen Auslegung der Tatbestandsmerkmale bereits nicht berücksichtigt, dass § 65 StVollzG NRW speziell Maßnahmen „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt“ ermöglicht. Für Maßnahmen zum Gesundheitsschutz des Gefangenen sehen sowohl das Strafvollzugsgesetz (des Bundes) als auch das Strafvollzugsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen eine eigenständige Rechtsgrundlage vor (vgl. § 56 StVollzG, § 43 StVollzG NRW). Auch die vom Landgericht in Bezug genommene fachgerichtliche Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Hamm bezieht sich noch auf die rechtliche Lage vor dem Inkrafttreten der speziellen Rechtsgrundlage für Suchtmittelkontrollen in § 65 StVollzG NRW. So hätte sich das Landgericht insbesondere bei der umstrittenen Frage, ob beaufsichtigte Urinkontrollen auch anlasslos angeordnet werden können, damit auseinandersetzen müssen, ob diese unter Berücksichtigung des damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung“ (so die von der Justizvollzugsanstalt herangezogene spezielle Rechtsgrundlage für Suchtmittelkontrollen nach § 65 StVollzG NRW) gerechtfertigt sein kann. Die vom Landgericht insoweit nicht differenzierende Abwägung lässt eine Unterscheidung der genannten Rechtsgrundlagen nicht erkennen. Unter Berücksichtigung des schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, der die Intimsphäre berührt, kann die dieses Grundrecht einschränkende Rechtsgrundlage aber nicht dahinstehen.

Darüber hinaus hat das Landgericht nicht beachtet, dass mit Änderungsgesetz vom 01.09.201721 § 65 Abs. 1 Satz 2 StVollzG NRW dahingehend geändert wurde, dass die Maßnahme mit einem geringfügigen Eingriff, namentlich einer Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut, verbunden sein darf, wenn die Gefangenen einwilligen. Der Landesgesetzgeber hat die Gesetzesänderung damit begründet, dass die fachgerichtliche Rechtsprechung zwar gebilligt habe, dass die Vollzugsbehörde die Abgabe einer Urinprobe in einer Weise verlangen könne, die eine Manipulation der Probe nach Möglichkeit ausschließt, und dass dies in Einzelfällen etwa durch die Abgabe von Urinproben im Beisein von Bediensteten erfolgen könne22. Allerdings wiege der damit verbundene Eingriff in das Persönlichkeitsrecht in der Regel schwerer als die bloße Punktion der Fingerbeere zur Abnahme eines Tropfen Blutes. Auch im Übrigen erscheine die Methode einer Punktion der Fingerbeere gegenüber anderen Methoden überlegen, weil sie effektiv Manipulationen verhindere und, anders als etwa Haaranalysen, konkrete Aussagen über die Art und das Maß eines Suchtmittelmissbrauchs zulasse22. Vor diesem Hintergrund sollten sich die Gefangenen deshalb entscheiden können, ob sie beobachtet eine Urinkontrolle abgeben oder sich mit dem neuen Testverfahren einverstanden erklären wollten22.

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Mit Blick auf die durch diese Gesetzesänderung ausdrücklich ermöglichte alternative Testmöglichkeit kommt es nicht mehr darauf an, ob als milderes Mittel auch eine vorherige Durchsuchung des Gefangenen mit dessen Einverständnis in Betracht kommt. In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die nicht weiter ausgeführten Aussagen der Justizvollzugsanstalt und des Landgerichts, eine vorherige Durchsuchung sei jedenfalls mit einem erheblichen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht verbunden und komme deshalb nicht in Frage, in dieser Pauschalität nicht zu überzeugen vermögen. So ist es individuell verschieden, wie belastend beziehungsweise wie schamhaft die Abgabe von Urin unter Beobachtung durch eine dritte Person empfunden wird. Es kann also gerade der besonderen Rücksichtnahme auf das Schamgefühl des Gefangenen entsprechen, wenn diesem die Wahl gelassen wird, ob er mit einer vorherigen Durchsuchung einverstanden ist (mit der Folge, dass die Urinabgabe ohne Blick der Aufsichtsperson auf das entkleidete Glied erfolgen könnte) oder ob die Urinabgabe unter Aufsicht erfolgen soll23.

Jedenfalls hat das Landgericht nicht geprüft, ob die Justizvollzugsanstalt – der Gesetzesänderung in § 65 Abs. 1 Satz 2 StVollzG NRW entsprechend – als milderes Mittel statt einer beobachteten Urinkontrolle die Kontrolle durch Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut hätte anbieten müssen. Die vom Landgericht nicht näher erläuterte Annahme, dass andere Maßnahmen, die eine Manipulation ausschließen, körperliche Untersuchungen voraussetzen würden, welche einen wesentlich gravierenderen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellten, ist unter Berücksichtigung des ausdrücklich erklärten Einverständnisses des Inhaftierten mit einer Punktion der Fingerbeere nicht nachvollziehbar. So wiegt der die Intimsphäre berührende Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht bei beaufsichtigten, mit Entkleidung verbundenen Urinkontrollen in der Regel deutlich schwerer als der mit einer (einverständlichen) Punktion der Fingerbeere verbundene Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Gefangenen. Da die Justizvollzugsanstalt bei Anordnung grundrechtseinschränkender Maßnahmen von Amts wegen zu prüfen hat, ob diese die Verhältnismäßigkeit wahren, also kein milderes Mittel zur Wahrung der Sicherheitsinteressen in Betracht kommt, steht dem auch nicht entgegen, dass der Inhaftierte vor Anordnung der ersten Urinkontrolle keinen ausdrücklichen Antrag gestellt hat, die Kontrolle mittels Punktion der Fingerbeere durchzuführen. Entsprechend hat auch der Landesgesetzgeber ausgeführt, dass die Gefangenen selbst entscheiden können sollen, ob sie sich mit der Punktion der Fingerbeere einverstanden erklären oder beobachtet eine Urinkontrolle abgeben wollen24.

Schließlich hat es das Landgericht versäumt, innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen, dass auch die angeordnete Frequenz der Kontrollen nicht angemessen gewesen sein könnte. So erfordert ein gerechter Ausgleich zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, insbesondere der Wahrung der Intimsphäre des Gefangenen, und dem Sicherheitsinteresse der Vollzugsanstalt auch die Prüfung, in welcher Frequenz einzelne beobachtete Urinkontrollen zur Suchtmittelprävention angeordnet werden dürfen. Die Vorgehensweise der Justizvollzugsanstalt unterliegt aufgrund der Eingriffsintensität von vier beaufsichtigten Kontrollen innerhalb von fünf Wochen ohne konkrete Anhaltspunkte für einen Drogenkonsum erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Überdies ist das Landgericht nicht darauf eingegangen, dass die Justizvollzugsanstalt keine überzeugende Begründung für die hohe Anzahl von anlasslosen Kontrollen innerhalb dieser kurzen Zeitspanne gegeben hat.

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Die Verfassungsbeschwerde ist auch hinsichtlich des angegriffenen Beschlusses des Oberlandesgerichts Hamm offensichtlich begründet. Dieser Beschluss verletzt den Inhaftierten in seinen Rechten aus Art.19 Abs. 4 GG.

Zwar fordert Art.19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug. Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art.19 Abs. 4 GG den Betroffenen auch insoweit eine wirksame gerichtliche Kontrolle25. Die Rechtsmittelgerichte dürfen ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch die Art und Weise, in der sie die gesetzlichen Voraussetzungen für den Zugang zu einer Sachentscheidung auslegen und anwenden, ineffektiv machen und für den Rechtssuchenden „leer laufen“ lassen; der Zugang zu den in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanzen darf nicht in einer durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden26.

Diesen Anforderungen hält der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts nicht stand.

§ 119 Abs. 3 StVollzG erlaubt, von einer Begründung der Rechtsbeschwerde-entscheidung abzusehen, wenn das Oberlandesgericht die Beschwerde für unzulässig oder offensichtlich unbegründet erachtet, was das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des Feststellungsbegehrens des Inhaftierten vorliegend getan hat. Dies ist verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden27. Daraus folgt jedoch nicht, dass sich der Beschluss selbst verfassungsrechtlicher Prüfung entzöge oder die Maßstäbe der Prüfung zu lockern wären. Vielmehr ist in einem solchen Fall die Entscheidung bereits dann aufzuheben, wenn an ihrer Vereinbarkeit mit Grundrechten des Inhaftierten erhebliche Zweifel bestehen28. Dies ist angesichts der aufgezeigten inhaltlichen Abweichung der Entscheidungsgründe des Landgerichts von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hier der Fall.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22. Juli 2022 – 2 BvR 1630/21

  1. LG Bochum, Beschluss vom 11.03.2021 – V StVK 3/21[]
  2. OLG Hamm, Beschluss vom 06.08.2021 – III-1 Vollz(Ws) 238+241+334-336/21[]
  3. vgl. BVerfGE 18, 85 <93> 30, 173 <196 f.> 57, 250 <272> 74, 102 <127> stRspr[]
  4. vgl. BVerfGE 86, 59 <64>[]
  5. vgl. BVerfGE 59, 231 <268 f.> 77, 240 <255 f.>[]
  6. vgl. BVerfGE 33, 1 <11> 89, 315 <322 f.>[]
  7. vgl. BVerfGK 2, 102 <105> 17, 9 <14> BVerfG, Beschluss vom 23.09.2020 – 2 BvR 1810/19, Rn. 21[]
  8. vgl. BVerfGK 17, 9 <16> BVerfG, Beschluss vom 05.11.2016 – 2 BvR 6/16, Rn. 29; Beschluss vom 27.03.2019 – 2 BvR 2294/18, Rn. 17; Beschluss vom 23.09.2020 – 2 BvR 1810/19, Rn. 21[]
  9. vgl. BVerfGK 17, 9 <16> BVerfG, Beschluss vom 04.02.2009 – 2 BvR 455/08, Rn. 33; Beschluss vom 10.07.2013 – 2 BvR 2815/11, Rn. 17[]
  10. vgl. für die Anordnung einer Urinkontrolle eines Untersuchungsgefangenen BVerfG, Beschluss vom 06.11.2007 – 2 BvR 1136/07, Rn. 27; für die Anordnung einer Urinkontrolle eines Strafgefangenen BVerfG, Beschluss vom 06.08.2009 – 2 BvR 2280/07, Rn. 3[]
  11. vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.02.2006 – 2 BvR 204/06, Rn. 8[]
  12. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21.04.1993 – 2 BvR 930/92, juris; und vom 09.06.1993 – 2 BvR 368/92[]
  13. vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.02.2006 – 2 BvR 204/06, Rn. 10[]
  14. GV NRW 2015, S. 76[]
  15. GV NRW 2017, S. 511[]
  16. vgl. KG, Beschluss vom 05.10.2017 – 2 Ws 92/17 Vollz19; OLG München, Beschluss vom 27.09.2011 – 4 Ws 5/11 (R) 26; OLG Hamm, Beschluss vom 16.06.2015 – 1 Vollz (Ws) 250/15 2[]
  17. vgl. Harrendorf/Ullenburch, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl.2019, 11. Kap., D., Rn. 15[]
  18. vgl. Goerdeler, in: Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl.2017, Teil II, § 76 LandesR Rn. 11[]
  19. vgl. LG Göttingen, Beschluss vom 29.06.2016 – 53 StVK 13/16 14 f.; OLG Jena, Beschluss vom 10.05.2007 – 1 Ws 68/07 33; OLG Dresden, Beschluss vom 12.05.2004 – 2 Ws 660/03 11; OLG Rostock, Beschluss vom 02.05.2004 – VAs 1/04 18; OLG Koblenz, Beschluss vom 16.08.1989 – 2 Vollz (Ws) 28/89, NStZ 1989, S. 550; LG Augsburg, Beschluss vom 06.11.1997 – 2 NöStVK 666/97, ZfStrVo 1998, S. 113; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 11. Aufl.2008, § 56 Rn. 5; Harrendorf/Ullenburch, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl.2019, 11. Kap., D., Rn. 12[]
  20. vgl. Arloth, in: Arloth/Krä, Strafvollzugsgesetze, 5. Aufl.2021, § 56 StVollzG Rn. 9; OLG Frankfurt/Main, Beschluss vom 10.03.2009 – 3 Ws 1111/08 (StVollz), NStZ-RR 2009, S. 295; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 30.03.1994 – 1 Ws 44/94 (Vollz) 4; OLG Hamm, Beschluss vom 03.04.2007 – 1 Vollz (Ws) 113/07 8[]
  21. GV NRW, S. 511[]
  22. LT-Drucks. NRW 16/13470, S. 325[][][]
  23. vgl. in diese Richtung LG Hamburg, Beschluss vom 08.12.1995 – 613 Vollz 87/95[]
  24. vgl. LT-Drucks. NRW 16/13740, S. 325; eine Einschränkung des Auswahlermessens der Justizvollzugsanstalt ebenfalls bejahend, so dass bei Vorliegen einer Einwilligung für eine Punktion der Fingerbeere die Anordnung einer beobachteten Urinkontrolle nur in Ausnahmefällen ermessensfehlerfrei sein könne, Arloth, in: Arloth/Krä, Strafvollzugsgesetze, 5. Aufl.2021, § 65 StVollzG NRW Rn. 1; Schmitt, in: BeckOK StVollzG NRW, § 65 Rn. 9 <1.12.2021>[]
  25. vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.> 54, 94 <96 f.> 122, 248 <271> stRspr[]
  26. vgl. BVerfGE 96, 27 <39> 117, 244 <268> 122, 248 <271> stRspr[]
  27. vgl. BVerfGE 50, 287 <289 f.> 71, 122 <135> 81, 97 <106>[]
  28. vgl. BVerfGK 19, 306 <317 f.> m.w.N.; BVerfG, Beschluss vom 26.01.2021 – 2 BvR 676/20 43[]
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  • Justizvollzugsanstalt: Falco