„Kräutermischungen“ – und die aufgesprühten synthetischen Cannabinoiden

Der Wirkstoff JWH-019 wurde durch die 24. BtMÄndV vom 18.12 20091 mit Wirkung vom 22.01.2010 in die Liste der Anlage II des Betäubungsmittelgesetzes aufgenommen und war deshalb zum jeweiligen Tatzeitpunkt Betäubungsmittel. Der Bundesgerichtshof hat nunmehr den Grenzwert der nicht geringen Menge für JWH-019 auf eine Wirkstoffmenge von 6 Gramm festgesetzt.

„Kräutermischungen“ – und die aufgesprühten synthetischen Cannabinoiden

Hierbei bezieht sich der Bundesgerichtshof auf die in ständiger Rechtsprechung vom Bundesgerichtshof angewandte Methode2. Danach ist der Grenzwert der nicht geringen Menge eines Betäubungsmittels stets in Abhängigkeit von dessen konkreter Wirkungsweise und intensität festzulegen. Maßgeblich ist zunächst die äußerst gefährliche, gar tödliche Dosis des Wirkstoffs3. Fehlen hierzu gesicherte Erkenntnisse, so errechnet sich der Grenzwert als ein Vielfaches der durchschnittlichen Konsumeinheit eines nicht an den Genuss dieser Droge gewöhnten Konsumenten. Das Vielfache ist nach Maßgabe der Gefährlichkeit des Stoffes, insbesondere seines Abhängigkeiten auslösenden oder sonst die Gesundheit schädigenden Potentials zu bemessen4. Lassen sich auch zum Konsumverhalten keine ausreichenden Erkenntnisse gewinnen, so entscheidet ein Vergleich mit verwandten Wirkstoffen5.

Zur Wirkung und zur Gefährlichkeit von JWH-019 hat der Bundesgerichtshof ein Gutachten eingeholt. Danach ergibt sich Folgendes:

Die Wirkstoffe JWH-018 und CP 47,497-C8 waren als Hauptwirkstoffe in den sog. „Spice“-Produkten der ersten Generation enthalten. Nach deren Aufnahme in Anlage II zum Betäubungsmittelgesetz wurden sie in den Nachfolgeprodukten sehr schnell durch JWH-073 ersetzt. Im weiteren Verlauf wurde eine Vielzahl teils geringfügig, teils stärker modifizierter Substanzen in entsprechenden Produkten gefunden. JWH019 [chemische Bezeichnung: (Naphthalin-1-yl)(1-hexyl-1H-indol-3-yl)methanon] wurde erstmals im Oktober 2010 in einer Kräutermischung nachgewiesen. Es handelt sich wie bei JWH-018 um ein nach dem amerikanischen Chemiker H. benanntes vollsynthetisches Aminoalkylindol, das bisher nicht in klinischen Studien am Menschen getestet wurde. Die Erkenntnismöglichkeiten zur pharmakologischen Wirkung der synthetischen Cannabinoide beschränken sich auf einzelne wissenschaftliche Selbstversuche und Fallberichte, in denen neben einer ausführlichen klinischen Beschreibung auch eine umfassende toxikologische Analytik durchgeführt wurde, die einen kausalen Zusammenhang zwischen Wirkstoffaufnahme und Symptomatik belegen. Zudem stehen Daten aus Rezeptorbindungsstudien sowie Ergebnissen aus in vivo-Studien (vor allem am Mausmodell) zur Verfügung, wobei eine Übertragung der daraus gezogenen Schlüsse auf den Menschen nur eingeschränkt möglich ist.

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Nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen wird die Wirkung der synthetischen Cannabinoide wie bei dem Wirkstoff der Cannabispflanze über das Endocannabinoidsystem vermittelt. Diese vergleichbare Wirkungsweise hat trotz unterschiedlicher chemischer Zusammensetzung zur Sammelbezeichnung als synthetische „Cannabinoide“ geführt. Das Endocannabinoidsystem ist nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Wirbeltieren und Fischen vorhanden und an verschiedensten, teilweise sehr komplexen Prozessen beteiligt. Der Wirkstoff bindet an die Cannabinoid-Rezeptoren CB1, der in hoher Dichte im zentralen Nervensystem vorhanden ist, und CB2, der sich vorwiegend in Zellen des Immunsystems findet. Aufgrund der lipophilen Eigenschaften der Substanzen können sie die Blut-Hirn-Schranke ungehindert passieren. Durch die Bindung an den Rezeptor wird die Signalübermittlung in der zugehörigen Zelle aktiviert. Anhand des Ausmaßes der Aktivierung („intrinsische Aktivität“) kann zwischen einem vollen Agonisten und einem nur partiellen Agonisten unterschieden werden.

Anders als der Wirkstoff Tetrahydrocannabinol, der am CB1-Rezeptor nur als partieller Agonist bindet, wirkt JWH-018 dort als voller Agonist. Dies führt dazu, dass dieser Wirkstoff wesentlich stärkere Effekte, auch solche lebensbedrohlicher Art, erzeugen kann. Es tritt – anders als bei Tetrahydrocannabinol – keine Sättigung ein, vielmehr werden die Wirkungen, also auch die unerwünschten Nebenwirkungen durch eine höhere Dosierung verstärkt. JWH-073 hat nicht so starke Wirkungen und ist deshalb ein Teilagonist. Für JWH-019 liegen keine gesicherten Daten vor, der Wirkstoff scheint sich tendenziell ähnlich wie JWH-073 zu verhalten.

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Ein weiterer Unterschied zwischen synthetischen Cannabinoiden einerseits und Tetrahydrocannabinol andererseits liegt in der Potenz, d.h. im Maß der für die zum Erzielen einer Wirkung erforderlichen Dosis. JWH-018 weist gegenüber Tetrahydrocannabinol eine deutlich – etwa drei- bis vierfach – höhere Potenz auf, d.h., dass das Maß der Wirkstärke etwa drei- bis viermal so hoch anzusiedeln ist. Demgegenüber weist der Wirkstoff JWH-073, der sich von JWH-018 chemischstrukturell nur geringfügig unterscheidet, nach bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, insbesondere aufgrund einer Studie an Rhesusaffen, eine eher dem Tetrahydrocannabinol vergleichbare Potenz auf. Mit Blick auf die identische Rezeptoraffinität sowie angesichts des strukturell vergleichbaren Molekülaufbaus von JWH-073 und JWH-019 und des Umstands, dass beide Teilagonisten sind, dürfte JWH-019 eine ähnliche oder gleiche Potenz wie JWH-073 haben.

Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 14.01.20156 vorgesehen – die nicht geringe Menge für das synthetische Cannabinoid JWH-073 auf eine Wirkstoffmenge von sechs Gramm festgesetzt. Dabei hat der 1. Strafsenat die Festsetzung des Grenzwerts der nicht geringen Menge weder an einer äußerst gefährlichen Dosis noch an einer durchschnittlichen Konsumeinheit ausgerichtet, weil zu beiden Mengeneinheiten derzeit keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen. Er hat die nicht geringe Menge vielmehr aus den in jenem Urteil näher dargelegten Gründen durch den Vergleich mit Tetrahydrocannabinol bestimmt7.

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Maßgeblich waren hierfür im Vergleich zu Tetrahydrocannabinol, für das der Grenzwert der nicht geringen Menge bei 7, 5 Gramm Tetrahydrocannabinol – entsprechend 500 Konsumeinheiten à 15 Milligramm – angenommen wird8, die höhere bzw. vergleichbare Potenz des jeweiligen Wirkstoffs, die gesteigerte Gefährlichkeit aufgrund weiter gehender unerwünschter Nebenwirkungen und deren wesentlich höhere Auftretenswahrscheinlichkeit9.

Der Bundesgerichtshof hat sich bei der Bestimmung der nicht geringen Menge des Wirkstoffs JWH-019 dieser Vorgehensweise angeschlossen und den Grenzwert der nicht geringen Menge durch einen Vergleich mit JWH073 auf dieselbe Menge wie bei dieser Substanz festgelegt.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 5. November 2015 – 4 StR 124/14

  1. BGBl. I 2009, 3944[]
  2. vgl. nur BGH, Urteile vom 03.12 2008 – 2 StR 86/08, BGHSt 53, 89; und vom 17.11.2011 – 3 StR 315/10, BGHSt 57, 60[]
  3. BGH, Urteil vom 22.12 1987 – 1 StR 612/87, BGHSt 35, 179[]
  4. BGH, Urteil vom 03.12 2008 – 2 StR 86/08, BGHSt 53, 89[]
  5. vgl. BGH, Urteile vom 24.04.2007 – 1 StR 52/07, BGHSt 51, 318, 322; und vom 17.11.2011 – 3 StR 315/10, BGHSt 57, 60, 64[]
  6. BGH, Urteil vom 14.01.2015 – 1 StR 302/13, BGHSt 60, 134[]
  7. BGH, Urteil vom 14.01.2015 aaO Rn. 47 ff.[]
  8. vgl. BGH, Urteil vom 18.07.1984 – 3 StR 183/84, BGHSt 33, 8[]
  9. BGH, Urteil vom 14.01.2015 aaO Rn. 56 ff., 92 ff.[]
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