Nicht eingelegtes Rechtsmittel führt zu menschenunwürdige Haftbedingungen

Mit der Frage der Kausalität zwischen der Nichteinlegung eines Rechtsmittels und dem Schadenseintritt bei menschenunwürdigen Haftbedingungen in einer Justizvollzugsanstalt hatte sich jetzt der Bundesgerichtshof im Rahmen einer Amtshaftungsklage zu befassen.

Nicht eingelegtes Rechtsmittel führt zu menschenunwürdige Haftbedingungen

Der Kläger, der u.a. in der Zeit von Juni 2006 bis März 2007 in der JVA D. inhaftiert war, verlangt vom Land Nordrhein-Westfalen Zahlung einer Entschädigung wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen. Das Oberlandesgericht Hamm hat im wegen dieser Unterbringung eine Entschädigung von 2.300 € zuerkannt1. Das Oberlandesgericht ist der Auffassung, die Unterbringung des Klägers in den Hafträumen B-216 (Grundfläche 17,74 m² bei einer Belegung mit vier Personen) sowie B-259 (Grundfläche 9,06 m² bei einer Belegung mit zwei Personen) sei menschenunwürdig gewesen. Jedem Insassen habe nur eine Grundfläche von rechnerisch lediglich 4,435 m² bzw. 4,53 m² zur Verfügung gestanden. Damit werde die Mindestgröße von Hafträumen, die in der Literatur als Untergrenze ernsthaft erwogen werde, deutlich unterschritten, wobei er-schwerend hinzu komme, dass die Nutzfläche durch die Möblierung des Haftraums mit einer der Kopfzahl der untergebrachten Gefangenen entsprechenden Anzahl von Betten, Spinden, Stühlen und Tischen noch zusätzlich eingeschränkt werde, ebenso wie auch durch die im Haftraum installierte Toiletten-kabine. Bei einer Grundfläche von weniger als 5 m² sei der dem Einzelnen unter Berücksichtigung des für die Möblierung notwendigen Flächenbedarfs verbleibende Bewegungsfreiraum so begrenzt, dass eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung kaum noch möglich sei und der auch bei Strafhaft fortbestehende Anspruch des Gefangenen auf Wahrung eines Mindestmaßes an persönlicher Eigenständigkeit und Intimität in einer Weise beschnitten werde, die mit den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung unvereinbar sei.

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Hiergegen wendet sich das Land NRW mit der Begründung, (1.) die Haftbedingungen seien nicht inhuman und (2) hätte sich der Kläger ja schließlich mit den ihm gesetzlich zur Verfügung gestellten Rechtsmitteln gegen die Unterbringung wehren können.

Zumindest mit dem zweiten Argument hatte das Land jetzt vor dem Bundesgerichtshof Erfolg:

Menschenunwürdige Haftbedingungen

Die Rüge des beklagten Landes, das OLG Hamm habe rechtsfehlerhaft eine menschenunwürdige und grundsätzlich entschädigungspflichtige Haftsituation festgestellt, ist nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs unbegründet.

Die Frage, wann die räumlichen Verhältnisse in einer Strafanstalt derart beengt sind, dass die Unterbringung eines Gefangenen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) verletzt, lässt sich nicht abstrakt-generell klären, sondern muss der tatrichterlichen Beurteilung überlassen bleiben2. Deshalb kommt die vom beklagten Land geforderte „Klärung des verfassungsmäßigen Raummindestsolls“ nicht in Betracht. In der Sache selbst hält die Annahme des Oberlandesgerichts Hamm, die Haft sei menschenunwürdig gewesen, der eingeschränkten revisionsrechtlichen Nachprüfung stand. Soweit das beklagte Land in diesem Zusammenhang auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Sachen Testa gegen Kroatien3 hinweist, kann dahinstehen, ob unter Berücksichtigung des dieser Entscheidung zugrunde liegenden Maßstabs keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK vorgelegen hat. Denn die etwaige Einhaltung des dort niedergelegten und für die Konventionsstaaten verbindlichen Mindeststandards hindert nicht eine tatrichterliche Würdigung, dass bestimmte Haftbedingungen gegen das Grundgesetz verstoßen.

Auch die weitere Frage, wo im Rahmen der Bandbreite der in Betracht kommenden Fälle menschenunwürdiger Unterbringung die so genannte Erheblichkeitsschwelle liegt, bei deren Überschreiten eine Geldentschädigung zu gewähren ist, lässt sich nicht abstrakt-generell klären, sondern ist der tatrichterlichen, revisionsrechtlich nur beschränkt überprüfbaren Beurteilung überlassen4. Rechtsfehler dieser Bewertung zeigt das beklagte Land nicht auf. Das Berufungsgericht hat nicht übersehen, dass zwischen der Feststellung einer Verletzung der Menschenwürde und der Zuerkennung einer Geldentschädigung kein zwingendes Junktim besteht5. Genau so wenig hat das Berufungsgericht den Vortrag des beklagten Landes zu seinen Bemühungen zur Schaffung neuer Haftplätze und zur Steuerung der Belegungssituation ignoriert. Soweit es diesem Vorbringen im Rahmen der Bewertung des Organisationsverschuldens des Landes keine die Erheblichkeitsschwelle tangierende Bedeutung beigemessen hat, bewegt sich dies im Rahmen des dem Tatrichter zustehenden Beurteilungsspielraums.

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Das unterbliebene Rechtsmittel

Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm kann sich das beklagte Land jedoch auf § 839 Abs. 3 BGB berufen. Danach tritt die Ersatzpflicht nicht ein, wenn der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden. Die Darlegungs- und Beweislast trägt insoweit der Schädiger6.

Für die in letzterem Zusammenhang notwendigen Feststellungen über den hypothetischen Geschehensablauf bei Einlegung eines Rechtsmittels gilt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs folgendes: Die Prüfung der Kausalität erfordert bei § 839 Abs. 3 BGB im Ansatz ähnliche Überlegungen wie bei § 839 Abs. 1 BGB. Allerdings kann der Grundsatz, wonach dann, wenn es bei der Feststellung der Ursächlichkeit einer Amtspflichtverletzung für den eingetretenen Schaden darauf ankommt, wie die Entscheidung eines Gerichts ausgefallen wäre, darauf abzustellen ist, wie nach Ansicht des über den Schadensersatzanspruch erkennenden Gerichts richtigerweise hätte entschieden werden müssen, im Rahmen des Absatzes 3 nicht uneingeschränkt Anwendung finden7. Vielmehr ist hier auch die Rechtspraxis hinsichtlich der in Rede stehenden Frage zu dem Zeitpunkt in Betracht zu ziehen, in dem das Rechtsmittel hätte eingelegt werden müssen8.

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm wird letztlich, so der Bundesgerichtshof weiter in seinen Entscheidungsgründen, auch nicht von der Überlegung getragen, es lasse sich nicht feststellen, dass eine gerichtliche Entscheidung zugunsten des Klägers an dessen tatsächlicher Situation etwas geändert hätte.

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Unerheblich ist zunächst, ob die Anstaltsleitung in der Lage gewesen wäre, alle zum streitgegenständlichen Zeitraum unter vergleichbaren Bedingungen in der JVA D. inhaftierten Gefangenen angemessen unterzubringen. Genauso wenig entscheidend ist, ob eine solche Möglichkeit bezüglich aller Insassen bestand, die damals – wie nach seiner Darstellung der Kläger – eine Verlegung beantragt hatten und deshalb auf der sogenannten Warteliste standen. Denn es kann davon ausgegangen werden, dass die Anstaltsleitung jedenfalls diejenigen, zu deren Gunsten eine Gerichtsentscheidung ergangen wäre, vorrangig berücksichtigt hätte.

Des Weiteren ist die vom Berufungsgericht – erkennbar vor dem Hintergrund anhängiger Parallelverfahren – angestellte Überlegung, die Versäumung bestehender Rechtsmittel könne schon dann nicht als ursächlich für die Fortdauer der menschenunwürdigen Unterbringung angesehen werden, wenn nur bei einem der betroffenen Gefangenen mangels ausreichender Kapazitäten eine zeitnahe Beendigung seiner Haftsituation unmöglich gewesen wäre, (allzu) theoretischer Natur. Aus dem Umstand, dass zahlreiche Strafgefangene einer bestimmten Justizvollzugsanstalt – aus welchen Gründen auch immer – jetzt mehr oder weniger zeitgleich eine Haftentschädigung verlangen, kann bei lebensnaher Betrachtung nicht ohne weiteres geschlossen werden, alle Kläger hätten (bei gehöriger Überlegung) vormals mehr oder weniger zeitgleich gerichtliche Anträge auf Änderung ihrer Haftbedingungen gestellt. Die tatsächlichen Gegebenheiten (allenfalls in einer verschwindend geringen Zahl von Fällen wurden von Häftlingen in Nordrhein-Westfalen Gerichtsentscheidungen herbeigeführt; in der Auflistung des beklagten Landes im Schriftsatz vom 20. Oktober 2008 ist bezüglich der JVA D. lediglich ein Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts D. vom 27. Mai 2008 aufgeführt) lassen eher das Gegenteil vermuten. Im übrigen ist in diesem Zusammenhang auch das Argument des Landes, ein Teil der Gefangenen wäre trotz der vorhandenen Platznot in den Gemeinschaftszellen bereit gewesen, sich zur „Vermeidung von Eintönigkeit, Langeweile oder Einsamkeit“ mit anderen Häftlingen gemeinschaftlich unterbringen zu lassen, so dass Raum für die Umsetzung entsprechender Gerichtsentscheidungen bestanden hätte, nicht von der Hand zu weisen.

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Entscheidend kommt folgendes hinzu: In einem Rechtsstaat ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Behörden gerichtliche Entscheidungen beachten. Insoweit hat das beklagte Land auch vorgetragen, es habe in der Vergangenheit die Beschlüsse der Strafvollstreckungskammern in Nordrhein-Westfalen, durch die eine menschenunwürdige Unterbringung eines Gefangenen festgestellt wurde, sofort umgesetzt. Aber selbst wenn unterstellt wird, dass sich die Haftanstalt – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage gesehen hätte, den Kläger umgehend in eine Einzelzelle zu verlegen, stünde dies dem Einwand des beklagten Landes aus § 839 Abs. 3 BGB nicht entgegen. Denn die Betrachtung der möglichen Umsetzung einer gerichtlichen Haftentscheidung kann nicht auf die Frage nach einer angemessenen Alternativunterbringung beschränkt werden; dies wäre ein verkürzter Blickwinkel. Sind die Haftbedingungen menschenunwürdig und kann eine Vollzugsanstalt auch unter Berücksichtigung aller ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten (einschließlich der Verlegung in eine andere Haftanstalt, gegebenenfalls auch in einem anderen Bundesland) einer Gerichtsentscheidung, die dies feststellt, nicht nachkommen, muss notfalls die Strafvollstreckung unterbrochen werden. Die Aufrechterhaltung eines gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstoßenden Zustands ist verboten. Eine Abwägung der unantastbaren Menschenwürde mit anderen – selbst verfas-sungsrechtlichen – Belangen ist nicht möglich9. Die Vollzugsanstalt hat deshalb in letzter Konsequenz den Strafvollzug zu unterbrechen, wenn und solange eine weitere Unterbringung nur unter menschenunwürdigen Bedingungen in Betracht käme. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger hätte auch im Falle eines Erfolgs seines Rechtsmittels an der Haftsituation nichts ändern können, als rechtsfehlerhaft.

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Die in der Revisionserwiderung erhobene Gegenrüge des Klägers, ihm sei der Gebrauch eines solchen Rechtsmittels unzumutbar gewesen, da ihm immer wieder gesagt worden sei, dass es aufgrund der Überbelegung keinen Zweck habe zu versuchen, an der Warteliste vorbei früher eine Einzelzelle zu bekommen, und er angesichts der Unfähigkeit der Anstaltsleitung, trotz Art. 1 Abs. 1 GG menschenwürdige Haftbedingungen zu schaffen, nicht an den Erfolg eines Rechtsmittels habe glauben können, greift demgegenüber nicht durch. Zwar fehlt es am Verschulden im Sinne des § 839 Abs. 3 BGB, wenn die Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels so gering oder zweifelhaft ist, dass dem Verletzten dessen Gebrauch nicht zugemutet werden kann10. Dies zu beurteilen obliegt aber grundsätzlich dem Tatrichter nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls.

Soweit ein Rechtsmittel bzw. dessen Umsetzung erst von einem bestimmten Zeitpunkt an weitere Schäden verhindert hätte, führt dies im Übrigen nur dazu, dass bei schuldhafter Unterlassung der Einlegung des Rechtsmittels der Anspruch für die weiteren Schäden entfällt. Er bleibt jedoch für etwaige bereits vorher entstandene Schäden bestehen, d.h. hier hat eine zeitliche Differenzierung zu erfolgen11.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 11. März 2010 – III ZR 124/09

  1. OLG Hamm, Urteil vom 18.03.2009 – 11 U 88/08[]
  2. vgl. BGHZ 161, 33, 35; BGH, Beschlüsse vom 21.12.2005 – III ZR 33/05 – NJW 2006, 1289; und vom 28.09.2006 – III ZB 89/05, NJW 2006, 3572[]
  3. EGMR, Urteil vom 12.07.2007, EuGRZ 2008, 21, 23 Rn. 56 ff.[]
  4. BGHZ 161, 33, 38; BGH, Beschluss vom 21.12.2005, a.a.O.[]
  5. BGHZ 161, 33, 36[]
  6. vgl. nur BGH, Urteil vom 16.01.1986 – III ZR 77/84, NJW 1986, 1924, 1925; BGHZ 156, 294, 299; siehe auch Staudinger/Wurm, BGB, Neubearbeitung 2007, § 839 Rn. 350[]
  7. vgl. BGH, Urteil vom 16.01.1986, a.a.O., S. 1925[]
  8. vgl. BGHZ 156, 294, 300; Staudinger/Wurm, aaO, Rn. 351[]
  9. vgl. BVerfG, NJW 2006, 1580, 1581 Rn. 18[]
  10. vgl. BGH, Urteil vom 20.02.2003 – III ZR 224/01, NJW 2003, 1308, 1313, insoweit in BGHZ 154, 54 nicht abgedruckt; BGH, Beschluss vom 29.01.2009 – III ZR 182/08[]
  11. vgl. nur BGH, Urteile vom 16.01.1986, a.a.O., S. 1924; und 05.02.1987 – III ZR 16/86, BGHR BGB § 839 Abs. 3 – Kausalität 1[]
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