Notwendige Verteidigung – und die Beschuldigtenvernehmung ohne vorherige Pflichtverteidigerbestellung

Eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung eines Pflichtverteidigers hat nicht grundsätzlich eine Unverwertbarkeit der Beschuldigtenvernehmung zur Folge.

Notwendige Verteidigung – und die Beschuldigtenvernehmung ohne vorherige Pflichtverteidigerbestellung

Selbst in dem Fall, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers vor einer Beschuldigtenvernehmung zu Unrecht unterblieben ist, ergibt sich daraus nicht generell deren Unverwertbarkeit.

Prinzipiell kennt das Strafverfahrensrecht keinen allgemein geltenden Grundsatz, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht. Ob ein solches eingreift, ist vielmehr jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Dabei ist zu beachten, dass die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Deshalb handelt es sich bei einem Beweisverwertungsverbot um eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. Maßgeblich beeinflusst wird das Ergebnis der danach vorzunehmenden Abwägung einerseits durch das Ausmaß des staatlichen Aufklärungsinteresses, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Andererseits ist das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes von Belang, das sich vor allem danach bemisst, ob der Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Beweisverwertungsverbot geboten, wenn die Auswirkungen des Rechtsverstoßes dazu führen, dass dem Angeklagten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde. Zudem darf eine Verwertbarkeit von Informationen, die unter Verstoß gegen Rechtsvorschriften gewonnen wurden, nicht bejaht werden, wenn dies zu einer Begünstigung rechtswidriger Beweiserhebungen führen würde. Ein Beweisverwertungsverbot kann daher insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen geboten sein, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind1.

Diese Maßstäbe sind auch bei einem etwaigen Verstoß gegen das Gebot zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu beachten.

Ein Verwertungsverbot ist gesetzlich nicht geregelt. Die PKH-Richtlinie verhält sich ebenfalls nicht zu solchen Folgen eines möglichen Verstoßes gegen die Verpflichtung, einen Anspruch von Beschuldigten auf Prozesskostenhilfe sicherzustellen. Dem nationalen Gesetzgebungsverfahren liegt die Erwägung zugrunde, dass ein Verstoß nicht automatisch zu einem Verwertungsverbot führen soll, sondern die allgemeinen Grundsätze zur Anwendung gelangen sollen2.

Nach den konkreten Umständen und dem zuvor Dargelegten ist nicht zu beanstanden, dass dem Angeklagten vor seinen Beschuldigtenvernehmungen nicht gemäß § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO ein Pflichtverteidiger bestellt wurde. Ein Grund, aus dem er nicht in der Lage war, sich bei den Vernehmungen selbst zu verteidigen, war und ist nicht ersichtlich. Wie bereits ausgeführt, reichen dafür grundsätzlich weder etwaige Sprachunkenntnisse noch die Schwere der Tatvorwürfe oder Schwierigkeiten bei der Beweiswürdigung aus. Aus einer Zusammenschau der Umstände ergibt sich nichts anderes.

Kognitive oder sonstige Einschränkungen des erwachsenen Angeklagten sind im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Ausweislich der Urteilsfeststellungen absolvierte er in Syrien ein Gymnasium sowie eine Ausbildung zum Informatiker, erlernte nach seiner Ankunft in Deutschland 2014 die deutsche Sprache und machte eine Weiterbildung zum IT-Netzwerktechniker. Vor diesem Hintergrund ergibt sich zudem nicht, dass er wegen seiner Herkunft aus einem arabischen Land außerstande war, sich bei den Beschuldigtenvernehmungen im Jahr 2020 selbst zu vertei- digen3.

Der Verfahrensbeanstandung verhilft ebenfalls nicht zum Erfolg, dass der Wortlaut der Belehrungen – offenkundig im Anschluss an die frühere Rechtslage (vgl. § 136 Abs. 1 Satz 5 StPO aF) – auf die Möglichkeit hinwies, die Bestellung eines Pflichtverteidigers „beanspruchen“ statt „beantragen“ zu können. Als Verfahrensmangel wird nicht ein Verstoß gegen § 136 Abs. 1 Satz 5 StPO, sondern allein ein solcher gegen § 141 Abs. 2 Nr. 3 StPO geltend gemacht. Dessen Tatbestandsvoraussetzungen werden durch die teils unkorrekte Belehrung nicht berührt. Entweder ist ein Beschuldigter in der Lage, sich bei einer Vernehmung selbst zu verteidigen, oder er ist es nicht. Ob er zuvor zutreffend über einen Anspruch oder Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung belehrt worden ist, betrifft seine individuellen Fähigkeiten nicht.

Soweit die Revisionsbegründung dahin zu verstehen sein soll, eine Verletzung der Belehrungspflicht sei eigenständig beanstandet, greift dies aus den vom Generalbundesanwalt dargelegten Gründen ebenfalls nicht durch4.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 5. April 2022 – 3 StR 16/22

  1. s. insgesamt BGH, Beschluss vom 02.03.2022 – 5 StR 457/21 43; Urteil vom 03.05.2018 – 3 StR 390/17, NStZ 2019, 227 Rn. 24 f.; BVerfG, Beschluss vom 07.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a., BVerfGE 130, 1, 28 ff.; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 14.08.2019 – 5 StR 228/19 17; vom 06.02.2018 – 2 StR 163/17, BGHR StPO § 136 Belehrung 19; BVerfG, Beschluss vom 16.02.2006 – 2 BvR 2085/05 8 f.[]
  2. BT-Drs.19/13829 S. 39 f.; daran anschließend Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 141 Rn. 24; aA LR/Jahn, StPO, 27. Aufl., § 141 Rn. 41 f.; BeckOK StPO/Krawczyk, 42. Ed., § 141 Rn. 24[]
  3. vgl. auch OLG Köln, Beschluss vom 05.02.1991 – 2 Ws 67/91, NJW 1991, 2223, 2224[]
  4. vgl. dazu BGH, Beschluss vom 06.02.2018 – 2 StR 163/17, BGHR StPO § 136 Belehrung 19[]