Mit der Anwendung des § 61 Abs. 1 JGG beim Zusammentreffen von Jugendstrafe und Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB hatte sich aktuell der Bundesgerichtshof zu befassen:

Der Vorbehalt der nachträglichen Entscheidung über die Aussetzung nach § 109 Abs. 2 i.V.m. § 61 Abs. 1 JGG gilt in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift auch für den besonderen Fall einer gleichzeitigen Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB neben der Ahndung mit einer Jugendstrafe.
Die Regelung des § 61 JGG trägt dem Erziehungsauftrag des Jugendstrafrechts aus § 2 Abs. 1 JGG Rechnung. Eine gesetzliche Grundlage für eine sog. Vorbewährung in § 61 JGG wurde erstmals mit Art. 1 Ziffer 9 des Gesetzes zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten vom 04.09.20121 geschaffen. Dieser Neuregelung vorausgegangen war eine jugendgerichtliche Praxis, die ihre Handlungsmöglichkeiten – auch ohne gesetzliche Normierung unter Rückgriff auf § 8 Abs. 2, § 10 und § 15 JGG analog – um das Institut der sog. Vorbewährung erweitert hatte, um bei erkennbaren positiven Ansätzen, die eine positive Legalprognose demnächst möglich erscheinen lassen, die Entscheidung über die Aussetzungsfrage zurückzustellen. Mit der gesetzlichen Neuregelung sollte für die als sinnvoll und angemessen erachteten Verfahrensgestaltungen im Kontext der „Vorbewährung“ ein gesetzlicher Rahmen geschaffen werden, der rechtsstaatlichen Anforderungen genügt2. Ziel des Gesetzgebers war es damit letztlich, für die weitere Entwicklung des zu einer Jugendstrafe verurteilten Jugendlichen oder Heranwachsenden schädliche Nebenwirkungen eines jugendstrafrechtlichen Vollzugs möglichst zu vermeiden, wenn die Legalbewährung auch auf anderem Weg erreicht werden kann3.
Diese gesetzgeberischen Ziele können – über den Wortlaut des § 61 Abs. 1 JGG hinaus – bei der hier verfahrensgegenständlichen besonderen Fallgestaltung eines Zusammentreffens von Jugendstrafe und Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB nur dadurch erreicht werden, dass eine einheitliche Entscheidung über die „Vorbewährung“ für beide jugendgerichtlichen Sanktionsmöglichkeiten getroffen wird. Dies gilt insbesondere auch wegen des durch § 5 Abs. 3 JGG vorgegebenen sachlichen Zusammenhangs zwischen Strafe und Unterbringung4. Von einer geschlossenen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gehen vergleichbare Wirkungen wie beim Vollzug der Jugendstrafe aus. Eine Beschränkung einer „Vorbewährung“ nach § 61 JGG allein auf die Verhängung einer Jugendstrafe würde hier zu Wertungswidersprüchen in Bezug auf die mit der gesetzlichen Regelung verfolgte Zielsetzung führen, einen Vollzug von Jugendstrafe möglichst zu vermeiden. Die nach dem Gesetzeswortlaut bestehende Möglichkeit zur „Vorbewährung“ muss daher in dem speziellen Fall einer gleichzeitigen Verhängung von Jugendstrafe und Unterbringung entsprechend ausgedehnt werden.
Angesichts der hier ausschließlich begünstigenden Regelung des § 61 JGG steht auch das grundgesetzlich verankerte Analogieverbot im Strafrecht einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs dieser Regelung nicht entgegen5.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12. Mai 2020 – – 1 StR 569/19