Gesamtfreiheitsstrafe – und der Spezialitätsgrundsatz

Die Nichtbeachtung des auslieferungsrechtlichen Spezialitätsgrundsatzes bewirkt nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Vollstreckungshindernis1.

Gesamtfreiheitsstrafe – und der Spezialitätsgrundsatz

Der Bundesgerichtshof hat sich – soweit ersichtlich – in zahlreichen Entscheidungen bisher nur mit der Konstellation befasst, dass unter Nichtbeachtung des Spezialitätsgrundsatzes aus einer an sich nachträglich einzubeziehenden Vorstrafe rechtsfehlerhaft eine Gesamtfreiheitsstrafe gebildet wurde2. In diesen Fällen durfte eine wegen dieses Hindernisses nicht vollstreckbare Vorstrafe nicht in eine Gesamtstrafe einbezogen werden.

Soweit sich die vorliegende Fallgestaltung – gleichzeitige Aburteilung mehrerer, von der Auslieferungsbewilligung bzw. dem Europäischen Haftbefehl nur teilweise umfasster Taten – in früheren Verfahren stellte, konnte der Bundesgerichtshof diese nach entsprechender Einstellung der insoweit betroffenen Taten noch offenlassen3.

Sinn und Zweck des vorgenannten Grundsatzes der Spezialität, Schutz der Souveränität des um Rechtshilfe (hier: Auslieferung im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls) ersuchten Staates4, bedingen es, die vorgenannte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur nachträglichen Einbeziehung von Vorstrafen auf die vorliegende Konstellation zu übertragen, in der hinsichtlich der Gesamtstrafensituation eine vergleichbare Verfahrenslage in Rede steht. Der Unterschied zur bisher entschiedenen Fallgruppe besteht lediglich darin, dass keine nachträgliche Gesamtstrafe mit einer dem Spezialitätsschutz unterfallenden Vorstrafe zu bilden war, sondern mehrere Taten zur gleichzeitigen Aburteilung anstanden, von denen ein Teil von der Auslieferungsbewilligung bzw. von dem Europäischen Haftbefehl nicht umfasst war. Um dem Spezialitätsschutz hinreichend Rechnung zu tragen, darf eine Gesamtstrafe in dieser Konstellation (erst recht) nicht gebildet werden.

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Zwar käme vorliegend – wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift ausführt und auch im Schrifttum vertreten wird5 – eine vollständige oder mit Blick auf die Einsatzstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten im Fall II. 4.a)) der Urteilsgründe teilweise Zurückstellung der Vollstreckung bis zur Durchführung des Nachtragsersuchens in Betracht, zumal vorliegend bislang nur geringfügig Untersuchungshaft vollstreckt wurde und ein Nachtragsersuchen aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird. Diese Vorgehensweise könnte aber in anderen Konstellationen, vor allem bei niedrigeren Einsatz- und Einzelstrafen, in der Vollstreckungspraxis zu uneinheitlichen oder unbilligen Ergebnissen führen.

Das Landgericht wird im vorliegenden Verfahren somit aus den für die abgeurteilten Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz rechtsfehlerfrei bestimmten Einzelstrafen von zwei Jahren und zehn Monaten und zwei Jahren und zwei Monate unter Beachtung des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO eine neue Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden haben. Dies kann im Beschlusswege nach den §§ 460, 462 StPO erfolgen (§ 354 Abs. 1b StPO). Sollten aufgrund einer nachträglichen Zustimmung der Republik Polen oder nach einem jederzeit möglichen Verzicht des Angeklagten auf die Anwendung des Spezialitätsgrundsatzes die übrigen Einzelstrafen vollstreckbar werden, wäre – ebenfalls gemäß § 460 StPO – nachträglich eine (neue) Gesamtstrafe zu bilden6. Im Rahmen der nachträglichen gerichtlichen Entscheidung wird auch Gelegenheit bestehen zu prüfen, ob angesichts der Tätigkeit des Angeklagten als internationaler Speditionsfahrer der Spezialitätsschutz nach § 83 Abs. 2 Nr. 1 IRG oder Art. 14 Abs. 1 Buchst. b) des Europäischen Auslieferungsübereinkommens möglicherweise entfallen ist7.

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Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19. Juli 2023 – 2 StR 46/22

  1. BGH, Beschluss vom 16.11.2016 – 2 StR 246/16, NStZ-RR 2017, 116; BGH, Beschluss vom 11.05.2016 – 1 StR 627/15, NStZ-RR 2016, 290, 291; und vom 25.06.2014 – 1 StR 218/14, NStZ 2014, 590 unter Bezugnahme auf das Urteil des EuGH vom 01.12.2008 – C388/08 [Leymann und Pustovarov], NStZ 2010, 35, 38 f.[]
  2. BGH, Beschlüsse vom 01.02.2023 – 5 StR 498/22 3; vom 24.02.2022 – 6 StR 48/22, NStZ-RR 2022, 154; BGH, Beschluss vom 28.08.2019 – 2 StR 25/19 6; BGH, Beschlüsse vom 03.03.2015 – 3 StR 40/15 5; vom 25.06.2014 – 1 StR 218/14, BGHR IRG § 83h Abs. 1 Nr. 1 Spezialitätsgrundsatz 3; vom 27.07.2011 – 4 StR 303/11, NStZ 2012, 100[]
  3. vgl. BGH, Urteile vom 13.08.2020 – 1 StR 648/18 10 ff.; vom 09.05.2019 – 4 StR 511/18 7 ff.[]
  4. vgl. BGH, Beschluss vom 11.05.2016 – 1 StR 627/15, NStZ-RR 2016, 290, 293[]
  5. vgl. Ambos/König/Rackow/Meyer, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Aufl., IRG, § 83h Rn. 1052[]
  6. BGH, Urteil vom 28.08.2019 – 2 StR 25/19 11[]
  7. vgl. BGH, Beschlüsse vom 19.12.2012 – 1 StR 165/12 8 ff.; vom 09.02.2012 – 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138, 143[]

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