Europäischer Haftbefehl – und die örtliche Zuständigkeit im Auslieferungsverfahren

Die örtliche Zuständigkeit des zur Entscheidung über ein Auslieferungsverfahren zum Zwecke der Strafverfolgung berufenen Oberlandesgerichts besteht auch dann fort, wenn dieses wegen unzureichender Haftbedingungen die Auslieferung für unzulässig erklärt und der ersuchende Staat nachfolgend – bei Fortbestehen des dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegenden Europäischen Haftbefehls – neue Zusicherungen in Bezug auf die von dem Verfolgten zu erwartenden Haftbedingungen erteilt hat.

Europäischer Haftbefehl – und die örtliche Zuständigkeit im Auslieferungsverfahren

Dies folgt für den Bundesgerichtshof aus der die gerichtliche Zuständigkeit abschließend regelnden Vorschrift des § 14 Abs. 1 IRG. Danach sind das Oberlandesgericht und die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht örtlich zuständig, in deren Bezirk der Verfolgte zum Zweck der Auslieferung ergriffen oder, falls eine Ergreifung nicht erfolgt, zuerst ermittelt wird.

Im vorliegenden Fall erfolgte die Ergreifung des Verfolgten, der auf Grundlage des Europäischen Haftbefehls vom 13.01.2017 im Schengener Informationssystem (SIS) ausgeschrieben war und ist, am 11.03.2017 im Bezirk des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main und begründete damit dessen örtliche Zuständigkeit gemäß § 14 Abs. 1 Alt. 1 IRG. Diese besteht ungeachtet der Dauer des Auslieferungsverfahrens fort. Sie ist weder durch den späteren Aufenthalt des Verfolgten im Bezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe noch durch die Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 02.03.2018 entfallen, mit der die Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung wegen der in dem Europäischen Haftbefehl des Gerichts in Timis vom 13.01.2017 für (zumindest derzeit) unzulässig erklärt worden ist. Ebenso wenig führten die anschließende Versagung der Bewilligung der Auslieferung durch die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main, die Übernahmeerklärung der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe oder die Art der Aktenbehandlung in Form der Weglage zum Wegfall der einmal begründeten Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main.

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Der aktuelle Aufenthalt des Verfolgten im Bezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe vermag dessen Zuständigkeit nicht zu begründen. Aus dem in § 14 IRG zum Ausdruck kommenden Prioritätsprinzip1, das insbesondere in der Verwendung des Wortes „zuerst“ in § 14 Abs. 1 IRG seinen Niederschlag gefunden hat2, folgt nicht nur, dass die örtliche Zuständigkeit durch das erstmalige Befasstsein mit der Sache begründet wird, sondern auch, dass die zeitlich zuerst begründete Zuständigkeit des Oberlandesgerichts und der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht für das gesamte Auslieferungsverfahren fortdauert.

Eine danach zeitlich zuerst begründete örtliche gerichtliche Zuständigkeit bleibt somit auch dann erhalten, wenn später Umstände eintreten, die eine andere gerichtliche Zuständigkeit zu begründen geeignet sind3.

Gibt es mithin in einem Auslieferungsverfahren nur einen für die Begründung der Zuständigkeit fortgeltenden Ergreifungsort bzw. nur einen Ermittlungsort, ist – wie vorliegend – ein späterer Wechsel des Aufenthaltsorts des Verfolgten unbeachtlich. Gleichermaßen bedeutungslos ist der Umstand, dass die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe das Verfahren zunächst einvernehmlich übernommen hat, denn bei § 14 IRG handelt es sich um eine abschließende Spezialregelung4, die keinen Raum für Zweckmäßigkeitserwägungen lässt und insbesondere auch keine Zuständigkeitsänderung durch Vereinbarung – wie etwa § 13 Abs. 2 StPO – gestattet5.

Auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22.03.2018, mit der die Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Landgerichts in Tmis vom 13.01.2017 für (zumindest derzeit) unzulässig erklärt worden ist, findet dadurch, dass der Verfolgte seinen Wohnsitz in den Bezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe verlegt hat, kein Gerichtsstandswechsel statt. Denn das Auslieferungsverfahren hat durch diese Entscheidung keine Erledigung gefunden. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22.03.2018 hat vorläufigen Charakter6.

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Die Auslieferung ist nicht wegen eines endgültigen Auslieferungshindernisses wie etwa nach § 9 Nr. 2 IRG i.V.m. § 82 IRG wegen Eintritts der Verfolgungsverjährung nach deutschem Recht7 oder gemäß Art. 54 SDÜ aufgrund des Verbots der Doppelbestrafung8 oder einem anderen nicht behebbaren Hindernis für unzulässig erklärt worden. Vielmehr stützt sich die Entscheidung auf im Raum stehende Anhaltspunkte für unzureichende Haftbedingungen in Rumänien. Dieser auf die Rechtsprechung des EGMR zurückgehende Ablehnungsgrund9 ist vorläufiger Natur. Er stellt ein nach § 73 Satz 2 IRG i.V.m. Art. 3 EMRK und Art. 4 EUGrRCh zu berücksichtigendes Auslieferungshindernis dar, welches das fundamentale Prinzip der gegenseitigen Anerkennung duchbricht, wonach für die Migliedsstaaten grundsätzlich die Pflicht zur Auslieferung bei Vorliegen eines Europäischen Haftbefehls besteht10. Lediglich in Fällen der §§ 80, 81, 83 und 83b IRG sowie „ausnahmsweise“11 nach § 73 Satz 2 IRG, wenn die Überstellung den in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätzen – also insbesondere der EU-GrRCh und der EMRK – widerspräche, darf ein Ersuchen abgelehnt werden12. Diesem Hindernis kann und soll – mit Blick auf die von dem Rahmenbeschluss 2022/584/JI über den Europäischen Haftbefehl (RbEuHB 2009) verfolgte Zielsetzung der Erleichterung der verbesserten justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (vgl. Art. 1 Abs. 1 RbEuHB 2009) – durch entsprechende Maßnahmen gesetzlicher, organisatorischer oder baulicher Art begegnet werden13, weshalb eine endgültige Ablehnung der Auslieferung in derartigen Fällen grundsätzlich nicht in Betracht kommt.

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Vielmehr ist dann, wenn die Erklärungen des Ausstellerstaates eines Europäischen Haftbefehls zur Einhaltung menschenrechtlicher Standards nach einer Übergabe nicht ausreichen, eine Zwischenentscheidung zweckmäßig und sachgerecht. Dies gilt sowohl mit Blick auf den Zweck des gerichtlichen Verfahrens über die Zulässigkeit der Auslieferung der auf die Feststellung der Erfüllung aller gesetzlichen oder vertraglichen Voraussetzungen für die Auslieferung gerichtet ist14, als auch wegen der dem ersuchenden (Mitglieds)Staat einzuräumenden Möglichkeit, seinen Justizvollzug an die maßgebliche Rechtsprechung des EGMR und EuGH anzupassen15.

Die Formulierung „zumindest derzeit unzulässig“ in den Gründen des Beschlusses des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22.03.2018 bringt die Beschränkung der Entscheidung in zeitlicher Hinsicht und damit den vorläufigen Charakter zum Ausdruck. Auch aus den Gründen der Entscheidung ergibt sich zweifelsfrei, dass die Erklärung der Unzulässigkeit auf die aktuell unzureichenden Haftbedingungen, die der Verfolgte im Falle der Überstellung in Rumänien zu erwarten hatte, gestützt war. So hat auch das Landgericht Timis, davon ausgehend, dass im Falle der Abgabe der gewünschten Erklärungen keine weiteren der Zulässigkeit entgegenstehenden Gründe bestehen, die neuen Zusicherungen in Bezug auf die von dem Verfolgten zu erwartenden Haftbedingungen im Schreiben vom 15.12.2021 auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls vom 13.01.2017 mit der Bitte um erneute Überprüfung der „Möglichkeit der Auslieferung“ übermittelt.

In Fällen, in denen – wie hier – der Europäische Haftbefehl, der bereits Gegenstand vorangegangener Entscheidung(en) war, unverändert fortbesteht und die Auslieferung nicht von vornherein unzulässig ist, steht einem Zuständigkeitswechsel der Regelungszweck des § 14 IRG entgegen. Die Vorschrift dient nicht nur der Vereinfachung und Beschleunigung, sondern sie soll überdies die Kontinuität und Einheit des Auslieferungsverfahrens sichern, wozu eine einheitliche gerichtliche Bewertung im Kernbereich des Tatvorwurfs gehört16. Die auf die beschleunigte Bearbeitung von Auslieferungssachen und die Sicherung einer einheitlichen Behandlung gerichtete Intention des Gesetzgebers17 kommt auch in § 14 Abs. 2 IRG zum Ausdruck. Dieser bestimmt, dass sich die Zuständigkeit für das Auslieferungsverfahren bei mehreren wegen derselben Tat Verfolgten danach richtet, welches Oberlandesgericht zuerst mit der Sache befasst wurde. Von diesem Verständnis ausgehend kommt § 14 Abs. 2 IRG überdies sinngemäß zur Anwendung, wenn es um die Auslieferung nur einer Person geht, die auf Grund mehrerer Auslieferungsersuchen gesucht wird18.

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Die vom Gesetzgeber beabsichtigte weitreichende Perpetuierung der durch § 14 IRG begründeten Zuständigkeit korrespondiert darüber hinaus auch mit der Struktur des Auslieferungs- bzw. des Zulässigkeitsverfahrens. So besteht die Möglichkeit der Durchführung eines „Nachverfahrens“ nach bereits erfolgter Entscheidung über die Zulässigkeit, beziehungsweise nach einer Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft über die Bewilligung der Auslieferung. Nach § 33 IRG kann bei Bekanntwerden neuer Umstände und Tatsachen, die bei der Entscheidung des Bundesgerichtshofs über die Zulässigkeit der Auslieferung nicht berücksichtigt worden waren, weil sie entweder noch nicht berkannt waren oder erst nachträglich eingetreten sind, nochmals in die Zulässigkeitsprüfung der Auslieferung eingetreten werden. Voraussetzung ist, dass diese bisher nicht berücksichtigten Umstände geeignet sind, eine andere Entscheidung über die Zulässigkeit zu begründen. Diese Entscheidung ist gemäß § 33 IRG unabhängig vom Zeitablauf oder vom Eintritt sonstiger, die Zuständigkeit berührender Umstände von dem nach § 14 IRG mit der Sache (erstmals) befassten Oberlandesgericht zu treffen.

Nach alledem hat auch die auf Basis einer vorläufigen Entscheidung über die Unzulässigkeit der Auslieferung anschließend am 23.03.2018 erfolgte Versagung der Bewilligung durch die zuständige Generalstaatsanwaltschaft keine Auswirkung auf die nach § 14 IRG festgelegte Zuständigkeitsbestimmung. Dies folgt überdies auch daraus, dass eine Entscheidung jederzeit abänderbar und im Falle eines Europäischen Haftbefehls eine derartige Abänderung unter Umständen sogar geboten ist, wenn die Auslieferung durch die ersuchende Behörde weiterhin betrieben wird und etwaige Zulässigkeits- oder Bewilligungshindernisse nach einer ablehnenden Bewilligungsentscheidung entfallen sind19.

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Schließlich können auch kostenrechtliche Vorgänge oder Maßnahmen der Aktenführung keinen Wechsel des Gerichtsstands auslösen. Die Geltendmachung der Kosten durch den Rechtsbeistand des Verfolgten und die im Oktober 2018 erfolgte Verfügung der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main, die Akte wegzulegen, sind für die Beurteilung der örtlichen Zuständigkeit daher ohne Belang.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27. September 2022 – 2 ARs 189/22

  1. vgl. BGH, Beschluss vom 22.07.1988 – 2 ARs 347/88, BGHR IRG § 14 Abs. 2 Befasstsein 1[]
  2. vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 02.06.2020 – Ausl 301 AR 66/20 5; OLG Koblenz, NStZ 1982, 210; OLG Hamm, NJW 1975, 2154; BT-Drs. 9/1338, S. 48[]
  3. vgl. OLG Celle, StraFo 2022, 404, 405; OLG Hamm, Beschluss vom 27.02.2020 – III2 Ausl 18/20 53 f.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29.12.2020 – Ausl 301 AR 198/20 6; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 02.06.2020 – Ausl 301 AR 66/20 4 f.; OLG Celle, Beschluss vom 16.03.2011 – 1 Ausl 16/11, OLGSt IRG § 14 Nr. 3; OLG Koblenz, NStZ 2006, 110; Ambos/König/Rackow/König/Voigt, Rechtfshilferecht in Strafsachen, 2. Aufl., § 14 Rn. 174; Schomberg/Lagodny/Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 14 IRG Rn. 4; Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas/Vogel/Burchard, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., § 14 IRG Rn. 3[]
  4. vgl. OLG Koblenz, NStZ 2006, 110[]
  5. vgl. Schomburg/Lagodny/Schierholt, aaO; Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas/Vogel/Burchard, aaO, Rn. 11[]
  6. vgl. Schomburg/Lagodny/Schierholt, aaO[]
  7. vgl. OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2015, 187[]
  8. vgl. OLG Frankfurt am Main, NStZ-RR 2020, 288[]
  9. vgl. etwa EGMR, Urteil vom 10.03.2015 – Kammer II, Bsw. Nr. 14.097/12 u.a., bei Kieber, NLMR 2015, 160[]
  10. vgl. EuGH, NJW 2016, 1709, 1711 f.[]
  11. vgl. EuGH, aaO[]
  12. vgl. EuGH, aaO; BeckOK StPO/Inhofer, 45. Edition, IRG § 79 Rn. 1 mwN[]
  13. vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 31.01.2022 – 1 AR 4/2219 f.; Volk/Beukelmann/Ahlbrecht/Rüschendorf, Münchener Anwaltshandbuch, Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 3. Aufl., 2020, § 16 Rn. 160[]
  14. vgl. BGH, Beschluss vom 29.09.1977 – 4 ARs 16/77, BGHSt 27, 266, 270[]
  15. vgl. Schomburg/Lagodny/Riegel, aaO, § 32 Rn.20; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.05.2017 – Ausl 301 AR 54/17 14[]
  16. vgl. OLG Celle, Beschluss vom 05.09.2022 – 2 AR (Ausl) 85/22 10; OLG Bamberg, NJW 2010, 1619, 1620; Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas/Vogel/Burchard, aaO, § 14 IRG, Rn. 3; BT-Drs. 9/1338, S. 48[]
  17. vgl. BT-Drs. 9/1338, S. 48[]
  18. vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 27.02.2020 – III2 Ausl 18/20 55; OLG Bamberg, NJW 2010, 1619, 1620; Schomburg/Lagodny/Schierholt, aaO, § 14 Rn. 4[]
  19. vgl. Schomburg/Lagodny/Schierholt, aaO, § 12 Rn. 11[]
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