Mit der Vorhersehbarkeit im Sinne des Fahrlässigkeitstatbestandes bei komplexen Geschehensabläufen, insbesondere bei selbst- und fremdgefährdendem Verhalten eines Dritten, hatte sich aktuell der Bundesgerichtshof zu befassen:

Fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern er diese nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte, und wenn gerade die Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg herbeigeführt hat1. Pflichtwidrig handelt, wer objektiv gegen eine Sorgfaltspflicht verstößt, die dem Schutz des beeinträchtigten Rechtsguts dient. Dabei bestimmen sich Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt nach den Anforderungen, die bei objektiver Betrachtung der Gefahrenlage ex ante an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden zu stellen sind2.
Welche Umstände noch innerhalb des Bereichs des Voraussehbaren liegen, kann bei der Vielgestaltigkeit des täglichen Lebens nicht allgemein gesagt werden. Diese Beurteilung muss der sachgemäßen tatrichterlichen Prüfung des Einzelfalles überlassen bleiben.
Immer aber wird auch der Revisionsrichter bei ausreichenden Feststellungen des Tatrichters eine Grenze zwischen dem Bereich der nach der Lebenserfahrung noch voraussehbaren und dem Kreis der nicht mehr voraussehbaren Umstände ziehen können und müssen. Denn die Frage danach, womit nach der Lebenserfahrung gerechnet werden kann und muss, ist nicht nur Tat, sondern auch Rechtsfrage3.
Im Sinne des Fahrlässigkeitstatbestands voraussehbar ist, was der Täter nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten in der konkreten Tatsituation als möglich hätte vorhersehen können4. Bei der Beurteilung der Voraussehbarkeit muss auch berücksichtigt werden, was im Einzelnen tatsächlich geschehen ist, weil nicht die Gefährdung allein schon die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Täters wegen einer Fahrlässigkeitstat nach sich zieht. Nicht nur der Erfolg, sondern auch die Art und Weise, wie der Erfolg zustande gekommen ist, muss auf der Linie der Befürchtungen liegen, welche die Verletzung einer Sorgfaltspflicht begründen5.
Danach brauchen Einzelheiten des durch das pflichtwidrige Verhalten in Gang gesetzten Kausalverlaufs nicht vorhersehbar zu sein6. Die Verantwortlichkeit des Täters entfällt aber für solche Ereignisse, die so sehr außerhalb der gewöhnlichen Erfahrung liegen, dass der Täter auch bei der nach den Umständen des Falles gebotenen und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen zuzumutenden Sorgfalt nicht mit ihnen zu rechnen braucht7.
Tritt der Erfolg erst durch das Zusammenwirken mehrerer Umstände ein, so müssen auch diese Umstände für den Täter erkennbar sein, weil nur dann der Erfolg für ihn voraussehbar ist8. Eingetretene Folgen können außerhalb der Lebenserfahrung liegen, wenn sich in den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Täters und dem Erfolg bewusste oder unbewusste Handlungen dritter Personen einschalten9. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Beitrag anderer Personen zum Geschehen in einem gänzlich vernunftwidrigen Verhalten besteht10.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 26. November 2019 – 2 StR 557/18
- vgl. BGH, Urteil vom 20.11.2008 – 4 StR 328/08, BGHSt 53, 55, 58; BGH, Urteil vom 26.05.2004 – 2 StR 505/03, BGHSt 49, 166, 174[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 04.09.2014 – 4 StR 473/13, NJW 2015, 96, 98; BGH, Urteil vom 01.02.2005 – 1 StR 422/04, BGHR StGB § 222 Pflichtverletzung 6 mwN[↩]
- BGH, Urteil vom 03.01.1957 – 4 StR 440/56, BGHSt 10, 121, 123[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 12.09.2019 – 5 StR 325/19 14; vom 17.03.1992 – 5 StR 34/92, NJW 1992, 1708, 1709; vom 02.12.1980 – 1 StR 568/80 5[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 26.11.1975 – 3 StR 166/75 5; BGH, Urteil vom 10.07.1958 – 4 StR 180/58, BGHSt 12, 75, 78[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 20.11.2008 – 4 StR 328/08, aaO, BGHSt 53, 55, 58; BGH, Urteil vom 26.05.2004 – 2 StR 505/03, aaO, BGHSt 49, 166, 174[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 12.09.2019 – 5 StR 325/19, aaO 14; BGH, Urteil vom 20.03.1997 – 5 StR 617/96, NStZ-RR 1997, 269, 270; BGH, Urteil vom 17.03.1992 – 5 StR 34/92, aaO, NJW 1992, 1708, 1709; BGH, Urteil vom 26.11.1975 – 3 StR 166/75, aaO 5; BGH, Urteil vom 10.07.1958 – 4 StR 180/58, aaO, BGHSt 12, 75, 78; BGH, Urteil vom 29.08.1952 – 2 StR 330/52, BGHSt 3, 62, 63 f.[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 10.01.2008 – 3 StR 463/07, BGHR StGB § 222 Vorhersehbarkeit 1; BGH, Beschluss vom 10.05.2001 – 3 StR 45/01 [nicht veröffentlicht]; BGH, Urteil vom 22.11.2000 – 3 StR 331/00, BGHR StGB § 222 Pflichtverletzung 5[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 29.08.1952 – 2 StR 330/52, aaO, BGHSt 3, 62, 63 f.[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 10.07.1958 – 4 StR 180/58, BGHSt 12, 75, 78; BGH, Urteil vom 23.04.1953 – 3 StR 894/52, BGHSt 4, 182, 187[↩]