Eröffnet das Beschwerdegericht das Hauptverfahren nicht vor dem Gericht, das die Eröffnung abgelehnt hatte, sondern nach § 210 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 StPO vor einem benachbarten Gericht, so hat dieses auf den vom Angeklagten rechtzeitig erhobenen Einwand gemäß § 16 Satz 2, 3 StPO gleichwohl seine örtliche Zuständigkeit zu prüfen.

Auf Grund der Beschwerdeentscheidung geht dem Angeklagten der Unzuständigkeitseinwand nicht verloren1.
Da die Zuständigkeit des benachbarten Gerichts – regelmäßig – nur durch die nach § 210 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 StPO getroffene Wahl begründet sein kann, hat sich die Prüfung auf dessen Anwendung zu beziehen, ohne dass das Gericht an die Zuständigkeitsbestimmung des Beschwerdegerichts gebunden wäre.
Eine über die Eröffnung des Hauptverfahrens hinausgehende Bindungswirkung hat dessen Eröffnungsbeschluss nicht2.
Bei der Eröffnung des Hauptverfahrens vor einem benachbarten Gericht gemäß § 210 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 StPO handelt es sich allerdings um eine Ermessenentscheidung des Beschwerdegerichts. Die Prüfung des Gerichts, dessen Zuständigkeit bestimmt worden ist, erstreckt sich – neben der Frage, ob es zu den benachbarten Gerichten im Sinne des § 210 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 StPO gehört – allein auf Ermessensfehler. Dabei ist von folgenden Maßstäben auszugehen:
Die Vorschrift des § 210 Abs. 3 StPO ist im Hinblick auf das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) dahin verfassungskonform auszulegen, dass das Beschwerdegericht das Strafverfahren in der Regel bei dem zuvor mit der Sache befassten Spruchkörper belassen muss, außer wenn besondere Gründe dafür vorliegen, dass die Hauptverhandlung vor einem anderen Gericht stattzufinden hat3. In der Beschwerdeentscheidung sind diese Gründe grundsätzlich – wenn sie nicht offensichtlich sind – darzulegen4. Als ein solcher Grund kommt namentlich die Sicherstellung einer unvoreingenommenen Verhandlung in Betracht; so hat etwa das Bundesverfassungsgericht eine in diesem Sinne sachgerechte Erwägung darin gesehen, dass das Beschwerdegericht „offensichtlich die Besorgnis (hatte), die bisher mit der Sache befaßten Richter würden die Gründe, die zur Aufhebung ihrer Entscheidung … geführt haben, innerlich nicht voll akzeptieren“5. Aber auch andere Gesichtspunkte können im Einzelfall ausschlaggebend sein, beispielsweise die Vermeidung gravierender Verfahrensnachteile für den Angeklagten6. Die besonderen Gründe sind indes nicht abschließend festgelegt. Es steht im Ermessen des Beschwerdegerichts, welche Gründe es heranzieht und wie es sie bewertet und gewichtet. Seine Entscheidung ist bis zur Grenze objektiver Willkür hinzunehmen7.
Gemessen hieran ließ im vorliegenden Fall die Entscheidung des Oberlandesgerichts, das Hauptverfahrens vor dem Landgericht Lüneburg zu eröffnen, keinen Ermessensfehler erkennen; insbesondere beruht sie nicht auf objektiver Willkür.
Das Oberlandesgericht – und ihm folgend das Landgericht – haben einen besonderen Grund für die Zuständigkeitsbestimmung vor dem Hintergrund der langjährigen Tätigkeit des Angeklagten als Staatsanwalt im Landgerichtsbezirk Verden in der Sicherstellung einer unvoreingenommenen Verhandlung gesehen. Der Angeklagte hatte in den Jahren 2005 bis 2011 seinen Dienst als Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Verden ausgeübt, zuletzt in herausgehobener Position. Er war erst weniger als zwei Jahre vor der Eröffnung des Hauptverfahrens8 in den vorläufigen Ruhestand versetzt worden. Beide in der zugelassenen Anklage erhobenen Tatvorwürfe betrafen ein Fehlverhalten im Zusammenhang mit seiner dienstlichen Tätigkeit. Als zu besorgende Beeinträchtigung einer unvoreingenommenen Verhandlung hat das Oberlandesgericht „in erheblichem Umfang“ bestehende „persönliche Bekanntschaften mit Richtern und Staatsanwälten“ genannt. Dies hat das Landgericht dahin erläutert, dass „allein aufgrund der beruflichen Zusammenarbeit mit den Strafrechtspraktikern eines Bezirks vom Normalmaß abweichende Bekanntheit anzunehmen ist“.
Die Begründung der Zuständigkeitsbestimmung erweist sich als ausreichend tatsachenbasiert. Sie beruht auf einem Erfahrungssatz zu regelmäßig im beruflichen Umfeld entstehenden persönlichen Kontakten. Zu Erhebungen im Freibeweis, etwa durch Befragung aller Richter am Landgericht Verden zu ihrem Verhältnis zur Person des Angeklagten, war weder das Oberlandesgericht noch das Landgericht verpflichtet. Soweit der Angeklagte mutmaßt, dass mit Bekanntschaften entweder „trans- oder heterosexuelle Beziehungen … oder andersartige Freundschaften gemeint“ seien, und im Folgenden auf bestimmte, namentlich individualisierte Richterinnen und Staatsanwältinnen eingeht, um die eigenen Mutmaßungen sogleich als „ehrenrührig“ zu tadeln, scheint dem ein zu enges Verständnis von (persönlichen) Bekanntschaften zugrunde zu liegen.
Die Begründung der Zuständigkeitsbestimmung ist auch frei von sachfremden Erwägungen. Anders als der Angeklagte meint, ist die Wahl eines benachbarten Gerichts unter dem Gesichtspunkt der Sicherstellung eines unvoreingenommenen Verfahrens nicht erst dann zulässig, wenn für sämtliche Richter des ursprünglich mit der Sache befassten Gerichts die Anforderungen erfüllt sind, die das Gesetz an eine Ablehnung stellt (§ 24 Abs. 1 StPO). Vielmehr sind die Kriterien für eine willkürfreie Ermessensausübung, wie auch die – oben zitierten – Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zeigen, weit weniger streng. Das Oberlandesgericht hat insoweit bestehende Bekanntschaften des Angeklagten heranziehen dürfen.
Das gilt umso mehr, als das Oberlandesgericht dem Umstand, wie das Vorgehen der Justiz durch die Öffentlichkeit wahrgenommen wird, Bedeutung hat beimessen dürfen. Ebenso hat berücksichtigt werden dürfen, dass das Landgericht Verden die Nichteröffnung des Hauptverfahrens damit begründet hatte, dass der Angeklagte „höchstwahrscheinlich freizusprechen“ sei, und sich mithin nicht damit begnügt hatte, den hinreichenden Tatverdacht zu verneinen9. Diese Umstände sind evident.
An die Darstellung der die Zuständigkeitsbestimmung tragenden Begründung nach § 210 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 StPO sind keine überspannten Anforderungen zu stellen; es reicht aus, wenn – wie hier – ein besonderer Grund für eine vom Regelfall abweichende Gerichtswahl benannt ist. Dahinstehen kann daher, inwieweit das Gericht, vor dem das Hauptverfahren eröffnet worden ist, auf den Unzuständigkeitseinwand hin die Begründung der Zuständigkeitsbestimmung „nachbessern“ kann. Jedenfalls ist es ihm nicht verwehrt, die vom Beschwerdegericht angeführten Gründe zu konkretisieren und offensichtliche Gründe zu benennen.
Die Entscheidung, vor welchem der benachbarten Gerichte das Verfahren eröffnet wird, bedarf in aller Regel keiner Begründung. Zudem liegt hier die Wahl des Landgerichts Lüneburg auf der Hand, weil die Staatsanwaltschaft Lüneburg mit den Ermittlungen betraut worden war, die Anklage erhoben und die Sitzungsvertretung wahrzunehmen hatte.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24. Januar 2017 – 3 StR 335/16
- vgl. LR/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 210 Rn. 36[↩]
- so Marcelli, NStZ 1986, 59, 61; LR/Stuckenberg aaO; vgl. auch BGH, Urteil vom 25.08.1975 – 2 StR 309/75, BGHSt 26, 191, 192 f. [bezüglich der Bestimmung des Schwurgerichts statt der zuständigen Jugendkammer]; aA Meyer-Goßner, JR 1979, 384, 385 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 210 Rn. 10; Radtke/Hohmann/Reinhart, StPO, § 210 Rn. 8[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 13.06.1993 – 2 BvR 848/93 4 f.; vom 30.06.1999 – 2 BvR 1067/99, StV 2000, 537; vom 15.09.2005 – 2 BvR 1229/05 2[↩]
- vgl. Radtke/Hohmann/Reinhart aaO; KK-Schneider, StPO, 7. Aufl., § 210 Rn. 12 mwN[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 13.06.1993 – 2 BvR 848/93, aaO, Rn. 4; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 15.09.2005 – 2 BvR 1229/05, aaO, Rn. 4 [„Frage einer nicht auszuschließenden Voreingenommenheit des Ausgangsgerichts“][↩]
- so BVerfG, Beschluss vom 15.09.2005 – 2 BvR 1229/05, aaO, Rn. 4 f.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.06.1999 – 2 BvR 1067/99, aaO[↩]
- zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts s. BGH, Beschlüsse vom 31.03.2011 – 3 StR 400/10, StraFo 2011, 271, 273; vom 31.03.2011 – 3 StR 460/10, BGHR StGB § 9 Erfolg 3[↩]
- zur Bedeutung der Begründung der Ablehnungsentscheidung für die Zuständigkeitsbestimmung s. BVerfG, Beschluss vom 30.06.1999 – 2 BvR 1067/99, aaO[↩]