Europäischer Haftbefehl, Entlassung aus der Untersuchungshaft – und der Spezialitätsgrundsatz

Nach § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG dürfen Personen, die von einem Mitgliedsstaat auf Grund eines Europäischen Haftbefehls übergeben worden sind, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Tat weder verfolgt noch verurteilt oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden. Nach § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG findet der Spezialitätsgrundsatz keine Anwendung, wenn die übergebene Person das Bundesgebiet innerhalb von 45 Tagen nach ihrer endgültigen Freilassung nicht verlassen hat, obwohl sie dazu die Möglichkeit hatte, oder nach Verlassen zurückgekehrt ist.

Europäischer Haftbefehl, Entlassung aus der Untersuchungshaft – und der Spezialitätsgrundsatz

Spätestens nach Aufhebung des neuen Haftbefehls und der Entlassung aus der Untersuchungshaft am 26.02.2013 war der Angeklagte endgültig freigelassen. Ab diesem Zeitpunkt bestanden jedenfalls keine seine Bewegungsfreiheit beschränkenden Maßnahmen mehr.

Vorliegend nahm der Angeklagte ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls an den Terminen der Hauptverhandlung wegen des Vorwurfs des Raubes teil. Demnach verblieb er nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft am 26.02.2013 entweder mehr als 45 Tage im Bundesgebiet oder er kehrte im Falle einer Ausreise vor der neuen Hauptverhandlung wieder in das Bundesgebiet zurück. Beide Alternativen erfüllen die Voraussetzungen des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG; eine dritte Variante kommt nicht in Frage. Die möglichen auslieferungsrechtlichen Konsequenzen eines längeren Aufenthalts im Bundesgebiet oder einer Aus- und Wiedereinreise wurden im Verfahren vor dem Landgericht Koblenz, auch auf Antrag der Verteidigung, umfassend thematisiert und waren daher dem Angeklagten bekannt.

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Dem Wegfall der Bindung aufgrund des Spezialitätsgrundsatzes steht nicht entgegen, dass der Angeklagte bei seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft mit der Durchführung einer neuen Hauptverhandlung im vom Spezialitätsgrundsatz erfassten Verfahren wegen Raubes rechnen musste.

Der Bundesgerichtshof hat bereits entschieden, dass nach einem tatrichterlichen Urteil und Einlegung der Revision allein die Tatsache, dass der Angeklagte für den Fall der Rechtskraft des Urteils mit einer Strafverbüßung rechnen muss, keine die Bewegungsfreiheit einschränkende Maßnahme darstellt1. Im Ergebnis dasselbe muss nach Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils im Revisionsverfahren und Zurückverweisung der Sache an das Tatgericht mit offenem Verfahrensausgang gelten. Insbesondere würde der Angeklagte durch eine etwaige Ausreise bis zum Beginn einer neuen Hauptverhandlung weder seine Anwesenheitspflicht noch eine andere rechtliche Pflicht verletzen.

Der Angeklagte konnte sich in dieser Situation auch frei entscheiden, ob er bis zu Beginn der neuen Hauptverhandlung ausreisen oder länger als 45 Tage in Deutschland bleiben wollte. Denn anders als während der laufenden Hauptverhandlung im hiesigen Verfahren, wo eine Wiedereinreise nach § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG zum Verlust des ihm zustehenden Spezialitätsschutzes geführt hätte, konnte eine Wiedereinreise in dem von der Spezialitätsbindung von Anfang an erfassten Verfahren wegen Raubes zu keinen weitergehenden nachteiligen Konsequenzen führen, als sie dem Angeklagten ohnehin schon drohten. Insoweit unterschied sich seine Lage nicht von derjenigen, die bestanden hätte, wenn er zuvor gar nicht ausgeliefert worden wäre. Auch in diesem Fall hätte er nicht nach Deutschland zurückkehren können, ohne sich der Strafverfolgung im Inland auszusetzen. Dies aber wäre allein die Folge der Tat, nicht der Auslieferung2.

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Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union ist nicht veranlasst.

Zwar führt die Nichtbeachtung des Spezialitätsgrundsatzes nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union grundsätzlich nur zu einem Verbot freiheitsentziehender Maßnahmen und nicht zu einem Verfahrenshindernis3. Daran könnte aber zu zweifeln sein, wenn – wie hier – Untersuchungshaft entgegen diesem Verbot vollzogen wurde. Bei Annahme eines bloßen Vollstreckungshindernisses würde dieser Verstoß gegen den Spezialitätsgrundsatz nicht nur folgenlos bleiben, sondern durch die spätere Anrechnung der Untersuchungshaft (§ 51 Abs. 1 Satz 1 StGB) sogar noch vertieft werden4. Angesichts des dargelegten Wegfalls der Spezialitätsbindung braucht der Bundesgerichtshof dieser Frage indes nicht weiter nachzugehen.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 10. Dezember 2014 – 2 StR 170/13

  1. vgl. BGH, Beschluss vom 09.02.2012 – 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138, 144 zu Art. 14 EuAlÜbk[]
  2. vgl. BGH, Beschluss vom 09.02.2012 – 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138, 144[]
  3. vgl. EuGH, Urteil vom 01.12 2008 – C388/08, NStZ 2010, 35, 39 mit Anm. Heine; BGH, Beschlüsse vom 25.06.2014 – 1 StR 218/14; vom 25.09.2012 – 1 StR 442/12; vom 09.02.2012 – 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138, 142; und vom 27.07.2011 – 4 StR 303/11, NStZ 2012, 100 f.[]
  4. vgl. auch BGH, Beschluss vom 27.07.2011 – 4 StR 303/11, NStZ 2012, 100[]