Inhaftierungsanordnung und internationale Rechtshilfe

Vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe war jetzt eine Verfassungsbeschwerde erfolgreicht, die sich gegen die Anordnung der Festhaltung eines ausländischen Strafverfolgten im Rahmen internationaler Rechtshilfe richtete.

Inhaftierungsanordnung und internationale Rechtshilfe

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, reiste im Jahre 2003 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Zur Begründung seines Asylantrags trug er im Wesentlichen vor, aufgrund seiner Aktivitäten als Mitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) von den türkischen Behörden gefoltert und zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden zu sein. Durch die deutschen Behörden wurde zunächst festgestellt, dass in der Person des Beschwerdeführers die Voraussetzungen eines Abschiebeverbots wegen politischer Verfolgung vorliegen, und später auch seine Asylberechtigung anerkannt.

Im September 2006 wurde der Beschwerdeführer aufgrund eines türkischen Festnahmeersuchens, ausweislich dessen er an Bombenanschlägen und Tötungsdelikten in der Türkei beteiligt gewesen sein soll, in Berlin festgenommen und dem Amtsgericht Tiergarten vorgeführt. Nach einem von dort eingeholten Bericht des Landeskriminalamtes ist bei dem Beschwerdeführer ein posttraumatisches, ggf. auch hirnorganisches Psychosyndrom nach langer Haft, Folter und Hungerstreik ärztlich diagnostiziert worden, aufgrund dessen bei längerer Haft mit schweren psychischen Krisen bei ihm zu rechnen und eine Fluchtgefahr eher unwahrscheinlich sei. Nach Anhörung des Beschwerdeführers ersuchte das Amtsgericht mit nicht unterzeichnetem formularmäßigem Schreiben ohne Begründung die Justizvollzugsanstalt um Aufnahme des Beschwerdeführers zum Vollzug und ordnete mit Beschluss die ärztliche Begutachtung zur Feststellung seiner Haftfähigkeit an. Der Beschwerdeführer wurde sechs Tage später aus der Haft entlassen, nachdem seine Haftunfähigkeit ärztlich festgestellt worden war. Mit Beschluss vom 18. Juni 2007 lehnte das Kammergericht seine Anträge auf Gewährung einer Haftentschädigung und Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung ab1.

Der Beschwerdeführer sieht sich durch die Inhaftierungsanordnung des Amtgerichts Tiergarten und den ablehnenden Beschluss des Kammergerichts in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt. Die Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG sei als Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer Festhalteanordnung verfassungswidrig, da sie keine richterliche Sachaufklärung für die Freiheitsentziehung voraussetze. Selbst bei verfassungskonformer Auslegung fehle es an einer formell und materiell rechtmäßigen Festhalteanordnung des Amtsgerichts.

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Das Bundesverfassungsgericht hat die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben, weil sie den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit den Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung aus Art. 104 Abs. 1 bis 3 GG verletzen, und die Sache an das Kammergericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen:

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bezeichnet die Freiheit der Person als „unverletzlich“. Diese verfassungsrechtliche Grundentscheidung kennzeichnet das Freiheitsrecht als ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf2. Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen3, also vor Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen unmittelbaren Zwangs.

Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang4. Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt5.

Für die Freiheitsentziehung fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>). Der Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Alle staatlichen Organe sind verpflichtet dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (BVerfGE 105, 239 <248>). Die Freiheitsentziehung erfordert nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung, deren Zulässigkeit in Ausnahmefällen Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG voraussetzt, genügt nur, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste6.

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Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt weiterhin Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlicher Verfahren, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht7. Angesichts des hohen Ranges des Freiheitsgrundrechts gilt dies in gleichem Maße, wenn die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme in Rede steht8.

Den sich aus diesen Maßstäben ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen Beschlüsse des Amts- und des Kammergerichts nicht gerecht. Soweit der Beschwerdeführer allerdings die Verfassungswidrigkeit der Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG als solches rügt, hat seine Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg.

Bei der Anordnung der Festhaltung auf der Grundlage von § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG erfolgt zwar eine eigenständige richterliche Entscheidung vor der Freiheitsentziehung. Diese gewährleistet dem Betroffenen aber nach dem Wortlaut des Gesetzes ausschließlich einen Schutz vor einer Personenverwechslung. Dem Amtsgericht wird damit die richterliche Verantwortung für die Freiheitsentziehung abverlangt, ohne andererseits den Eintritt in eine auch nur kursorische Prüfung der Zulässigkeit dieser Maßnahme zu gestatten9.

Dies steht nicht ohne weiteres im Einklang mit der aufgezeigten freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und dem sich aus Art. 104 GG ergebenden Verfassungsgebot einer richterlichen Prüfung der Zulässigkeit und Fortdauer jeglicher Freiheitsentziehung und der Übernahme der diesbezüglichen Verantwortung. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht10.

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Die Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG lässt jedoch eine solche Sachaufklärung von vornherein nicht zu. Eine derartige Reduzierung der (amts-) richterlichen Überprüfung und Entscheidungskompetenz „auf Null“11 lässt sich unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten schwerlich rechtfertigen, zumal in der anschließenden Entscheidung über die Anordnung der Auslieferungshaft nach § 15 IRG sehr wohl materielle Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung geprüft werden. Allein der Umstand, dass von einem Amtsgericht nicht „die Kenntnis der Rechtsprechung auf diesem entlegenen Sondergebiet erwartet werden“12 kann, lässt es nicht zu, die Prüfung der materiellen Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung auf einen ungewissen späteren Zeitpunkt – die Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Auslieferungshaft (vgl. § 17 Abs. 1 IRG) – zu verschieben und die Oberlandesgerichte von einer Bindung an Entscheidungsfristen freizustellen13.

Um derartige verfassungsrechtlich bedenkliche Ergebnisse zu vermeiden, bedarf es einer verfassungskonformen Auslegung der Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG14. Das Amtsgericht ist zumindest in Evidenzfällen verpflichtet, bevor es seine Freilassungs- oder Festhalteanordnung trifft, auf der (schmalen) ihm zu diesem Zeitpunkt zugänglichen Erkenntnisgrundlage und daher notwendig in summarischer Weise auch die Haftvoraussetzungen der §§ 15, 16 IRG in seine Prüfung einzubeziehen. Ergeben sich bei dieser Prüfung konkrete Anhaltspunkte dafür, dass ein Haftgrund offensichtlich nicht vorliegt oder dass die Auslieferung von vornherein unzulässig ist, muss das Amtsgericht vor seiner Entscheidung zunächst versuchen, die Sach- und Rechtslage innerhalb der ihm gesetzten Frist mit der Generalstaatsanwaltschaft zu erörtern, damit diese entweder die umgehende Freilassung des Festgenommenen verfügen oder aber sachliche oder rechtliche Erkenntnisse einbringen kann, welche die Zulässigkeit der Auslieferungshaft und mithin der Festhalteanordnung nach § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG begründen. Schlägt ein solcher Versuch fehl oder kommt der Kontakt zur Generalstaatsanwaltschaft nicht zustande (etwa an Wochenenden oder Feiertagen), bleiben jedoch nach Auffassung des Amtsgerichts durchgreifende Bedenken gegen die Zulässigkeit der Haft bestehen, über die nicht innerhalb der Fristen des § 22 IRG das Oberlandesgericht entscheiden kann, so muss es in erweiternder, verfassungskonformer Auslegung des § 22 Abs. 3 IRG eine Freilassungsanordnung erlassen15.

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Die beiden Fachgerichte haben sich vorliegend namentlich nicht hinreichend mit der dem Beschwerdeführer drohenden Gefahr politischer Verfolgung in der Türkei auseinandergesetzt, obwohl sich die Prüfung eines daraus folgenden Auslieferungshindernisses nach § 6 Abs. 2 IRG aufdrängen musste.

Das Amtsgericht hat hier – offenbar einer in der Praxis üblichen Vorgehensweise entsprechend16 – keine schriftliche Festhalteanordnung gemäß § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG erlassen, sondern lediglich um Aufnahme des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt ersucht. Damit fehlt es schon an einer für den Beschwerdeführer und das Bundesverfassungsgericht nachprüfbaren Entscheidung über die Freiheitsentziehung, die den vom Amtsgericht eigenständig getroffenen Maßnahmen nur gewissermaßen stillschweigend zugrunde liegt; mit den Verfahrensgarantien des Art. 104 Abs. 2 und Abs. 3 GG steht eine solche Verfahrensweise nicht im Einklang. Sie widerspricht der gerichtlichen Informationspflicht und erschwert die Eröffnung der Verteidigungs- und Einwendungsmöglichkeiten des Festgenommenen. In der Sache ist das Amtsgericht vorliegend zwar insoweit auf das Vorbringen des Beschwerdeführers eingegangen, als es im Hinblick auf seine gesundheitlichen Probleme eine umgehende ärztliche Untersuchung durch den aufnehmenden Arzt des Haftkrankenhauses angeordnet hat. Es fehlt aber insbesondere an jeder Auseinandersetzung mit dem – auch dem Amtsgericht bekannten – Umstand, dass der Beschwerdeführer als Asylberechtigter anerkannt und daher davon auszugehen ist, dass er in der Türkei politischer Verfolgung ausgesetzt war und ihm im Falle seiner Rückkehr möglicherweise auch erneut eine politische Verfolgung droht, was jedenfalls Anlass zur Prüfung eines Auslieferungshindernisses nach § 6 Abs. 2 IRG gibt.

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Der Beschluss des Kammergerichts erfüllt die verfassungsrechtlichen Anforderungen ebenfalls nicht. Das Kammergericht äußert lediglich Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Angaben des Beschwerdeführers, ohne sich damit vertieft auseinanderzusetzen, dass von dem dafür zuständigen und sachkundigen Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Voraussetzungen des § 51 AuslG im Hinblick auf den Beschwerdeführer bejaht worden waren. Der bloße Hinweis darauf, dass der Beschwerdeführer nur „vage Angaben“ gemacht habe, stellt noch keine ausreichende – auch im Auslieferungsverfahren verfassungsrechtlich gebotene17 – Prüfung der Frage dar, ob die Auslieferung des Beschwerdeführers möglicherweise im Hinblick auf die ihm drohende politische Verfolgung in der Türkei nach § 6 Abs. 2 IRG unzulässig sein könnte.

Ebenso wenig befassen sich beide Gerichte mit der gleichermaßen naheliegenden Frage, ob im Falle des Beschwerdeführers, der über ein gesichertes Aufenthaltsrecht und eine Meldeanschrift in Deutschland verfügt, auch angesichts seines Gesundheitszustands eine Fluchtgefahr (vgl. § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG) ausnahmsweise verneint werden kann.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16. September 2010 – 2 BvR 1608/07

  1. KG, Beschluss vom 18.06.2007 – (4) Ausl. A. 915/06 (183/06) []
  2. vgl. BVerfGE 10, 302, 322; 29, 312, 316; 65, 317, 322[]
  3. vgl. BVerfGE 94, 166, 198; 96, 10, 21[]
  4. vgl. BVerfGE 10, 302, 322; 58, 208, 220[]
  5. vgl. BVerfGE 10, 302, 323; 29, 183, 195; 58, 208, 220[]
  6. vgl. BVerfGE 22, 311, 317; 105, 239, 248 f.; BVerfGK 7, 87, 99[]
  7. BVerfGE 70, 297, 308; BVerGK 7, 87, 100[]
  8. BVerfGK 7, 87, 100[]
  9. vgl. Schomburg/Lagodny/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Auflage 2006, Vor §§ 21, 22 IRG Rn. 22; Wilkitzki, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Auflage, Loseblatt: Stand Juni 2010, § 22 IRG Rn. 12; vgl. im Hinblick auf die Regelungen der §§ 14, 15 und 21 des Deutschen Auslieferungsgesetzes vom 23. Dezember 1929: Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, 1970, S. 246 ff.[]
  10. vgl. BVerfGE 109, 133, 162; BVerfGK 7, 87, 100[]
  11. vgl. Wilkitzki, a.a.O., § 22 IRG Rn. 12[]
  12. BGHSt 2, 44, 50[]
  13. so aber der Sache nach BGHSt 2, 44, 50; vgl. kritisch hierzu: Schomburg/Lagodny/Hackner, a.a.O., Vor §§ 21, 22 IRG Rn. 23[]
  14. vgl. Wilkitzki, a.a.O., § 22 Rn. 26; Schomburg/Lagodny/Hackner, a.a.O., Vor §§ 21, 22 IRG Rn. 13, 26 ff.[]
  15. vgl. Wilkitzki, a.a.O., § 22 Rn. 26 f.; Schomburg/Lagodny/Hackner, a.a.O., Vor §§ 21, 22 IRG Rn. 25 ff.[]
  16. vgl. Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/ Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 22 IRG Rn. 8[]
  17. vgl. BVerfGE 60, 348, 358[]
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