Kriegsverbrechen gegen Eigentum – und die Aneignung einer fremden Wohnung

Eine Aneignung im Sinne des § 9 Abs. 1 VStGB besteht in dem auf einen nicht unerheblichen Zeitraum angelegten Entzug einer Sache gegen oder ohne den Willen des Berechtigten1.

Kriegsverbrechen gegen Eigentum – und die Aneignung einer fremden Wohnung

Sie erfordert nicht, dass der Täter die Sache in sein Vermögen überführt oder zumindest den Vorsatz dazu hat2.

Gegenstand der Aneignung können sowohl bewegliche als auch unbewegliche Sachen sein. Insoweit gilt Gleiches wie für das im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH-Statut) kodifizierte Kriegsvölkerstrafrecht.

Der Gesetzgeber wollte mit dem Völkerstrafgesetzbuch die im IStGH-Statut enthaltenden Strafvorschriften in nationales Strafrecht umsetzen3. § 9 Abs. 1 VStGB orientiert sich dementsprechend an Art. 8 Abs. 2 Buchst. b (xvi) und (xiii) sowie Buchst. e (v) und (xii) IStGH-Statut4. Diese Bestimmungen erfassen jede Art von Eigentum, insbesondere sowohl bewegliche als auch unbewegliche Sachen5.

Im vorliegenden Fall war die Inbesitznahme der Wohnung nebst Inventar durch die Beschuldigte darauf angelegt, den Berechtigten diese Sachen ohne deren Willen dauerhaft zu entziehen. Die Berechtigten hatten die Wohnung und deren Einrichtung nur deshalb zurückgelassen, weil sie sich gezwungen gesehen hatten, vor den Truppen des IS zu fliehen. Es war ihnen keineswegs darum gegangen, die ihnen gehörenden Gegenstände anderen Personen, insbesondere Mitgliedern des IS, zu überlassen.

Der Aneignung steht nicht entgegen, dass die Berechtigten im Zeitpunkt der Inbesitznahme der Wohnung durch die Beschuldigte bereits geflohen waren. Denn die Aneignung einer Sache im Sinne des § 9 Abs. 1 VStGB setzt keine Anwesenheit des Berechtigten oder dessen unmittelbare Verfügungsgewalt über den Gegenstand voraus6.

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Auch ist es im Hinblick auf die Aneignung der Wohnung und deren Einrichtung durch die Beschuldigte und ihren Ehemann ohne Belang, dass die Gegenstände zuvor vom IS annektiert worden waren. Der Begriff der Aneignung beschränkt sich nicht auf den Fall der ersten Inbesitznahme der Sache gegen oder ohne den Willen des Berechtigten. Eine solche Einschränkung lässt sich dem Wortlaut des § 9 Abs. 1 VStGB nicht entnehmen. Sie ergibt sich ebenso wenig aus dem allgemeinen Sprachgebrauch; danach wird unter „Aneignung“ vielmehr jede Inbesitznahme bzw. Besitzergreifung verstanden. Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf die erste unberechtigte Inbesitznahme widerspräche überdies dem Schutzzweck der Norm. § 9 Abs. 1 VStGB dient dem umfassenden Schutz des Eigentums, der nur gewährleistet ist, wenn nicht nur die erste, sondern auch jede spätere Aneignung erfasst wird; die Schutzbedürftigkeit des Eigentums erlischt nicht durch die erste Aneignung. Dieses Verständnis liegt auch § 246 Abs. 1 StGB zugrunde, wonach mehrere Täter eine Sache nacheinander unterschlagen können, so dass auch systematische Erwägungen gegen eine einschränkende Auslegung der Vorschrift sprechen.

Die Beschuldigte hat sich die Wohnung nebst Einrichtung hier auch im Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt angeeignet:

Bei den im Tatzeitraum in Syrien stattfindenden Kämpfen zwischen der staatlichen syrischen Armee und oppositionellen Gruppierungen sowie solchen Gruppierungen untereinander handelte es sich um einen bewaffneten Konflikt im Sinne des § 9 Abs. 1 VStGB, und die Tat der Beschuldigten stand damit im Zusammenhang. Der insoweit erforderliche funktionale Zusammenhang ist gegeben, wenn das Vorliegen des bewaffneten Konflikts für die Fähigkeit des Täters, das Verbrechen zu begehen, für seine Entscheidung zur Tatbegehung, für die Art und Weise der Begehung oder für den Zweck der Tat von wesentlicher Bedeutung war; die Tat darf nicht lediglich „bei Gelegenheit“ des bewaffneten Konflikts begangen werden7. Eine Tatausführung während laufender Kampfhandlungen oder eine besondere räumliche Nähe dazu sind hingegen nicht erforderlich8.

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Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Beschuldigte konnte die Wohnung nebst Inventar nur in Besitz nehmen, weil die Berechtigten vor den Truppen des IS fliehen mussten bzw. von diesen vertrieben wurden und die Vereinigung die erbeuteten Sachen ihr und ihrem Ehemann als IS-Mitgliedern zur Nutzung überlassen hatte.

Bei der Wohnung und der Einrichtung handelte es sich um Sachen der gegnerischen Partei, die der Gewalt der eigenen Partei unterlagen.

Der Begriff der „gegnerischen Partei“ ist gleichermaßen auszulegen wie das entsprechende, in § 8 Abs. 6 Nr. 2 VStGB normierte Merkmal9. Danach ist von Folgendem auszugehen:

§ 8 Abs. 6 Nr. 2 VStGB orientiert sich an Art. 4 Abs. 1 des IV. Genfer Abkommens10, wonach Zivilpersonen in Kriegszeiten geschützt sind, die sich im Machtbereich einer an der Auseinandersetzung beteiligten Partei oder einer Besatzungsmacht befinden, deren Angehörige sie nicht sind. Die auf internationale bewaffnete Konflikte zugeschnittene Regelung knüpft im Grundsatz an die Staatsangehörigkeit der Personen an, welche fremder Gewalt unterworfen sind. Da dieses formale Abgrenzungskriterium den Realitäten moderner mit militärischen Mitteln ausgetragener Auseinandersetzungen nicht mehr gerecht wird, haben es der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und ihm folgend der Internationale Strafgerichtshof an die neuen Gegebenheiten angepasst. Nach der Rechtsprechung der internationalen Strafgerichte kommt es darauf an, ob die Opfer bei materieller Betrachtung der jeweiligen Gegenseite zuzurechnen sind11.

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Für den nichtinternationalen bewaffneten Konflikt, an dem häufig nichtstaatliche Akteure derselben Nationalität beteiligt sind, erweist sich die Staatsangehörigkeit ohnehin zumeist nicht als sachgerechtes Kriterium, mit dem der Umfang eines Schutzes nach dem humanitären Völkerrecht sinnvoll festgelegt werden könnte12. Um zu bestimmen, wer als Gegner der Konfliktpartei im nichtinternationalen bewaffneten Konflikt anzusehen ist, bietet es sich vielmehr an, darauf abzustellen, was die Auseinandersetzung prägt. Handelt es sich etwa um einen interethnischen Konflikt, so kommt es maßgeblich auf die ethnische Zugehörigkeit an, im Falle einer religiös motivierten Auseinandersetzung auf die konfessionelle und weltanschauliche Überzeugung13. Bei einer komplexen Bürgerkriegslage unter Beteiligung einer Vielzahl staatlicher und nichtstaatlicher Akteure mit unterschiedlichsten Interessen wie etwa im Fall des syrischen Bürgerkriegs kann bereits diejenige Person einem Gegner zuzurechnen sein, die den Absichten der Konfliktpartei entgegenstehende Ziele verfolgt14.

Daran gemessen ist der IS im Verhältnis zu den Zivilpersonen, die wie die Eigentümer der von der Beschuldigten in Besitz genommenen Wohnung vor den Truppen der Organisation flohen bzw. von IS-Kämpfern im Zuge der Eroberung der Stadt Jarabulus vertrieben wurden, als gegnerische Partei anzusehen. Der innersyrische Konflikt war maßgeblich dadurch geprägt, dass der IS bestrebt war, möglichst große Gebiete des Landes unter seine Kontrolle zu bringen. Dabei ging die Organisation gezielt gegen Zivilpersonen vor, die sich nicht bedingungslos ihrer Ideologie anschlossen oder unterordneten. Die Flucht bzw. Vertreibung der Betroffenen brachte dementsprechend deren Gegnerschaft zum IS zum Ausdruck.

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Nach der Flucht bzw. Vertreibung der Berechtigten gerieten deren 45 Besitztümer in die Gewalt des IS und damit der eigenen Partei der Beschuldigten.

Durch die Inbesitznahme der Wohnung nebst Inventar hat sich die Beschuldigte zudem in erheblichem Umfang Sachen angeeignet.

Durch das Merkmal des erheblichen Umfangs sollen Bagatellfälle aus dem Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 VStGB ausgenommen werden15. Das darf indes nicht dahin missverstanden werden, dass lediglich Petitessen ausgeschieden werden sollen, etwa die Entwendung geringwertiger Sachen im Sinne des § 248a StGB. Es gilt vielmehr Entsprechendes wie für die Bestimmungen des Art. 8 Abs. 2 Buchst. a (iv), Buchst. b (xiii) und Buchst. e (xii) IStGH-Statut, an denen sich § 9 Abs. 1 VStGB nach der Konzeption des Völkerstrafgesetzbuchs orientiert16.

Zur Verwirklichung von Art. 8 Abs. 2 Buchst. b (xiii) und Buchts. e (xii) IStGH-Statut reicht ein vereinzelt gebliebener Eigentumsverstoß ebenso wenig aus wie im Fall des Art. 8 Abs. 2 Buchst. a (iv) IStGH-Statut, der eine Enteignung „großen Ausmaßes“ voraussetzt. Das ergibt sich unter systematischen Gesichtspunkten daraus, dass sich die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 IStGH-Statut auf die Aburteilung der „schwersten Verbrechen“ beschränkt, welche „die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“17. Eine einzelne Eigentumsverletzung als solche erfüllt diese Voraussetzungen nicht ohne weiteres18.

Maßgeblich ist eine wertende Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalls, in deren Rahmen der Wert des betroffenen Eigentums ebenso von Bedeutung ist wie die Schwere der Tatfolgen für das Opfer. Überdies kann von Belang sein, ob wenige oder viele Personen oder ob besonders geschützte und wichtige zivile Objekte, etwa ein Krankenhaus, betroffen sind19.

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Hier fällt insoweit zunächst ins Gewicht, dass Wohnungen oder Häuser regelmäßig einen hohen wirtschaftlichen Wert haben. Ihre Wegnahme berührt zudem die existenziellen Lebensgrundlagen der Betroffenen und hat deshalb schwerwiegende Folgen für diese. Die Vertreibung der Berechtigten im Zuge des bewaffneten Konflikts verleiht der Eigentumsverletzung überdies eine die internationale Gemeinschaft als Ganzes betreffende Unrechtsdimension. Deshalb ist in der Inbesitznahme der Wohnung mitsamt der Einrichtung eine Aneignung von Sachen in erheblichem Umfang zu sehen.

Die Beschuldigte eignete sich die Sachen völkerrechtswidrig an. Das Merkmal der Völkerrechtswidrigkeit ist nicht erfüllt, wenn ein allgemeiner völkerrechtlicher Rechtfertigungsgrund oder ein spezifischer Rechtfertigungsgrund des humanitären Völkerrechts vorliegt20. Das ist hier nicht der Fall.

Schließlich ist nicht ansatzweise ersichtlich, dass die Aneignung durch die Erfordernisse des bewaffneten Konflikts geboten war21.

Im Hinblick auf das Kriegsverbrechen gegen Eigentum folgt die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts aus § 1 VStGB.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 4. April 2019 – AK 12/19

  1. MünchKomm-StGB/Ambos, 3. Aufl., § 9 VStGB Rn. 9; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, 4. Aufl., Rn. 1314[]
  2. Werle/Jeßberger, aaO[]
  3. BT-Drs. 14/8524, S. 12 f.; BGH, Urteil vom 27.07.2017 3 StR 57/17, BGHSt 62, 272 Rn.19[]
  4. BT-Drs. 14/8524, S. 31[]
  5. vgl. ICC, Urteil vom 21.03.2016, Bemba Gombo – ICC01/0501/08, Nr. 115[]
  6. vgl. ICC, Urteil vom 21.03.2016, Bemba Gombo – ICC01/0501/08, Nr. 116[]
  7. Werle/Jeßberger, aaO Rn. 1163 ff.[]
  8. BT-Drs. 14/8524, S. 25; vgl. zu allem BGH, Beschluss vom 17.11.2016 AK 54/16 29[]
  9. BGH, Urteil vom 20.12 2018 3 StR 236/17 92[]
  10. BGH, Urteil vom 20.12 2018 – 3 StR 236/17 80[]
  11. näher dazu BGH, Urteil vom 20.12 2018 3 StR 236/17 85 mwN[]
  12. vgl. BGH, Beschluss vom 17.11.2016 – AK 54/16, Rn. 26[]
  13. vgl. dazu Werle/Jeßberger, aaO Rn. 1186 f. mwN[]
  14. vgl. BGH, Beschluss vom 17.11.2016 – AK 54/16, aaO; Urteil vom 20.12 2018 3 StR 236/17 86[]
  15. BT-Drs. 14/8524, S. 31; MünchKomm-StGB/Ambos, 3. Aufl., § 9 VStGB Rn. 11[]
  16. vgl. BT-Drs. 14/8524, S. 24, 31; MünchKomm-StGB/Ambos, aaO Rn. 11[]
  17. vgl. Werle/Jeßberger, aaO Rn. 1320; MünchKomm-StGB/Ambos, aaO Rn. 8[]
  18. vgl. Werle/Jeßberger, aaO[]
  19. vgl. MünchKomm-StGB/Ambos, aaO Rn. 11; Werle/Jeßberger, aaO Rn. 1321, jeweils mwN[]
  20. vgl. MünchKomm-StGB/Ambos, aaO Rn. 12[]
  21. vgl. zu diesem Merkmal Werle/Jeßberger, aaO Rn. 1323 ff.[]
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