Der Qualifikationstatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB kann auch durch Unterlassen verwirklicht werden1. Die hierfür erforderliche höhere Gefährlichkeit ist regelmäßig gegeben, wenn sich die zur Hilfeleistung verpflichteten Garanten ausdrücklich oder konkludent zu einem Nichtstun verabreden und mindestens zwei von ihnen zumindest zeitweilig am Tatort anwesend sind.

Nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB macht sich schuldig, wer die Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) mit einem Beteiligten gemeinschaftlich begeht. Um das gegenüber dem Grundtatbestand verdoppelte Strafhöchstmaß zu rechtfertigen, setzt diese Qualifikation eine Beteiligung voraus, die im konkreten Fall zu einer erhöhten abstrakten Gefährlichkeit der Körperverletzung für das Opfer führt2. Eine solche liegt insbesondere vor, wenn mindestens zwei Angreifer handeln und damit eine größere Zahl an Verletzungen beibringen können3, wenn die Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers durch die Anwesenheit mehrerer Beteiligter tatsächlich oder vermeintlich eingeschränkt sind4 oder wenn der die Körperverletzung unmittelbar ausführende Täter durch einen weiteren Beteiligten in seinem Willen hierzu bestärkt wird5.
Die gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB kann durch Unterlassen begangen werden.
Der Gesetzeswortlaut lässt insoweit keine Einschränkung erkennen, sodass die allgemeinen Regeln einschließlich des Begehens durch Unterlassen nach § 13 StGB Anwendung finden. Zu diesem Normverständnis drängen insbesondere auch Sinn und Zweck der Vorschrift. Deren Neufassung durch das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26.01.19986 sollte zuvörderst dem Anliegen Rechnung tragen, dem Schutz körperlicher Unversehrtheit größeres Gewicht zu verleihen7. Eingedenk dieses erstrebten effektiven Rechtsgüterschutzes ist bei der Anwendung von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB in den Blick zu nehmen, dass auch einer Tatbeteiligung durch Unterlassen – nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls – die erhöhte Gefahr erheblicher Verletzungen bzw. die Einschränkung von Verteidigungsmöglichkeiten innewohnen kann. Für die Annahme einer gesteigerten Gefährlichkeit bei gemeinschaftlicher Begehung mit einem anderen aktiv handelnden Beteiligten genügt allerdings die Anwesenheit einer sich lediglich passiv verhaltenden Person ebenso wenig8 wie das bloße gleichzeitige Agieren von Beteiligten an einem Ort, wenn jedes Opfer nur einem Angreifer ausgesetzt ist9. Dementsprechend kann allein das gleichzeitige Unterlassen mehrerer Garanten im Sinne einer reinen Nebentäterschaft den Tatbestand nicht erfüllen. Die hierfür erforderliche höhere Gefährlichkeit wird aber regelmäßig gegeben sein, wenn sich die zur Hilfeleistung verpflichteten Garanten ausdrücklich oder konkludent zu einem Nichtstun verabreden10 und mindestens zwei handlungspflichtige Garanten zumindest zeitweilig am Tatort präsent sind. Denn die getroffene Vereinbarung und die damit einhergehende Verbundenheit verstärken wechselseitig den jeweiligen Tatentschluss, die gebotene Hilfe zu unterlassen, was zusätzlich zu dem gefahrsteigernden gruppendynamischen Effekt die Wahrscheinlichkeit verringert, dass einer der Garanten der an ihn gestellten Verpflichtung gerecht wird.
So liegt der Fall hier. Ausweislich der Feststellungen vereinbarten die Angeklagten am Vormittag des 8.04.2020 ausdrücklich, sich selbst um den Zustand der Geschädigten zu kümmern und keine ärztliche Hilfe zu holen. Dem Zusammenhang der Urteilsgründe ist weiterhin zu entnehmen, dass sich alle Angeklagten an diese Verabredung gebunden fühlten, was zur Folge hatte, dass sie bis zuletzt auf das Hinzuziehen professioneller Hilfe verzichteten, obgleich insbesondere die Zeuginnen N. und V. die Angeklagte H. hierzu anhielten. Die Verabredung bestärkte die Angeklagten in ihrer Entscheidung und hatte somit auf das Tatgeschehen bestimmenden Einfluss.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 17. Mai 2023 – 6 StR 275/22
- vgl. zur Abgrenzung von Täterschaft und Beihilfe bei untätigen Garanten BGH, Beschluss vom 18.10.2018 – 3 StR 126/18, NStZ-RR 2019, 341, 342[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 03.09.2002 – 5 StR 210/02, BGHSt 47, 383, 386; Beschluss vom 24.01.2017 – 2 StR 188/16, NJW 2017, 1894[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 20.03.2012 – 1 StR 447/11 Rn. 12; MünchKomm-StGB/Hardtung, 4. Aufl., § 224 Rn. 36[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 03.09.2002 – 5 StR 210/02, aaO; Beschluss vom 30.06.2015 – 3 StR 171/15, BGHR StGB § 224 Abs. 1 Nr. 4 gemeinschaftlich 5[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 05. Febru- ar 1986 – 2 StR 640/85, StV 1986, 190[↩]
- BGBl. I S. 164[↩]
- vgl. BT-Drs. 13/8587, S. 1, 19, 35; MünchKomm-StGB/Hardtung, aaO, Vor § 223 Rn. 3 mwN[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 20.03.2012 – 1 StR 447/11 Rn. 12[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 30.06.2015 – 3 StR 171/15 aaO[↩]
- wie hier: SSW-StGB/Momsen-Pflanz/Momsen, 5. Aufl., § 224 Rn. 39; SK-StGB/Wolters, 9. Aufl., § 224 Rn. 35; dem zugeneigt auch NK-StGB/Paeffgen/Böse, 5. Aufl., § 224 Rn. 26; eine Tatbestandsverwirklichung durch Unterlassen ohne nähere Differenzierung ablehnend bzw. auf die Konstellation eines Unterlassungstäters neben zwei aktiv handelnden Beteiligten beschränkend: BeckOK-StGB/Eschelbach, 56. Edition, § 224 Rn. 39; LK-StGB/Grünewald, 12. Aufl., § 224 Rn. 33; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, aaO, § 224 Rn. 11b; MünchKomm-StGB/Hardtung, aaO, § 224 Rn. 38, 48[↩]