Nachträgliche Verlängerung der Bewährungszeit

Eine nachträgliche Verlängerung der Bewährungszeit schließt sich rückwirkend an das ursprüngliche Ende der Bewährungszeit an. Eine nach Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und vor Erlass eines Verlängerungsbeschlusses begangene, in die zwischenzeitlich verlängerte Bewährungszeit fallende Straftat kann auch dann nicht zum Anlass für einen Widerruf der Bewährung genommen werden, wenn der Verurteilte aufgrund eines gerichtlichen Hinweises wegen einer innerhalb der ursprünglichen Bewährungszeit begangenen Straftat mit deren Verlängerung rechnen musste.

Nachträgliche Verlängerung der Bewährungszeit

Zwar kann die Bewährungszeit in zulässiger Weise infolge der Nachverurteilung wegen einer innerhalb der Bewährungszeit begangenen Straftat auch nach ursprünglichem Ablauf verlängert werden. Auch schließt sich diese Verlängerung nach der herrschenden Auffassung rückwirkend an das ursprüngliche Ende der Bewährungszeit an1.

Dies führt aber dennoch nicht dazu, dass der Verurteilte im Sinne des § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB bei Begehung der Straftaten nach Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit – und vor Ausspruch der Verlängerung – unter laufender Bewährung stand. Vielmehr gilt die Zeit zwischen dem Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und bis zur Verlängerung insoweit als bewährungsfreie Zeit.

Ein Widerruf wegen Straftaten, die in solch einen Zwischenzeitraum fallen, ist nach herrschender Meinung2 nicht möglich.

Soweit das Oberlandesgericht Oldenburg im Jahr 20073 noch die gegenteilige Auffassung vertreten hat, die einen Widerruf zumindest dann für zulässig hält, wenn der Verurteilte zum Zeitpunkt seiner neuerlichen Verfehlung – wie hier – mit einer Verlängerung der Bewährungszeit rechnen musste4, hält er hieran nicht fest5.

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Für die gegenteilige Auffassung mag zwar gerade die auch hier angenommene Rückwirkung einer nach Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit ergangenen Verlängerungsentscheidung sprechen. Denn von diesem Ausgangspunkt erscheint es auf den ersten Blick nur konsequent, Folge der Rückwirkung dann auch sein zu lassen, dass Verfehlungen in dem Zeitraum zwischen ursprünglichem Ende der Bewährungszeit und vor Verlängerung tatsächlich auch Anknüpfungspunkt für einen Widerruf sein können6. Allerdings ist auch nach dieser Auffassung ein Widerruf nur dann zulässig, wenn ein grundsätzlich schutzwürdiges Vertrauen des Verurteilten, Straftaten zwischen ursprünglichem Ablauf der Bewährungszeit und vor Verlängerung derselben seien nicht „in der Bewährungszeit“ (§ 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB) begangen und damit auch nicht als Bewährungsversagen zu qualifizieren, noch vor Begehung der neuen Straftaten durch Maßnahmen des aufsichtführenden Gerichts zerstört worden ist. Solch eine Maßnahme wäre etwa die Zusendung eines Anhörungsschreibens zur beabsichtigten Verlängerung der Bewährungszeit.

Dennoch folgt das Oberlandesgericht Oldenburg mit der herrschenden Meinung dieser Auffassung nicht.

Es erscheint bereits fraglich, ob etwa der Zugang eines Anhörungsschreibens zur Verlängerung wirklich ein schutzwürdiges Vertrauen des Verurteilten beseitigt, der dann zwar mit der Verlängerungsentscheidung als solcher rechnen muss, aber nicht ohne Weiteres auch mit deren – zumal umstrittener – Rückwirkung7, und sich deshalb nicht ohne Grund als „zwischenzeitlich bewährungsfrei“ ansehen wird. Auch begegnet diese Auffassung rechtsstaatlichen Bedenken. Zwar wird nicht im unmittelbaren Sinne von Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz und § 1 StGB ein Sachverhalt erst nachträglich unter Strafe gestellt, der zuvor keinen Tatbestand erfüllt hat. Zum Nachteil des Verurteilten wird es aber in bedenklichem Ausmaß ermöglicht, durch die nachträgliche Verlängerungsentscheidung des Gerichts einen bereits in sich abgeschlossenen Lebenssachverhalt einer gänzlich geänderten Beurteilung zuzuführen, indem die Straftat erst nach ihrer Begehung als „in die Bewährungszeit“ fallend und damit als Bewährungsversagen qualifiziert wird, obwohl sie es im Augenblick ihrer Begehung mangels Verlängerungsentscheidung noch nicht war. Auch sprechen rechtsstaatliche Erwägungen dagegen, an die – insbesondere zur Vermeidung überlanger Bewährungszeiten, also gerade zugunsten des Verurteilten angenommene – Rückwirkungsfiktion an anderer Stelle wiederum schwerwiegende negative Sanktionen zu knüpfen8.

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Nach dieser Auffassung führte letztlich allein eine – wenn auch zutreffende – Erwartung des Verurteilten, es werde trotz Ablaufs der Bewährungszeit zu einer Verlängerung kommen, bereits ohne jede Entscheidung des Gerichts zu einer faktischen Verlängerung, die dann Grundlage eines Widerrufs würde, wenn der Verurteilte – trotz Erwartung der Verlängerung – in dieser Zeit ein weiteres Mal straffällig wird.

Eine solche „faktische Bewährungszeit“ widerspricht ferner dem gerade im Strafrecht nicht nur für den Betroffenen bestehenden Bedürfnis nach Rechtssicherheit. Denn die Möglichkeit eines Widerrufs der Strafaussetzung wäre davon abhängig, ob eine Vertrauen zerstörende Maßnahme des Gerichts, wie etwa ein Anhörungsschreiben zur beabsichtigen Verlängerung oder gar der bloße Hinweis auf einen im Hinblick auf eine noch nicht rechtskräftig abgeurteilte Straftat zunächst noch zurückgestellten Straferlass, den Verurteilten vor Begehung der neuerlichen Straftat – sowohl postalisch, als auch intellektuell – auch erreicht hat. Denn gerade die Frage, ob der Verurteilte auch tatsächlich in der Lage gewesen ist, dem Zugang eines solchen Schreibens ohne jeden persönlichen Kontakt zum Gericht und ggfs. zum Bewährungshelfer, dessen Leitung er faktisch nicht mehr untersteht, sowie ohne anwaltliche Unterstützung die gewünschte Bedeutung beizumessen, wird oftmals nicht eindeutig zu beantworten sein. Zudem bleibt zweifelhaft, ob ein etwaiges Vertrauen des Verurteilten im obigen Sinne bereits allein durch den – nachzuweisenden – Zugang eines solchen gerichtlichen Schreibens, also die bloße Möglichkeit der inhaltlichen Kenntnisnahme, zerstört sein soll, was äußerst bedenklich erschiene, oder nur dadurch, dass der Verurteilte das Schreiben auch wirklich liest.

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Solche Unwägbarkeiten gilt es nach Auffassung des OLG Oldenburg zu vermeiden und dies gelingt im Ergebnis nur der herrschenden Auffassung, die jegliches Anknüpfen eines Bewährungswiderrufs an in die „bewährungsfreie“ Zeit fallendes Fehlverhalten ablehnt und sich damit allein als rechtssicher und praktikabel erweist.

Die dadurch gerade im vorliegenden Fall eintretende Folge, dass demnach selbst einschlägige Straftaten bewährungsrechtlich sanktionslos bleiben können, obwohl gerade kein Straferlass erfolgt ist, muss zugunsten der größeren Rechtssicherheit hingenommen werden.

Oberlandesgericht Oldenburg, Beschluss vom 4. Dezember 2013 – 1 Ws 635/13 – 1 Ws 636/13

  1. siehe etwa OLG Oldenburg, Beschluss vom 24.07.2009, 1 Ws 404/09; OLG Hamm, NStZ-RR 2010, 127, 128 m.w.N.; OLG Frankfurt, NStZ-RR 2008, 221, 222; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 56f, Rn. 17c[]
  2. KG Berlin, 2 Ws 176/09; OLG Frankfurt, 3 Ws 331/08; OLG Köln, 2 Ws 37/06; Thüringer Oberlandesgericht, 1 Ws 41/07 – jeweils bei juris – sowie Fischer, StGB, 60. Aufl., § 56f, Rn. 3a und Stree/Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 56f, Rn. 11, jeweils m.w.N.[]
  3. OLG Oldenburg, Beschluss vom 20.09.2007 – 1 Ws 513/07 und 1 Ws 514/07[]
  4. so etwa auch OLG Düsseldorf – 3 Ws 50/05; OLG Hamm – 3 Ws 386/09; OLG Rostock – 1 Ws 335/10[]
  5. so bereits – dort allerdings nicht tragend – OLG Oldenburg, Beschlüsse vom 24.07.2009 – 1 Ws 404/09, und 27.02.2012, 1 Ws 90/12[]
  6. so etwa OLG Hamm, 3 Ws 386/09[]
  7. so zutreffend KG Berlin, 2 Ws 176/09, Rn.19 – bei juris[]
  8. so auch OLG Frankfurt, 3 Ws 331/08[]
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