Einverständnis in eine Freiheitsberaubung

Bezugspunkt für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis in eine Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 StGB ist der potentielle Fortbewegungswille.

Einverständnis in eine Freiheitsberaubung

Gemäß § 239 Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und Teilen der Literatur schützt § 239 StGB die potentielle persönliche Bewegungsfreiheit. In sie wird auch dann eingegriffen, wenn der von der Tathandlung Betroffene sich gar nicht wegbewegen will. Entscheidend ist allein, ob es ihm unmöglich gemacht wird, seinen Aufenthalt nach eigenem Belieben zu verändern. Ausschlaggebend ist mithin nur, ob der Betroffene sich ohne die vom Täter ausgehende Beeinträchtigung seiner Bewegungsmöglichkeit fortbegeben könnte, wenn er es denn wollte. Ob er seine Freiheitsbeschränkung überhaupt realisiert, ist danach ohne Belang1.

Eine im Schrifttum weit verbreitete Meinung sieht darin eine – angesichts der durch das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26.01.19982 eingeführten Versuchsstrafbarkeit der Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 2 StGB) – nicht (mehr) gerechtfertigte Vorverlegung des Vollendungszeitpunkts. Von § 239 StGB sei nur die aktuelle Fortbewegungsfreiheit geschützt. Seiner Freiheit wäre danach nur derjenige beraubt, der sich zu einem von ihm bestimmten Zeitpunkt wegbewegen will, aber nicht kann. Es handle sich bei dem Straftatbestand des § 239 StGB letztlich um einen Spezialfall der Nötigung3.

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Der Bundesgerichtshof sieht keinen Anlass, von der bisherigen Auslegung des Tatbestands der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) durch den Bundesgerichtshof abzuweichen.

Für die hierfür maßgebliche Bestimmung des geschützten Rechtsguts spricht der Wortlaut der Norm. Seiner (Bewegungs)Freiheit ist objektiv betrachtet derjenige beraubt, der sich aufgrund des Verhaltens eines Dritten nicht wegbewegen kann, wenn er dies wollte. Eine als Zwang empfundene Willensbeugung wohnt dem Begriff der Freiheitsberaubung in objektiver Hinsicht nicht inne. Anders als die Nötigung im Sinne des § 240 StGB setzt der äußere Tatbestand des § 239 StGB nicht voraus, dass einem anderen ein von diesem nicht gewolltes Verhalten aufgezwungen wird. Opfer einer Freiheitsberaubung kann danach nicht nur derjenige sein, der gegen seinen aktuellen Willen zu einem Verbleiben an einem Ort bestimmt wird4.

Mit dem hohen Gut der persönlichen Bewegungsfreiheit5, das durch die Einführung der Versuchsstrafbarkeit noch an Gewicht gewonnen hat6, wäre es nicht in Einklang zu bringen, die Freiheitsberaubung als einen bloßen Spezialfall der milder sanktionierten Nötigung zu behandeln. Sie ist vielmehr ein eigenständiges Delikt mit eigenen Voraussetzungen, das den Einzelnen umfassend vor der Entziehung seiner Fortbewegungsfreiheit schützen soll7. Dies wird durch systematische Erwägungen gestützt. Die Straftat der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) wiegt nach dem in den jeweiligen Strafrahmen zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers schwerer als die Nötigung (§ 240 StGB) und steht im Strafgesetzbuch vor ihr. Mit der Einordnung als bloßer Spezialfall des § 240 StGB ließe sich dies kaum vereinbaren.

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Die Einführung der Strafbarkeit des Versuchs der Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 2 StGB) gibt keinen Anlass für eine andere Auslegung. Zum einen zeigt die vorliegende Konstellation, dass der umfassende strafrechtliche Schutz vor der Entziehung der Bewegungsfreiheit dadurch nicht gewährleistet wäre. Erschleicht der Täter das Einverständnis des Betroffenen mit der Freiheitsentziehung wie hier durch List und Täuschung, fehlte es – bei einer Beschränkung des Schutzgutes auf die aktuelle Bewegungsfreiheit – am Tatentschluss (§ 22 StGB) hinsichtlich des Merkmals der Freiheitsberaubung. Denn nach der Vorstellung des Täters will sich der Betroffene aufgrund der Täuschung aktuell nicht wegbewegen. Zum anderen verbleibt für den Versuch der Freiheitsberaubung auch dann ein Anwendungsbereich, wenn man das geschützte Rechtsgut in der potentiellen Bewegungsfreiheit sieht. Lockt der Täter den Betroffenen in ein Zimmer, um ihn darin einzuschließen, macht er sich wegen eines (fehlgeschlagenen) Versuchs der Freiheitsentziehung strafbar, wenn ihm das Einschließen etwa mangels passenden Schlüssels oder wegen Gegenwehr des Geschädigten nicht gelingt. Zudem bleiben Fälle einer Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs denkbar.

Nach alledem ist der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und den ihm folgenden Teilen der Literatur der Vorzug zu geben, wonach § 239 StGB den Schutz der potentiellen persönlichen Bewegungsfreiheit bezweckt. Das bedeutet, dass der Tatbestand lediglich ein Handeln gegen den potentiellen Fortbewegungswillen voraussetzt.

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Daraus folgt, dass ein im natürlichen Sinn zur Änderung seines Aufenthaltsorts fähiger Mensch8 nur dann nicht seiner Freiheit im Sinne des § 239 StGB beraubt wird, wenn er (auch) damit einverstanden ist, dass er sich selbst dann nicht fortbewegen könnte, wenn er das wollte. Ist ihm dies hingegen – etwa wie hier aufgrund von List und Täuschung des seine Bewegungsfreiheit aufhebenden Täters – nicht bewusst, ist es ohne Belang, dass er sich aktuell gar nicht fortbewegen will. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Ob ein Einverständnis tatbestandsausschließend ist, muss in Bezug auf das jeweils geschützte Rechtsgut des inmitten stehenden Straftatbestands beurteilt werden. Setzt der Tatbestand ein Handeln gegen den Willen des Berechtigten voraus (z.B. § 123 StGB), schließt dessen durch Täuschung erschlichenes Einverständnis den Tatbestand aus, da dann ein Handeln gegeben ist, das – wenn auch durch List herbeigeführt – dem Willen des Berechtigten entspricht9. Bezugspunkt für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis in eine Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 StGB ist der potentielle Fortbewegungswille. Nötig ist mithin, dass sich der Betroffene der Freiheitsentziehung und der Freiheitsentziehende über das Ausmaß und die Dauer der Freiheitsentziehung einig sind10. Ahnt der Betroffene hingegen nicht, dass er sich selbst dann nicht fortbewegen könnte, wenn er dies wollte, ist der Tatbestand des § 239 StGB mit Blick auf das geschützte Rechtsgut der potentiellen Bewegungsfreiheit erfüllt. Ein durch List oder Täuschung erschlichenes Einverständnis des Betroffenen in eine ihm nicht bewusste Freiheitsentziehung stellt sich somit lediglich als ein Mittel zur leichteren Begehung der Freiheitsberaubung durch Verhinderung des zu erwartenden Widerstands des Betroffenen dar, das nicht zu einem Ausschluss des objektiven Tatbestands des § 239 Abs. 1 StGB führen kann11.

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Im Hinblick auf die von § 239 StGB geschützte potentielle Bewegungsfreiheit ist es ohne Belang, dass die Geschädigte sich während der Reise nicht von den Angeklagten wegbewegen wollte. Angesichts ihrer Fluchtbemühungen nach der Kenntniserlangung des wahren Reisezwecks und ziels ist das Landgericht indes rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass die Geschädigte ohne die List und Täuschung der Angeklagten den Willen gehabt hätte, sich ihrer Verbringung (unter objektiv freiheitsberaubenden Umständen) nach Georgien zu entziehen.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 8. Juni 2022 – 5 StR 406/21

  1. vgl. BGH, Urteile vom 31.05.1960 – 1 StR 212/60, BGHSt 14, 314, 316; vom 06.12.1983 – 1 StR 651/83, BGHSt 32, 183, 188; LK/Schluckebier, StGB, 12. Aufl., § 239 Rn. 5; MünchKomm-StGB/Wieck-Noodt, 4. Aufl., § 239 Rn. 3; siehe auch Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 239 Rn. 1 ff.; Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl., § 239 Rn. 1[]
  2. BGBl. I S. 164[]
  3. vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 239 Rn. 4 f.; siehe auch SK-StGB/Wolters, 8. Aufl., § 239 Rn. 3; NK-StGB/Sonnen, 5. Aufl., § 239 Rn. 8 f.; AnwK-StGB/Zimmermann, 3. Aufl., § 239 Rn. 3; Matt/Renzikowski/Eidam, StGB, 2. Aufl., § 239 Rn. 2; BeckOK StGB/Valerius, 53. Ed., § 239 Rn. 7[]
  4. vgl. insofern zur Nötigung BVerfG, Beschluss vom 01.07.2004 – 2 BvR 568/04, NStZ 2005, 30[]
  5. vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Di Fabio, GG, 95. EL, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Rn. 3 ff.[]
  6. vgl. LK/Schluckebier, StGB, 12. Aufl., § 239 Rn. 10[]
  7. vgl. BGH, Urteile vom 25.02.1993 – 1 StR 652/92, BGHR StGB § 239 Abs. 1 Freiheitsberaubung 2; vom 31.05.1960 – 1 StR 212/60, BGHSt 14, 314, 316; siehe aber auch BGH, Urteil vom 15.10.1981 – 4 StR 461/81, BGHSt 30, 235, 236[]
  8. vgl. hierzu BGH, Urteil vom 06.12.1983 – 1 StR 651/83, BGHSt 32, 183, 188 f.; SK-StGB/Wolters, 8. Aufl., § 239 Rn. 3[]
  9. vgl. BGH, Urteil vom 06.02.1997 – 1 StR 527/96, NJW 1997, 1516, 1517; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Schittenhelm, StGB, 30. Aufl., § 123 Rn. 22; siehe auch SSW-StGB/Rosenau, 5. Aufl., Vor 32 ff. Rn. 43[]
  10. vgl. für einen solchen Fall BGH, Urteil vom 25.02.1993 – 1 StR 652/92, BGHR StGB § 239 Abs. 1 Freiheitsberaubung 2; siehe auch SK-StGB/Wolters, aaO Rn. 9[]
  11. ebenso LK/Schluckebier, aaO Rn. 31; AnwK-StGB/Zimmermann, aaO Rn. 4; MünchKomm-StGB/Wieck-Noodt, aaO Rn. 36; Lackner/Kühl, aaO Rn. 5; aA Matt/Renzikowski/Eidam, aaO Rn. 14; vgl. auch Fischer, aaO Rn. 12: wirksame Einwilligung; BeckOK StGB/Valerius, aaO Rn. 5: wirksames Einverständnis; Schönke/Schröder/Eisele, aaO Rn. 3[]
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