Manipulation der Zuteilungsreihenfolge eines Spenderorgans

Vorsätzliche Falschangaben gegenüber der gem. § 12 Transplantationsgesetz zuständigen Vermittlungsstelle (hier: Stiftung Eurotransplant) können als versuchte Tötung zum Nachteil dadurch übergangener Patienten bewertet werden, wenn der Täter weiß, dass seine Angaben nicht weiter überprüft werden, sie die Zuteilungsreihenfolge so weit beeinflussen, dass es in einem engen zeitlichen Zusammenhang unmittelbar zur Zuteilung eines Spenderorgans kommt und die rettende Transplantationsbehandlung anderer Patienten dadurch lebensbedrohlich verzögert wird. Medizinische oder juristische Bedenken gegenüber dem derzeitigen Verfahren und die Sorge um den eigenen Patienten rechtfertigen oder entschuldigen die Manipulation der Zuteilungsreihenfolge nicht.

Manipulation der Zuteilungsreihenfolge eines Spenderorgans

Besonders in Deutschland übersteigt die Zahl der lebensbedrohlich erkrankten und dringend auf ein Spenderorgan angewiesenen Patienten die Zahl der für eine Transplantation zur Verfügung stehenden Organe deutlich. Gerade weil der Beschuldigte ein besonders befähigter, deshalb erfolgreicher und in eine leitende Position aufgestiegener Transplantationsmediziner ist, konnte er aufgrund seines großen Könnens besonders sicher sein, „seinen Patienten“ den Tod vorerst zu ersparen, wenn denn nur ein geeignetes Organ zur Verfügung steht. Weil aber Operationen aufgrund der Organknappheit fast nie sofort durchgeführt werden können, sondern die Patienten bis zur Zuteilung eines geeigneten Organs regelmäßig geraume Zeit warten müssen, sich währenddessen ihr Gesundheitszustand aber stetig verschlechtert und es deshalb nicht ungewöhnlich ist, dass viele auf der Warteliste stehende Patienten versterben, dürfte es gerade den Beschuldigten besonders belastet haben, den Tod solcher „Wartelistepatienten“ miterleben zu müssen. In dieser Situation fällt es einem Transplantationsmediziner dann einerseits sicher schwer, das Verfahren zur Zuteilung von Spenderorganen zu akzeptieren, und andererseits ist der Anreiz groß, die Zuteilung durch die unrichtige Behauptung einer Dialyse zu beschleunigen. Beides – Empathie und Gelegenheit – bietet dann aber auch den ersten verdachtsbegründenden Ausgangspunkt für die Annahme, dass der Beschuldigte tatsächlich aus Sorge um das Wohl seiner Patienten systematisch die Zuteilung von Spenderorganen bewusst manipuliert hat.

§ 12 Abs. 1 des Transplantationsgesetzes bestimmt, dass die Vermittlungsstelle (also EUROTRANSPLANT) die Organe nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit an geeignete Patienten vermitteln muss. Dies sind aber keineswegs gleichgerichtete Kriterien, sondern sie befinden sich – worauf der Beschuldigte ebenfalls zutreffend hinweist – in einem Spannungsfeld, weil sich die Dringlichkeit am Gesundheitszustand orientiert („je kranker, desto eher“), die Aussichten einer Organübertragung aber höher sind, je besser es um die Gesundheit des Patienten noch steht.

Für Lebertransplantationen bemisst sich der für die Zuteilung der Spenderorgane maßgebliche Rangplatz der Patienten nach dem sog. „MELD-Score“ (MELD = Model for Endstage Liver Disease – etwa: Rangpunktemodell für Lebererkrankungen im Endstadium), in den drei Laborwerte (Kreatinin, Bilirubin und Blutgerinnungswert – INR) der Patienten eingehen, die nach medizinischem Erkenntnistand eine Aussage über den Schweregrad und das Stadium der Erkrankung und damit eine Einschätzung der verbliebenen Lebenserwartung zulassen. Der nach der maßgeblichen Berechnungsformel erreichbare höchste Punktwert ist „MELD-40“, der einem solchen Schweregrad der Lebererkrankung entspricht, dass mit 98%-Wahrscheinlichkeit ohne lebensrettende Transplantation innerhalb der nächsten drei Monate der Tod des Patienten erwarten werden muss.

In seiner Beschwerdebegründung führt der Beschuldigte hierzu aus, dass Patienten mit „echtem“ MELD-Score 40 in der Regel eine deutlich höhere Sterblichkeit nach der Transplantation haben, als Patienten z.B. mit 30 MELD-Score Punkten, und sie deshalb nach Erreichen des Maximalwertes „mit großer Regelmäßigkeit das transplantierte Organ mit ins Grab nehmen“, woraus viele frustrierte Transplantationsmediziner ableiten würden, dass eine Organzuteilung bei einem MELD-Wert von schon 30 – 35 wegen der dann wesentlich besseren Überlebenswahrscheinlichkeit medizinisch sinnvoller wäre.

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Bedenkt man diese auch beim Beschuldigten in allen seinen Schriftsätzen erkennbar werdende Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zuteilungsverfahren, ist es bis zu dessen Manipulation nur noch ein kleiner Schritt:

Für die Beweiswürdigung ist es insoweit bedeutsam, dass für den Kreatininwert ein Höchstwert (4 mg/dl) festgelegt ist und dieser, auch wenn die Blutwerte tatsächlich niedriger liegen, in die Berechnung des MELD-Scores eingestellt wird, wenn der Patient sich einer Dialyse unterziehen muss. Dies hat den medizinischen Hintergrund, dass die Nierenersatztherapie (Dialyse o.ä.) zu einer Verringerung des Kreatinwertes führt, obwohl sich die Leberfunktion tatsächlich gar nicht verbessert hat.

Die an EUROTRANSPLANT gemeldeten Parameter müssen, andernfalls der MELD-Score auf den Wert 6 zurückgesetzt wird und der erreichte Rangplatz auf der Warteliste verloren ist, fortlaufend in durch den erreichten Stand des MELD-Scores bestimmten Intervallen – ab MELD-Score 25 = Rezertifizierung jeweils nach 7 Tagen – durch zu übersendende Laborbefunde aktualisiert werden. Dadurch wird der Verlauf der Erkrankung fortlaufend überwacht und gemeldete Werte können vor Zuteilung eines Transplantats auf Plausibilität überprüft und auf Fehlmessungen beruhende Werte zugleich eliminiert werden. Das Fälschen von Laborwerten würde daher mit großer Wahrscheinlichkeit auffallen, zumal dazu Laborkräfte in die Manipulationskette eingebunden werden müssten.

Für die Meldung einer Dialysebehandlung genügte es im Tatzeitraum (2009 – 2011) demgegenüber, auf der elektronischen Eingabemaske (Meldeformular) an EUROTRANSPLANT unter der Rubrik „RRT 2xWk“ (Renal Replacement therapy = Nierenersatzbehandlung 2-mal die Woche) ein „Y“ (Yes = Ja) zu setzen, und schon wurde einer der maßgeblichen Parameter auf den Höchstwert gesetzt und der MELD-Score stieg. Ob es eine Nierenersatzbehandlung tatsächlich gegeben hatte, musste gegenüber EUROTRANSPLANT weder belegt werden noch wurde dies weiter überprüft, so dass sich hinzuerfundene Dialysen für Manipulationen geradezu angeboten haben. Die dem entgegenstehende Regel, dass auf der Meldemaske angegeben werden muss, welcher Arzt für die Indikation zur Nierenersatztherapie verantwortlich ist und welche Funktion er in der Klinik hat, wodurch sichergestellt werden soll, dass neben dem Transplantationsarzt ein weiterer, unabhängiger Arzt in die Beurteilung einbezogen und namentlich benannt wird, wurde erst ab Juli 2012 eingeführt.

Rechtliche Bewertung der Falschmeldungen an EUROTRANSPLANT

Vorsätzliche Falschangaben gegenüber der gem. § 12 Transplantationsgesetz zuständigen Vermittlungsstelle (hier: Stiftung EUROTRANSPLANT) können als versuchte Tötung zum Nachteil dadurch übergangener Patienten bewertet werden, wenn der Täter weiß, dass seine Angaben nicht weiter überprüft werden, sie die Zuteilungsreihenfolge so weit beeinflussen, dass es in einem engen zeitlichen Zusammenhang unmittelbar zur Zuteilung eines Spenderorgans kommt und die rettende Transplantationsbehandlung anderer Patienten dadurch lebensbedrohlich verzögert wird.

Dass andere auf eine Leberspende angewiesene Kranke aufgrund der Manipulation der Zuteilungsreihenfolge tatsächlich verstorben sind, ist schon deshalb nicht feststellbar, weil entsprechende Daten und Auskünfte aus Gründen des Datenschutzes (bislang) nicht vorliegen. Der Senat teilt jedoch die rechtliche Auffassung der Strafkammer, dass der Beschuldigte auf der Grundlage des gegenwärtig erzielten Ermittlungsstandes dringend verdächtig ist, es immerhin für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen zu haben, dass auf der Warteliste durch seine Manipulationen überholte Kranke vor einer rettenden Transplantation versterben, er also mit Tötungsvorsatz gehandelt hat und damit wegen versuchten Totschlags (in jetzt noch acht Fällen) zur Verantwortung zu ziehen sein dürfte.

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Der Versuch des Totschlags ist strafbar (§§ 212, 12 Abs. 1, 23 Abs. 1 StGB) und § 22 StGB bestimmt, dass eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestands unmittelbar ansetzt. Als (nur) gewollte Tat erfordert der Versuch das Vorliegen des vollen subjektiven Tatbestands, d.h. die Vorstellung des Täters muss darauf gerichtet sein, den jeweiligen Tatbestand zu verwirklichen1.

Der Beschuldigte hat vorliegend mit Tötungsvorsatz gehandelt. Da für den Tatbestand des Totschlags bedingter Vorsatz genügt, reicht dieser auch für die Annahme der Versuchsstrafbarkeit aus2. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dabei voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt (Wissenselement), ferner dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet (Willenselement)3.

Das Wissens- oder das Willenselement des Eventualvorsatzes kann gleichwohl im Einzelfall fehlen, so etwa, wenn dem Täter, obwohl er alle Umstände kennt, die sein Vorgehen zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, das Risiko der Tötung aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung zur Tatzeit nicht bewusst ist (Fehlen des Wissenselements) oder wenn er trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut (Fehlen des Willenselements). Die Beurteilung, ob vorsätzliches Verhalten vorliegt, hat dabei auf der Grundlage einer Betrachtung aller objektiven und subjektiven Tatumstände zu erfolgen4. Dabei kommt im vorliegenden Fall hinzu, dass zur bewussten Tötung eines Menschen eine erhöhte Hemmschwelle überwunden werden muss (Fischer, StGB 60. Aufl., Rdnr. 13f zu § 212; mit zahlreichen RsprNw.), die mehr als sonst die Annahme nahelegt, dass auch objektiv gefährliche Tathandlungen im Vertrauen auf ein Ausbleiben des Taterfolgs erfolgt sind. Und weil vorliegend zudem ein Arzt Täter gewesen sein soll, dem man schon grundsätzlich unterstellen kann, dass das Wohl der Patienten jeweils im Vordergrund steht, sind zur Feststellung eine vorsätzlichen Schädigung von Leib oder Gesundheit eines Menschen noch höhere Hürden zu überwinden, weil derartige Handlungen eines Arztes zum Nachteil von Patienten nach der Lebenserfahrung regelmäßig die Ausnahme darstellen (vgl. bspw. BGH, Urteil vom 26.06.2003 – 1 StR 269/02; BGHSt 56, 277).

An die Annahme eines auch nur bedingten Vorsatzes sind somit im vorliegenden Fall ganz besonders hohe Maßstäbe anzulegen. Gleichwohl liegen diese Voraussetzungen vorsätzlichen Handelns vor.

Eine Betrachtung aller Tatumstände führt zunächst dazu, dass auf der Grundlage des bisherigen Ermittlungsergebnisses mit dringender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass es der Beschuldigte für möglich gehalten hat, infolge seiner Manipulationen könnten andere Menschen sterben (Wissenselement). Dass eine Manipulation der Wartelistenrangfolge die rettende Operation aller zuvor auf einem besseren Listenplatz stehenden Patienten verzögert, liegt auf der Hand und muss nicht weiter erörtert werden.

Dass diese Verzögerung dann die Gefahr begründet, dass die übergangenen Kranken womöglich sogar vor der in Aussicht genommenen rettenden Transplantation sterben, beruht auf dem die Organzuteilung bestimmenden MELD-Score-System, weil dieses gerade den Schweregrad der Erkrankung des Patienten und damit die Dringlichkeit einer Operation wiedergibt (vgl. Bader, Organmangel und Organverteilung, S. 260). Dies steht im Einklang mit den Richtlinien der BÄK, nach denen gerade Patienten, die ohne Transplantation unmittelbar vom Tod bedroht sind, bei der Organvermittlung vorrangig berücksichtigt werden5. Ein MELD-Score von 30 prognostiziert dem Patienten ohne Transplantation dabei eine (statistische) Überlebenswahrscheinlichkeit (bezogen auf die nächsten drei Monate) von immerhin noch 51%, während sie nach Erreichen des Höchstwertes von 40 dann nur noch 2% beträgt. Jeder Tag, jede Stunde, sogar jede Minute sind also gerade für die schwerstkranken Patienten, die ohne neue Leber jederzeit sterben können, lebenswichtig, und jede Verzögerung, sei sie noch so gering, bringt sie dem Tod unmittelbar näher.

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Gerade der Beschuldigte wusste dies alles, wofür einen Beleg auch die Beschwerdebegründung liefert, wenn es dort heißt, dass es für den Beschuldigten „von überragender Bedeutung war, dass in den Fällen 1. bis 9. die (eigenen) Patienten ohne die sofortige Transplantation eine Lebenserwartung von nur wenigen Tagen bis zu maximal 1 – 2 Wochen gehabt hätten und ohne das neue Organ alle längst verstorben wären“. Diese Patienten hatten aber den für die Zuteilung maßgeblichen MELD-Score von 40 noch gar nicht erreicht, standen dem Tode also noch ferner als diejenigen – anonymen – Patienten, an denen sie durch die Manipulation des Rangplatzes vorbeizogen. Wenn der Beschuldigte gleichwohl schon seine eigenen Patienten unmittelbar vom Tode bedroht sah, dann erkannte er auch, dass die Gefahr, noch vor der rettenden Organübertragung zu versterben, bei den überholten Wartelistekandidaten aufgrund des bei ihnen höheren „echten“ MELD-Scores noch deutlich größer war und sich jederzeit gerade aufgrund der bewirkten Verzögerung realisieren konnte.

Da auch eine nur ganz geringfügige Lebensverkürzung für die Annahme eines Totschlags ausreicht6, setzt die absichtliche Manipulation der EUROTRANSPLANT-Warteliste also eine – für die Annahme des Tatbestands – geeignete (Todes-) Ursache. Die vom Beschuldigten hierzu vorgenommenen Berechnungen und angestellten Überlegungen, mit denen belegt werden soll, dass die übergangenen Patienten nur Stunden oder maximal wenige Tage länger auf die rettende Transplantation warten mussten, sind daher ohne Belang.

Ebenso kommt es für die Beurteilung der Vorsatzfrage aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen nicht darauf an, ob die unrichtige Meldung des Patienten Wenzel als Dialysepatienten den MELD-Score gar nicht mehr beeinflussen konnte, weil schon der wahre Kreatininwert über dem Höchstwert von 4 mg/dl gelegen habe. Zum einen sind hypothetische Kausalverläufe unbeachtlich6 und zum anderen waren diese Werte bei EUROTRANSPLANT noch gar nicht überprüft worden, bevor dies aufgrund der falschen Dialysemeldung dann entbehrlich wurde. Hinzu kommt, dass auch ein untauglicher Versuch strafbar wäre (§ 23 Abs. 3 StGB).

Kann somit auf der Grundlage des bisher erreichten Ermittlungsstandes die intellektuelle Seite des Vorsatzes mit dringender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, gilt dies auch für dessen voluntative Seite. Es ist dringend wahrscheinlich, dass der Beschuldigte in jedem einzelnen Fall billigend in Kauf genommen hat, dass jeweils eine oder mehrere Personen, die aufgrund ihrer Erkrankung sonst bevorzugt ein Organ hätten bekommen sollen, ein Organ nicht mehr rechtzeitig erhalten und infolgedessen versterben.

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Gerade die große Sorge des Beschuldigten um seine eigenen Patienten einerseits, andererseits seine – allerdings durch objektive Umstände nicht belegbare – Annahme, dass auch die anderen Transplantationsmediziner die Warteliste ebenso manipulieren, und seine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Zuteilungsverfahren sowie die Anonymität der möglichen Tatopfer haben die einer Tötung grundsätzlich entgegenstehende Hemmschwelle so weitgehend herabgesetzt, dass sie der Annahme, der Beschuldigte habe als Arzt den Tod anderer Menschen billigend in Kauf genommen, nicht mehr entgegensteht. Die Argumentation des Beschuldigten zum „Tötungsvorsatz im Medizinstrafrecht“ oder zur „Hemmschwellenlehre“ geht dabei am vorliegenden Fall vorbei, weil es hier gerade nicht um eine Tötung eigener Patienten geht, sondern um fremde und zudem anonyme Menschen, die ebenfalls auf die nicht in genügender Zahl vorhandenen Spenderorgane zugreifen wollen und dadurch den eigenen Patienten, denen der Arzt mit aller Macht helfen will, womöglich die Chance auf ein Weiterleben nehmen. Die Sorge um das Wohl des eigenen Patienten, die – völlig zu Recht – im Medizinstrafrecht als gegen einen Tötungsvorsatz sprechend herausgestellt wird, kehrt im vorliegenden Fall somit aufgrund der Organknappheit geradezu als vorsatzbegründendes Element wieder. Denn hier begründet die Nähe zum eigenen Patienten, von dem man genau weiß, dass man ihm mit Erfolg helfen könnte, ein von Mitgefühl getragenes Engagement auf der einen Seite, während auf der anderen Seite nur ein Rangplatz auf der Warteliste steht, hinter dem sich ein anonymer nur durch eine Nummer individualisierbarer Mensch verbirgt, an dessen Schicksal man keinen Anteil nimmt.

Im Übrigen setzt „Billigen“ im Rechtssinne keine positive Einstellung des Täters zu dem als mögliche Folge seines Handelns erkannten Erfolg voraus. Das Merkmal ist auch dann erfüllt, wenn dem Täter der Tod des Opfers an sich höchst unerwünscht ist, er aber gleichwohl handelt, um das von ihm angestrebte und höher bewertete Ziel – hier: das Leben der eigenen Patienten – zu erreichen7, er sich also um des erstrebten eigenen Zieles willen mit der eigentlich unerwünschten Folge abfindet8.

Der Beschuldigte hatte zudem jederzeit die Möglichkeit, über das sog. ENIS-System den Listenplatz und den MELD-Score der eigenen Patienten sowie die Anzahl der ihnen vorgehenden fremden Patienten einzusehen, so dass er auch erkannt hatte, wie viele Rangplätze durch die Manipulation jeweils gutgemacht wurden. Damit gibt es insgesamt keine tragfähige Grundlage für die Annahme, dass der Beschuldigte darauf vertraut haben könnte, dass es auch die auf der Rangliste überholten Patienten schon noch bis zur Transplantation schaffen werden. Soweit der Beschuldigte dies jetzt anders darstellt und behauptet, dass ein Transplantationschirurg immer darauf vertraut, dass Patienten, die sich durch die Manipulation eines einzelnen „Konkurrenten“ auf der Warteliste nur um einen Punkt (gemeint ist wohl: Rangplatz) verschlechtern, nicht ohne Weiteres an akutem Organmangel versterben, sondern dass Patienten mit einem hohem MELD-Score nur deshalb der Tod ereilt, weil sie nicht mehr transplantabel sind und ihnen auch mit einem Spenderorgan nicht mehr geholfen werden könnte, findet sich für diesen angeblichen Erfahrungssatz im eigenen Verhalten des Beschuldigten keinerlei Beleg. Würde man den Beschuldigten hier beim Wort nehmen, dann hätte er eigene Patienten mit einem „echten“ MELD-Score 40 nicht mehr transplantiert. Dass er in allen Fällen, in denen er zum Wohle seiner Patienten auch nach Erreichen dieses Wertes erfolgreich operiert hat, vorher die Organzuteilung manipuliert hat (und es deshalb gut gegangen ist), will der Beschuldigte sicherlich nicht ernsthaft behaupten. Vorgeworfen wird ihm dies bislang jedenfalls nicht.

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Hinzu kommt auch noch die Überlegung, dass das Erreichen des höchsten Listenplatzes nicht zwangsläufig bedeutet, auch das nächste Spenderorgan zu erhalten; vielmehr muss das Transplantat nach allen Gewebe- und sonstigen Merkmalen für den Empfänger tauglich sein, so dass eine durch Fremdmanipulation vereitelte Chance durchaus auch eine längere Wartezeit bedeuten kann. Im Übrigen wurde durch die Manipulationen nicht jeweils nur ein anderer Kranker auf der Warteliste überholt, sondern es wurden regelmäßig mehrere Rangplätze gutgemacht, also die rettende Transplantation mehrerer Menschen hinausgeschoben. Angesichts dieser Unwägbarkeiten, auf die der Beschuldigte keinerlei Einfluss mehr hatte, gibt es keine Anknüpfungspunkte, an denen man ein vorsatzausschließendes Vertrauen auf das Ausbleiben des Taterfolgs festmachen könnte. Das bloße Hoffen auf einen glücklichen Ausgang oder selbst ein vages Vertrauen darauf würden aber gerade noch nicht genügen, um die Wissensseite des Vorsatzes entfallen zu lassen. Vielmehr ist dazu ein „ernstes Vertrauen“ erforderlich, das in einem entsprechenden Erfahrungssatz („dass es doch immer gut geht oder gut gegangen ist“) eine Stütze findet. Angesichts dessen, dass im Jahr 2011 immerhin 444 auf der Warteliste geführte deutsche Patienten vor der rettenden Transplantation verstorben sind und 164 davon einen MELD-Score höher/gleich 30 hatten (siehe Jahresbericht EUROTRANSPLANT 2011), wäre noch nicht einmal die vage Hoffnung, dass „es schon gut gehen wird“, berechtigt gewesen.

Der Beschuldigte hat zur Tatbestandsverwirklichung auch unmittelbar angesetzt, wovon man bei Handlungen des Täters spricht, die nach seiner Vorstellung der Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals unmittelbar vorgelagert sind und im Falle ungestörten Fortgangs ohne Zwischenakte in die Tatbestandshandlung unmittelbar einmünden sollen9. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil jede falsch gemeldete Dialyse eine Organzuteilung an den eigenen Patienten bewirken sollte (und hat), damit unmittelbar die Todesgefahr für die anderen (fremdem) Patienten begründet wurde und insoweit der weitere Verlauf und Ausgang für den Beschuldigten nicht mehr steuerbar und auch nicht mehr rückgängig zu machen war.

Das Verhalten des Beschuldigten war, wiederum beurteilt auf der Grundlage des vorläufig erreichten Ermittlungsergebnisses, auch rechtswidrig.

Eine Rechtfertigung wegen Nothilfe gem. § 32 StGB scheidet aus, weil die anderen Patienten trotz der auf der Organknappheit beruhenden Konkurrenzsituation keine Angreifer der vom Beschuldigten behandelten Patienten sind. Dass Patienten mit einem MELD-Score von 40 in der Regel eine deutlich höhere Sterblichkeit nach der Transplantation haben als Patienten mit einem geringeren Zuteilungswert, rechtfertigt, auch wenn das Zuwarten die Chancen der eigenen Patienten auf ein Überleben der Erkrankung deutlich verschlechtert, schon deshalb keine Eingriffe in das Verteilungssystem, weil das Leben des Menschen nach dem Grundsatz des absoluten Lebensschutzes in jeder Phase ohne Rücksicht auf die verbliebene Lebenserwartung den ungeteilten Schutz der Rechtsordnung genießt10.

Die beim Beschuldigten offenbar vorhandene Vorstellung, einem Patienten mit besserer Lebenserwartung zu Lasten eines Menschen mit geringerer Lebenserwartung helfen zu dürfen, widerspricht auch sonst der Rechtsordnung, weil bei einer – wie hier gegebenen – Gleichwertigkeit von Rechtsgütern eine Notstandslage (§ 34 StGB) stets ausscheidet11. Die Manipulationen wären deswegen auch dann nicht gerechtfertigt, wenn die Befürchtung des Betroffenen zutreffend sein sollte, dass – wofür es nach den Erkenntnissen der BÄK aber keinen Beleg gibt – auch an den anderen Transplantationszentren gleichermaßen manipuliert wird. Denn auch dann würden sich alle auf der Warteliste geführten Patienten noch immer in einer grundsätzlich gleichen Lage befinden. Zwar steht dem Arzt ein Auswahlermessen zu, wenn eine nur begrenzt verfügbare Ressource (hier: „Spenderlebern“) bei ärztlichen Behandlungen zur Prioritätensetzung zwingt12, dieses auszuüben, also den geeigneten Empfänger auszuwählen, war aber gerade nicht Aufgabe des über die Krankheitsgeschichte der anderen Patienten gar nicht informierten Beschuldigten, sondern stand jeweils allein EUROTRANSPLANT zu.

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Dass auch von einem entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) nicht ausgegangen werden kann, folgt schon daraus, dass der Beschuldigte mit seinen Manipulationen keinen Angehörigen oder ihm nahestehenden Personen helfen wollte.

Abschließend steht der Annahme dringenden Tatverdachts wegen eines Tötungsdeliktes auch nicht entgegen, dass die Zuteilungsregeln womöglich der Gesetzgeber hätte festlegen müssen (fehlende parlamentarische Legitimation – vgl. Beschwerdebegründung vom 22.01.2013, Seite 14 ff) und das gegenwärtige auf dem MELD-Score beruhende Zuteilungsverfahren für Lebertransplantate möglicherweise fehleranfällig und manipulierbar ist.

Diese Bedenken machen die geltenden Verteilungsregeln schon deshalb nicht obsolet, weil alle mit Lebertransplantationen befassten Transplantationszentren sich genau diesem Verteilungsverfahren unterworfen haben. Weil etwaige Fehler daher alle wartenden Patienten gleichermaßen treffen, können sie deshalb schon grundsätzlich nicht die Rechtfertigung dafür sein, die Patienten anderer Transplantationszentren zu benachteiligen und dadurch in Todesgefahr zu bringen.

Oberlandesgericht Braunschweig, Beschluss vom 20. März 2013 – Ws 49/13

  1. Schönke/Schröder, StGB 28. Aufl. Rdnr. 3 zu § 22[]
  2. Fischer, StGB 60. Aufl., Rdnr. 8a zu § 22 und Rdnr. 6 zu § 212[]
  3. BGH, Urteil vom 09.05.1990 – 3 StR 112/90, BGHR StGB § 15 Vorsatz, bedingter 7 m. w. N.[]
  4. vgl. BGH, Urteile vom 04.11.1988 – 1 StR 262/88, BGHSt 36, 1, 9 f., vom 20.12.2011 – VI ZR 309/10, WM 2012, 260, 262; und vom 21.12.2011 – 1 StR 400/11; vgl. zusammenfassend zuletzt BGH, Urteile vom 23.02.2012 – 4 StR 608/11; und vom 22.03.2012 – 4 StR 558/11, jeweils mit zahlreichen weiteren RsprNw; Fischer, StGB 60. Aufl., Rdnr. 9ff zu § 15[]
  5. vgl. Richtlinien für die Wartelistenführung und Organvermittlung zur Lebertransplantation, S. 6[]
  6. Fischer, StGB 60. Aufl., Rdnr. 3a zu § 212[][]
  7. Fischer, StGB 60. Aufl. Rdnr. 9b zu § 15 mit zahlreichen w. Nachw.[]
  8. BGH, NStZ 2003, 604[]
  9. Fischer, StGB 60. Aufl., Rdnr. 10f zu § 22; mit zahlr. Nachw. aus der Rspr.[]
  10. vgl. BGHSt 21, 59, 61; Leipziger Kommentar/Jähnke, StGB 11. Aufl., Rdnr. 5 Vor § 211[]
  11. BGHSt 48, 255, 257; Schönke-Schröder/Perron, StGB 28. Aufl., Rdnr. 23f zu § 34[]
  12. vgl. Leipziger Kommentar/Jähnke, StGB 11. Aufl., Rdnr. 19 Vor § 211; Schönke-Schröder/Eser, StGB 28. Aufl., Rdnr. 30 Vorbem. zu §§ 211 ff.[]