Haftbeschwerde – und die überzogene Vorlagefrist

Erachtet das Gericht oder der Vorsitzende, dessen Entscheidung angefochten wird, eine Haftbeschwerde für begründet, so haben sie ihr abzuhelfen. Andernfalls ist die Beschwerde nach § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO sofort, spätestens vor Ablauf von drei Tagen, dem Beschwerdegericht vorzulegen.

Haftbeschwerde – und die überzogene Vorlagefrist

Allerdings führt nicht jeder Verstoß gegen § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO in einem Haftbeschwerdeverfahren schon für sich genommen zur Unverhältnismäßigkeit der Fortdauer von Untersuchungshaft1.

So auch im hier entschiedenen Fall: Die Ausführungen des Berliner Kammergerichts2 lassen hinreichend erkennen, dass ihm bei Beurteilung dieser Frage Inhalt und Tragweite des Anspruchs des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art.19 Abs. 4 GG und seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bewusst waren und es diese in seine Abwägung miteinbezogen hat. Es hat ausgeführt, die verspätete Vorlage von rund einem Monat sei offensichtlich versehentlich erfolgt und nicht ausschließbar einer unübersichtlichen Zusammenstellung des Beschwerdekonvoluts geschuldet. Ein sachlicher Grund für die verzögerte Bearbeitung sei genauso wenig ersichtlich wie „strukturelle Defizite auf Seiten des Gerichts“. Da die Weiterleitung vom Gericht über die Staatsanwaltschaft an die Generalstaatsanwaltschaft am Tag der verspäteten Nichtabhilfeentscheidung und der entsprechenden Vorlageverfügung erfolgt sei, sei der festgestellte Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot „bei einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände“ noch nicht geeignet, den Bestand des Haftbefehls in Frage zu stellen. Dagegen ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern, zumal die Nichtabhilfeentscheidung ihrerseits unverzüglich nach Feststellung des Versäumnisses getroffen worden ist und die Kammervorsitzende in ihrer Vorlageverfügung mit der Bitte „um schnellstmögliche Weiterleitung“ auf das Beschleunigungsbedürfnis besonders hingewiesen hat.

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 In Anbetracht der Verfahrensabläufe hat sich die eingetretene Verzögerung des Rechtsschutzes auf die Fortdauer der Untersuchungshaft zudem nicht entscheidend ausgewirkt. Die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers hat sich aufgrund der verzögerten Aktenvorlage im Haftbeschwerdeverfahren im Ergebnis nicht verlängert. Es kann ausgeschlossen werden, dass das Kammergericht, wäre es früher mit der Sache befasst worden, eine dem Beschwerdeführer hinsichtlich der Fortdauer der Untersuchungshaft günstigere Entscheidung getroffen hätte. Eine auf der verspäteten Vorlage beruhende Verfahrensverzögerung im – parallel zum Haftbeschwerdeverfahren durchgeführten – Revisionsverfahren ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.

Im Übrigen ist auch für das besondere Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, dass eine verspätete Aktenvorlage an das Oberlandesgericht unter Überschreitung der sogenannten Sechsmonatsfrist für sich genommen noch keine Pflicht zur Aufhebung des Haftbefehls oder zu dessen Außervollzugsetzung begründet3. Das Bundesverfassungsgericht hat diese fachgerichtliche Rechtsauffassung unbeanstandet gelassen4. Es ist nicht ersichtlich, weshalb für die Überschreitung der Vorlagepflicht aus § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO im Haftbeschwerdeverfahren strengere Maßstäbe gelten sollten. Dies gilt umso mehr, als gegen den Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der angegriffenen Haftentscheidung bereits ein (noch nicht rechtskräftiges) Strafurteil vorlag, wohingegen im Verfahren der besonderen Haftprüfung durch das Oberlandesgericht gerade noch kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil ergangen ist (vgl. § 121 Abs. 1 StPO).

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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 23. Januar 2023 – 2 BvR 1343/22

  1. vgl. KG, Beschluss vom 27.10.2014 – 2 Ws 360/14, NStZ-RR 2015, S. 18; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 12.06.2019 – 18 Qs 20/19, BeckRS 2019, S. 41863, Rn. 16; OLG Naumburg, Beschluss vom 08.08.2000 – 1 Ws 359/00 6; KG, Beschluss vom 15.03.2019 – 4 Ws 24/19 – 121 AR 47/19, BeckRS 2019, S. 4693, Rn. 39[]
  2. KG, Beschluss vom 05.07.2022 – 2 Ws 112/22 – 161 AR 148/22[]
  3. vgl. BGH, Beschluss vom 18.05.2022 – 3 StR 181/21, Rn. 39; OLG Hamm, Beschluss vom 21.08.2007 – 3 OBL 86/07 <42> <3 Ws 486/07>, NJW 2007, S. 3220 <3221> Gärtner, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl.2019, § 121 Rn. 41[]
  4. vgl. BVerfGE 42, 1 <9 f.>[]

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