Haftgrund: Wiederholungsgefahr – und das Ruhen der Jahresfrist bei laufender Hauptverhandlung

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist aus verfassungsrechtlichen Gründen eine restriktive Auslegung der Regelung des § 112a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO (Haftgrund der Wiederholungsgefahr) geboten. 

Haftgrund: Wiederholungsgefahr – und das Ruhen der Jahresfrist bei laufender Hauptverhandlung

Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Bedürfnis, eine funktionsfähige Strafrechtspflege zu gewährleisten und das übergreifende Interesse der Rechtsgemeinschaft an wirksamer Verbrechensbekämpfung zu schützen, neben den Haftgründen der Flucht- oder Verdunkelungsgefahr auch den Haftgrund der Wiederholungsgefahr anerkannt. Dabei steht nicht die Sicherung des Strafverfahrens, sondern der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten im Vordergrund1. Aufgrund der besonderen Bedeutung des in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG geschützten Grundrechts auf persönliche Freiheit gelten allerdings strenge Maßstäbe. Nur unter bestimmten Voraussetzungen überwiegt das Sicherungsbedürfnis der Gemeinschaft den verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten, lediglich verdächtigen Beschuldigten.

Bei dem wiederholt begangenen Anlassdelikt muss es sich um eine Straftat handeln, die schon nach ihrem gesetzlichen Tatbestand einen erheblichen, in der Höhe der Strafandrohung zum Ausdruck kommenden Unrechtsgehalt aufweist und den Rechtsfrieden empfindlich stört. Darüber hinaus muss verlangt werden, dass die Taten, deren der Beschuldigte verdächtig ist, auch in ihrer konkreten Gestalt, insbesondere nach Art und Ausmaß des angerichteten Schadens, die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt haben, und im Einzelfall eine hohe Straferwartung begründet ist2.

Gemäß § 122a StPO darf der Vollzug der Haft in den Fällen des § 121 Abs. 1 StPO nicht länger als ein Jahr aufrechterhalten werden, wenn sie auf den Haftgrund des § 112a StPO gestützt ist. Vorliegend ist die Jahresfrist für die Angeklagten H., T. und R. allerdings noch nicht abgelaufen, da die Frist seit Beginn der Hauptverhandlung am 24.11.2020 nach § 121 Abs. 3 StPO ruht.

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Insoweit ist streitig, ob § 121 Abs. 3 StPO auch auf die Fälle anwendbar ist, in denen der Haftbefehl sich nur auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gründet.

Teilweise wird vertreten, dass es mit dem Zweck der Norm, die Dauer des Vollzugs der auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützten Haft strikt und unbedingt zu begrenzen, unvereinbar wäre, wenn man die Ruhensvorschriften des § 121 Abs. 3, den § 122a – anders als dessen ersten Absatz – nicht ausdrücklich in Bezug nimmt, auf den Lauf der Jahresfrist nach § 122a entsprechend anwenden wollte3. § 121 Abs. 3 Satz 2 gelte zwar auch dann für die besondere Haftprüfung nach §§ 121 Abs. 1, 122 Abs. 4, wenn der vollzogene Haftbefehl auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützt sei. Da aber der Vollzug der (Sicherungs-)Haft nach § 112a mit Ablauf der Jahresfrist ohne weitere, eine Aktenübersendung an das Oberlandesgericht erfordernde Prüfung zwingend beendet werden müsse, könne daraus nichts für eine entsprechende Anwendung der Norm auf den Lauf der Höchstfrist nach § 122a hergeleitet werden. Das gelte auch, soweit die Fristen zur besonderen Haftprüfung von der Vorlage der Akten an das OLG bis zu dessen Entscheidung ruhen (§ 121 Abs. 3 Satz 1 und 3), denn eine vergleichbare inhaltliche Prüfung und Wertung hat nach Maßgabe des § 122a nicht zu erfolgen; einzige Voraussetzung für die Beendigung des Vollzuges der auf § 112a gestützten Haft ist der Ablauf der Höchstfrist4.

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Nach überwiegender Auffassung ruht der Fristenlauf während der Hauptverhandlung5. § 121 Abs. 3 StPO sei auch in den Fällen des § 122a StPO anwendbar.

Der letztgenannten Auffassung schließt sich das Oberlandesgericht Celle an. Wie bereits das Landgericht in dem Beschluss vom 07.05.2021 ausführt, tritt der Sicherungszweck des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr an die Stelle der Verfahrenssicherung durch die Anordnung von Untersuchungshaft, wenn keine anderen Haftgründe vorliegen. Es handelt sich bei Verfahren, in denen lediglich der subsidiäre Haftgrund der Wiederholungsgefahr gegeben ist, auch in der Regel um Verfahren, die einen besonderen Umfang haben und aufgrund der Begrenzung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr auf Katalogtaten nach § 112a Abs. 1 StPO zumindest mehrere, häufig aber auch eine Vielzahl von schweren Straftaten betreffen. Gerade in diesen Verfahren ist – wie auch im vorliegenden Verfahren- auch bei zügiger Verhandlungsführung ohne Verfahrensverzögerungen eine Verfahrensdauer von mehr als einem Jahr aufgrund der Durchführung einer aufwändigen Beweisaufnahme häufig erforderlich und nicht vermeidbar. Es würde dem Sicherungszweck des Schutzes der Allgemeinheit vor weiteren schweren Straftaten widersprechen, wenn insoweit ein Ruhen des Fristablaufs nach § 121 Abs. 3 StPO nicht eintreten würde. Die Verweisung von § 122a StPO auf § 121 Abs. 1 StPO steht dem nicht entgegen. Denn § 121 Abs. 3 StPO enthält eine Regelung zur Berechnung der Ruhensfrist und hat inhaltlich keinen weiteren Regelungsgehalt, der eine entsprechende Anwendung ausschließen würde. Insoweit nimmt der Verweis auf § 121 Abs. 1 StPO in § 122a StPO die Regelung auch nicht ausdrücklich vom Anwendungsbereich des § 122a StPO aus.

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Oberlandesgericht Celle, Beschluss vom 25. Mai 2021 – 2 Ws 150/21 – 2 Ws 151/21 – 2 Ws 152/21

  1. vgl. BVerfGE 19, 342, 349 f.[]
  2. vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.05.1973 – 2 BvL 4/73[]
  3. Gärtner in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl.2019, § 122a Rn[]
  4. Gärtner in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl.2019, § 122a Rn. 13; Böhm in Münchener Kommentar zur StPO, 2014, § 122a Rn. 3-7[]
  5. KK-Schultheis, StPO, 8. A., § 122a Rn. 4, Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl.2007, § 122a Rn. 10; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 122a Rn. 2; BeckOK StPO/Krauß, 39. Ed.01.01.2021, StPO § 122a Rn. 2; OLG Frankfurt, Beschluss vom 28.07.1989 – 1 HEs 82/89[]

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