Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt nach Ansicht des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs im Rahmen der Strafzumessung bei Taten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.

Der 3. Strafsenat fragt daher bei den anderen Strafsenaten an, ob an (gegebenenfalls) entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird.
Der 1. Strafsenat hat in seiner Entscheidung vom 08.02.20061 ausgeführt, dem langen Abstand zwischen Tat und Urteil komme bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zu. Dies gelte insbesondere in den Fällen, in denen ein Kind vom im selben Familienverband lebenden (Stief)Vater missbraucht werde und erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige finde. Deshalb habe der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen.
Demgegenüber hatte der 5. Strafsenat zuvor in einem Fall, der die Vergewaltigung eines zur Tatzeit 14 Jahre alten Mädchens betraf, – nicht tragend – darauf hingewiesen, der Umstand, dass der Angeklagte erst 18 Jahre nach der Tat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sei, stelle einen strafmildernd zu berücksichtigenden Gesichtspunkt dar, auch wenn Fälle der vorliegenden Art aus tatsächlichen Gründen vielfach lange Jahre unbekannt blieben und der Gesetzgeber diesem Umstand durch § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB dadurch Rechnung getragen habe, dass die Verjährung bei diesen Delikten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruhe2.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs vermag sich der Ansicht des 1. Strafsenats, der ein Teil der Literatur gefolgt ist3, nicht anzuschließen; denn sie vermischt nach seiner Ansicht in sachlich nicht gerechtfertigter Weise Gesichtspunkte der Strafzumessung mit solchen der Verjährung.
Die Strafe soll eine angemessene staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat sein. Ihre Bemessung erfordert eine einzelfallorientierte Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände. Grundlagen der Strafzumessung sind dabei die Schwere der Tat in ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und der Grad der persönlichen Schuld des Täters, § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB4. Daneben ist die Resozialisierung des Täters der zentrale Gesichtspunkt der Strafzumessung, denn das Tatgericht hat bei der konkreten Strafbemessung die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB. Nach diesen Maßgaben kann ein langer zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil eine Strafmilderung gebieten. Der Ablauf der Zeit mindert zwar nicht die Tatschuld, doch kann er Tat und Täter in einem günstigeren Licht erscheinen lassen, als es bei schneller Ahndung der Fall gewesen wäre; dies gilt insbesondere, wenn sich die Tat durch den Zeitablauf als einmalige Verfehlung des Täters erwiesen, er sich inzwischen jahrelang einwandfrei geführt und der Verletzte die Folgen der Tat überwunden hat5. Ein langer Zeitablauf nach der Tat führt deshalb nicht nur zu einer Minderung des Sühneanspruchs, weil das Strafbedürfnis allgemein abnimmt6, sondern erfordert auch eine gesteigerte Prüfung der Wirkungen der Strafe für den Täter7.
Demgegenüber betreffen die Vorschriften über die Verfolgungsverjährung ausschließlich die Verfolgbarkeit der Tat8; nach Ablauf der Verjährungsfrist ist die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen nicht mehr möglich, § 78 Abs. 1 Satz 1 StGB. Das Rechtsinstitut der Verjährung soll dem Rechtsfrieden dienen und einer etwaigen Untätigkeit der Behörden in jedem Abschnitt des Verfahrens entgegenwirken9. Zur Erreichung dieser Ziele hat der Gesetzgeber in den §§ 78 ff. StGB ein differenziert ausgestaltetes System normiert, innerhalb dessen die Dauer der Verjährungsfrist im Ausgangspunkt unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles maßgeblich vom Höchstmaß der durch die betreffende Strafvorschrift allgemein angedrohten Strafe bestimmt wird, vgl. § 78 Abs. 3 StGB.
Aus diesen unterschiedlichen Zwecken und Ausgestaltungen der Strafzumessung und der Verfolgungsverjährung folgt einerseits, dass für die Frage der Verjährung nicht von Bedeutung ist, ob mit Blick auf die Strafzumessungsmaximen Schuld und Spezialprävention eine staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat in Form einer Sanktionierung des Täters (noch) notwendig und gegebenenfalls welche angemessen erschiene. Andererseits spielt die Dauer der Verjährungsfrist für die Strafzumessung und die dort zu bewertenden Umstände keine Rolle. Das Gewicht, mit dem der zeitliche Abstand zwischen einer noch verfolgbaren Tat und dem Urteil in die Bemessung der Strafe einzustellen ist, hängt nicht von der Länge der zunächst nach §§ 78, 78a StGB zu bestimmenden Verjährungsfrist ab. Es wird auch nicht dadurch beeinflusst, dass die Tat gegebenenfalls länger verfolgbar ist, weil die Voraussetzungen eines der Tatbestände gegeben sind, bei deren Erfüllung die Verjährung nach § 78b StGB ruht oder gemäß § 78c StGB unterbrochen wird. Dies gilt etwa auch für die Ruhensregelung des § 78b Abs. 4 StGB, die an die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Landgericht und das Bestehen besonders schwerer Fälle anknüpft, die bei bestimmten Delikten als strafschärfende Umstände gesetzlich normiert sind.
Gründe dafür, hiervon für die Fälle des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB abzuweichen und dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil dort generell ein geringeres Gewicht zuzumessen, sind nicht ersichtlich. In § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB hat der Gesetzgeber – erstmals mit dem 30. Strafrechtsänderungsgesetz vom 23.06.199410 – eine deliktsspezifische Bestimmung zum Ruhen der Verfolgungsverjährung getroffen, die den Besonderheiten bei zum Nachteil von jungen Menschen begangenen Sexualstraftaten Rechnung tragen soll. Der Gesetzgeber hat hierzu in der Gesetzesbegründung ausgeführt, Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen würden den Strafverfolgungsbehörden häufig erst bekannt, wenn die Taten bereits viele Jahre zurückliegen, weil sie überwiegend von Familienangehörigen begangen und die Opfer von den Tätern häufig dahin beeinflusst würden, die Übergriffe zu verschweigen. Wenn die Opfer erst lange Zeit nach der Tat in der Lage seien, Strafanzeige zu erstatten, sei eine Strafverfolgung wegen Verjährung der Taten in vielen Fällen nicht mehr möglich11. Deshalb solle die Verjährung bis zu dem Zeitpunkt ruhen, bis zu dem das Opfer in der Lage sei, das Erlebte in seiner gesamten Dimension zu erfassen und auf dieser Grundlage über das Für und Wider einer Strafanzeige zu entscheiden12. Diese Erwägungen belegen eindeutig, dass der Gesetzgeber lediglich den Willen hatte, die Verfolgbarkeit von bestimmten Straftaten auch über die bis dahin geltenden Verjährungsregelungen hinaus zu ermöglichen. Den Gesetzesmaterialien ist demgegenüber an keiner Stelle zu entnehmen, dass es ihm auch darauf ankam, über diesen Gesichtspunkt hinaus die in den §§ 46 ff. StGB geregelten und von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Strafzumessungskriterien sowie deren Gewichtung zu modifizieren. Dies gilt auch für die nachfolgenden Änderungen der Vorschrift, durch die der Deliktskatalog erweitert und das Ruhen der Verjährung bis mittlerweile zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers angeordnet worden ist13.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die letzte Erhöhung der Altersgrenze bewirkt, dass schwere Sexualdelikte frühestens mit Vollendung des 50. Lebensjahres des Opfers verjähren, wobei sich diese Frist durch Unterbrechungshandlungen bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres des Opfers verlängern kann14. Diese Wertung des Gesetzgebers ist zwar trotz der sich hieraus für die Rechtspraxis ergebenden Probleme hinzunehmen. Der Bundesgerichtshof würde es jedoch – ungeachtet der bereits dargelegten Bedenken – in solchen Fällen für regelmäßig als in der Sache unangemessen erachten, den Abstand zwischen Tat und Urteil von gegebenenfalls mehreren Jahrzehnten bei der Strafzumessung nur eingeschränkt zu Gunsten eines möglicherweise in der Zwischenzeit straflosen Täters zu gewichten.
Der 3. Strafsenat fragt deshalb an beim 1. Strafsenat, ob an der entgegen stehenden Rechtsprechung festgehalten wird, und bei den anderen Strafsenaten, ob ggf. an entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird, § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29. Oktober 2015 – 3 StR 342/15
- BGH, Beschluss vom 08.02.2006 – 1 StR 7/06, NStZ 2006, 393[↩]
- BGH, Beschluss vom 29.09.1997 – 5 StR 363/97, NStZ-RR 1998, 207[↩]
- SK-StGB/Wolters, 135. Lfg., § 176 Rn. 13; LK/Hörnle, StGB, 12. Aufl., § 176 Rn. 55; S/S-Eisele, StGB, 29. Aufl., § 176 Rn. 29; aA Fischer, StGB, 63. Aufl., § 46 Rn. 61; § 176 Rn. 35; MünchKomm-StGB/Renzikowski, 2. Aufl., § 176 Rn. 66[↩]
- BGH, Urteil vom 04.08.1965 – 2 StR 282/65, BGHSt 20, 264, 266[↩]
- LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240[↩]
- BGH, Beschluss vom 17.01.2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f.[↩]
- BGH, Beschluss vom 20.02.1998 – 2 StR 20/98, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 35[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 31.01.2000 – 2 BvR 104/00, NStZ 2000, 251[↩]
- BGH, Urteil vom 26.06.1958 – 4 StR 145/58, BGHSt 11, 393, 396; Beschluss vom 23.01.1959 – 4 StR 428/58, BGHSt 12, 335, 337 f.[↩]
- BGBl. I S. 1310[↩]
- vgl. BT-Drs. 12/2975 S. 1; 12/3825 S. 1; 12/6980 S. 1; Hervorhebung nicht im Original[↩]
- vgl. BT-Drs. 12/6980 S. 4[↩]
- vgl. etwa BT-Drs. 15/350 S. 13; 16/13671 S. 24; 18/2601 S. 14, 22 f.[↩]
- BT-Drs. 18/2601 S. 23[↩]