Entziehung Minderjähriger liegt auch dann vor, wenn ein sorgeberechtigter Elternteil zwangsweise für eine gewisse Dauer von seinem unter achtzehnjährigen Kind entfernt wird. Entziehung Minderjähriger und Nötigung können in Tateinheit stehen.

In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall eröffnete der Ehemann seiner Ehefrau, dass er sie in die Türkei abschieben werde, die beiden Kinder aber bei sich behalten wolle. Als seine Frau erklärte, sie werde das nicht tun, drohte der Ehemann ihr mit dem Tode, wenn sie nicht in die Türkei ginge. Die Ehefrau nahm die Drohung ernst und ließ sich vom Ehemann gegen ihren Willen dazu zwingen, ein Flugzeug in die Türkei zu besteigen und ihre Kinder in Deutschland zu lassen. Erst ein knappes Jahr später kehrte sie mit Hilfe Dritter nach Deutschland zurück.
Die Staatsanwaltschaft hat das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht (§ 235 Abs. 7 StGB), der Bundesgerichtshof bejahte eine Strafbarkeit wegen Entziehung Minderjähriger (§ 235 StGB): Der Ehemann hat eine Person (hier sogar zwei) unter achtzehn Jahren durch Drohung mit einem empfindlichen Übel einem Elternteil entzogen (§ 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB).
Den Eltern "entzogen" ist der Minderjährige schon dann, wenn das Recht zur Erziehung, Beaufsichtigung und Aufenthaltsbestimmung durch räumliche Trennung für eine gewisse, nicht nur ganz vorübergehende Dauer so beeinträchtigt wird, dass es nicht ausgeübt werden kann 1.
Eine Entziehung im Sinne dieser Vorschrift liegt nicht nur vor, wenn der Minderjährige unter den Voraussetzungen des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB vom Elternteil entfernt wird, sondern auch, wenn der Elternteil unter diesen Voraussetzungen vom Minderjährigen entfernt und ferngehalten wird 2. Denn das von § 235 StGB vorrangig geschützte Rechtsgut des Sorgerechts der für den jungen Menschen verantwortlichen Personen und das daraus abgeleitete Obhuts- und Aufenthaltsbestimmungsrecht 3 sind auch verletzt, wenn ein Elternteil selbst räumlich entfernt wird und seine Rechte deshalb nicht wahrnehmen kann.
Dass der Entziehende selbst ebenfalls sorgeberechtigt war, steht der Anwendung des § 235 StGB nicht entgegen. Grundsätzlich kann eine Kindesentziehung auch von einem Elternteil gegenüber dem anderen begangen werden, sofern jedem Elternteil das Personensorgerecht zumindest teilweise zusteht 4. Die räumliche Trennung war im vorliegenden Fall auch nicht von nur ganz vorübergehender Dauer.
Auch die Verurteilung wegen Nötigung (§ 240 StGB) weist für den Bundesgerichtshof keinen Rechtsfehler auf. Der Angeklagte hat durch Todesdrohung erzwungen, dass seine Ehefrau in die Türkei flog und längere Zeit nicht zurückkehrte.
Die Annahme von Tatmehrheit durch den Tatrichter zwischen Entziehung Minderjähriger und Nötigung begegnet jedoch rechtlichen Bedenken. Die Nötigung gemäß § 240 StGB ist die Drohung mit einem empfindlichen Übel im Rahmen des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Es liegt Handlungseinheit im Sinne von § 52 Abs. 1 StGB vor, da eine Teilidentität der Ausführungshandlungen gegeben ist; denn sie werden durch eine einzige (fortwirkende) Nötigungshandlung begangen. Auch wenn die Todesdrohung einige Tage vor dem Abflug ausgesprochen worden war, wirkte sie dahingehend fort, dass die Geschädigte das Flugzeug bestieg und längere Zeit in der Türkei verblieb.
Im vorliegenden Fall tritt die Nötigung auch nicht hinter der Entziehung Minderjähriger zurück, sondern steht in Tateinheit. Erschöpft sich der Nötigungserfolg in der Kindesentziehung, so tritt allerdings nach verbreiteter Meinung § 240 StGB hinter § 235 StGB zurück 5.
Hier geht der Nötigungserfolg aber über die Kindesentziehung hinaus, da der Angeklagte insbesondere auch das Ziel verfolgte, sich seiner Ehefrau durch deren zwangsweise Entfernung "gänzlich zu entledigen". Er wollte also insoweit nicht nur eine räumliche Trennung von gewisser Dauer, die bei § 235 StGB unter Umständen einige Stunden betragen kann 6. Jedenfalls wenn der angestrebte Nötigungserfolg über die Tatbestandserfüllung der Kindesentziehung hinausreicht, ist von Tateinheit auszugehen 7.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17. September 2014 – 1 StR 387/14
- vgl. BGH, Urteil vom 07.03.1996 – 4 StR 35/96, NStZ 1996, 333, 334 mwN[↩]
- vgl. hierzu auch Eser/Eisele in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 235 Rn. 6; MünchKomm-StGB/Wieck-Noodt, 2. Aufl., § 235 Rn. 38; SK-StGB/Wolters, 8. Aufl., § 235 Rn. 4; LK-StGB/Gribbohm, 11. Aufl., § 235 Rn. 49 ff.[↩]
- vgl. hierzu BGH, Urteil vom 11.02.1999 – 4 StR 594/98, BGHSt 44, 355, 357[↩]
- vgl. u.a. BGH, Urteil vom 11.02.1999 – 4 StR 594/98, BGHSt 44, 355, 358[↩]
- vgl. u.a. LK-StGB/Gribbohm, § 235 Rn. 135; MünchKomm-StGB/Wieck-Noodt, § 235 Rn. 105; SSW-StGB/Schluckebier, 2. Aufl., § 235 Rn. 18; SK-StGB/Wolters, § 235 Rn. 21; grds. für Gesetzeskonkurrenz Lackner/Kühl, StGB, 8. Aufl., § 235 Rn. 10[↩]
- vgl. u.a. BGHSt 10, 376 ff.[↩]
- vgl. MünchKomm-StGB/Wieck-Noodt, aaO; SSW-StGB/Schluckebier, aaO; SK-StGB/Wolters, aaO; LK-StGB/Gribbohm, aaO; für grundsätzliche Tateinheit Fischer, StGB, 61. Aufl., § 235 Rn. 22; Eser/Eisele, aaO, § 235 Rn. 26[↩]