Der im Insolenzverfahren bestellte Sachverständige ist zu einer umfassenden Einsicht in die über den Insolvenzschuldner geführten Strafakten berechtigt, wenn sich daraus Hinweise dazu ergeben können, ob mit der Geltendmachung von Ansprüchen gegen den Insolvenzschuldner zu rechnen und mit welcher Wahrscheinlichkeit von einer Durchsetzung behaupteter Ansprüche Dritter auszugehen ist.

Weil der gerichtlich bestellte Sachverständige im Insolvenzverfahren gem. § 203 Abs. 2 Nr. 5 StGB zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, gilt dies auch für aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes ansonsten Dritten nicht zugänglichen Aktenbestandteilen.
In dem hier vom Oberlandesgericht Braunschweig entschiedenen Fall hatte war gegen den Angeschuldigten wurde vor der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Braunschweig Anklage wegen Betruges in 23 Fällen davon in 15 Fällen tateinheitlich mit Erpressung erhoben worden. Dabei soll er durch vorsätzliche falsche Angaben gegenüber dem Geschädigten R. von diesem verschiedene Einzelbeträge von mindestens 15.000 € bis maximal 400.000 €, insgesamt einen Betrag von 3.183.800 € erlangt und diese Beträge bislang nicht an den Geschädigten zurückgezahlt haben, das Amtsgericht Braunschweig hatte zur Sicherung zivilrechtlicher Ansprüche des R. einen dinglichen Arrest in Höhe von 2.888.800 € in das Vermögen des Angeschuldigten angeordnet. Der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer gewährte dem im Insolvenzeröffnungsverfahren über das Vermögen des hier Angeschuldigten mit der Erstellung eines Gutachtens gemäß § 5 InsO beauftragten Sachverständigen entsprechend dessen Antrag Einsicht in die Anklageschrift und den Arrestbeschluss. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Angeschuldigten wies das Oberlandesgericht Braunschweig zurück:
Die Gewährung der beantragten Einsicht in die Anklageschrift und den Arrestbeschluss ist rechtmäßig, denn zur Erfüllung seines gerichtlichen Gutachtenauftrages kann der Gutachter gemäß § 475 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StPO Einsicht in diese Unterlagen verlangen.
Das gem. § 475 Abs. 1 Satz 1 StPO hierfür erforderliche berechtigte Interesse hat der Sachverständige mit der Übersendung und dem Hinweis auf den Beschluss des Amtsgerichts Hagen, durch den er als Gutachter im Insolvenzeröffnungsverfahren über das Vermögen des Angeschuldigten bestellt wurde, hinreichend dargelegt. Als gem. § 5 Abs. 2 Satz 1 InsO gerichtlich bestellter Gutachter im Insolvenzverfahren muss der Sachverständige zur Beurteilung der Vermögenslage des Insolvenzschuldners – wie auch der Insolvenzverwalter gemäß § 80 Abs. 1 InsO – u.a. prüfen, ob mit der Geltendmachung von Ansprüchen gegen den Insolvenzschuldner zu rechnen und mit welcher Wahrscheinlichkeit von einer Durchsetzung behaupteter Ansprüche Dritter auszugehen ist. Sowohl in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Braunschweig vom 09.07.2014 als auch im Arrestbeschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 16.09.2013 werden potentielle Sachverhalte geschildert, aufgrund derer Herr R. Ansprüche gegen den Angeschuldigten/Insolvenzschuldner geltend machen könnte. Des weiteren könnten auch wegen eines gemäß § 111 i Abs. 5 StPO in Betracht kommenden Auffangrechtserwerbes des Staates Ansprüche gegen den Angeschuldigten/Insolvenzschuldner in Erwägung zu ziehen sein. Zur Beurteilung der oben aufgeworfenen Fragen benötigt der Antragsteller die beschriebenen Informationen. Darüber hinaus werden im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen der Anklageschrift vom 09.07.2014 unter II. 2. Vermögenswerte aufgezählt, die bei dem Angeschuldigten gesichert werden konnten. Diese Informationen benötigt der Antragsteller im Rahmen seines Gutachtenauftrages, um zu beurteilen ob ein Eröffnungsgrund vorliegt, ob eine kostendeckende Masse vorhanden ist und ob gegebenenfalls Sicherungsmaßnahmen zu treffen sind. Für die Beurteilung der Frage, ob und gegebenenfalls welche Sicherungsmaßnahmen zu treffen sind, sind auch die Ausführungen des Amtsgerichts Braunschweig im Arrestbeschluss vom 16.09.2013 von Interesse, in denen Bindungen des Angeschuldigten ins Ausland sowie eine Bankverbindung in Italien genannt werden.
Mehr als die Übersendung des Beschlusses des Amtsgerichts Hagen, durch den er als Sachverständiger beauftragt worden ist und seine Angabe, dass er die erbetenen Aktenbestandteile benötige, um seine Aufgabe als Sachverständiger zu erfüllen, war zur Darlegung des Interesses des Antragstellers nicht erforderlich.
Auch die Voraussetzungen des §§ 475 Abs. 2 StPO liegen vor. Danach kann unter den Voraussetzungen des Abs. 1 Akteneinsicht gewährt werden, wenn die Erteilung von Auskünften einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern oder nach Darlegung dessen, der Akteneinsicht begehrt, zur Wahrnehmung der berechtigten Interessen nicht ausreichen würde. Die in der Anklageschrift und dem Arrestbeschluss dargestellten Sachverhalte und Ausführungen begründen unter mehreren tatsächlichen Gesichtspunkten und insgesamt umfassend sowie auch im Gesamtzusammenhang ein berechtigtes Interesse des Antragstellers. Die Erteilung einzelner Auskünfte würde zur Wahrnehmung dieses Interesses nicht ausreichen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der durch das Gericht bestellte Sachverständige im Insolvenzeröffnungsverfahren nicht nur im Interesse einer Privatperson, sondern auch für die Rechtspflege tätig wird und seinem Interesse daher ein vergleichbares Gewicht beizumessen ist wie dem Interesse einer Justizbehörde, die nach § 474 Abs. 1 StPO Akteneinsicht verlangen kann1.
Diesem berechtigten Interesse des Antragstellers auf Einsicht in die Anklageschrift vom 09.07.2014 und den Arrestbeschluss vom 16.09.2013 steht kein schutzwürdiges Interesse des Angeschuldigten an der Versagung der Akteneinsicht gem. § 475 Abs. 1 Satz 2 StPO gegenüber. Der Beschwerdeführer beruft sich insoweit darauf, dass jedenfalls die Anklageschrift vom 09.07.2014 eine Vielzahl von Informationen enthalte, nach denen der Antragsteller nicht gefragt habe und die er für seine Gutachtenerstattung auch erkennbar nicht benötige.
Bei der gebotenen Abwägung zwischen dem berechtigten Interesse des Antragstellers und der schutzwürdigen Interessen des Angeschuldigten ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller als Sachverständiger im Insolvenzeröffnungsverfahren gerichtlich bestellt worden ist und der Angeschuldigte als Insolvenzschuldner diesem alle Auskünfte zu erteilen hat, die zur Aufklärung seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse erforderlich sind (§§ 22 Abs. 3, 97, 98 InsO).
Vor dem Hintergrund der erheblichen Bedeutung der ordnungsgemäßen Durchführung von Insolvenzverfahren besteht im Ergebnis kein Vorrang des Rechts des Angeschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber dem Akteneinsichtsinteresse des Antragstellers. Gleiches gilt für die von dem Beschwerdeführer ausdrücklich genannte Aufzählung seiner Vorstrafen und Ermittlungsverfahren sowie die Vorstrafen des Zeugen R. Denn auch daraus können sich u.U. Informationen für den Sachverständigen ergeben, die auf weitere gegen den Angeschuldigten gerichtete bestehende Ansprüche schließen lassen könnten. Ebenso gilt dies für die im wesentlichen Ergebnis der Anklageschrift aufgeführten Zeugenaussagen und die Ermittlungen der Polizei.
Soweit der Beschwerdeführer anführt, dass dies Informationen seien, die grundsätzlich der Amtsverschwiegenheit unterlegen, weist das Oberlandesgericht darauf hin, dass auch der gerichtlich bestellte Sachverständige im Insolvenzeröffnungsverfahren gem. § 203 Abs. 2 Nr. 5 StGB zur Verschwiegenheit verpflichtet ist.
Mithin liegen keine Gründe dafür vor, dass dem Antragsteller die vom Landgericht beabsichtigte Akteneinsicht in die Anklageschrift vom 09.07.2014 und den Arrestbeschluss vom 16.09.2013 durch Übersendung von Ablichtungen zu versagen wäre.
Oberlandesgericht Braunschweig, Beschluss vom 10. März 2016 – 1 Ws 56/16
- OLG Dresden, Beschluss vom 04.07.2013, 1 GS 53/13, RN 8, zitiert nach juris[↩]