Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auch im Rahmen der Prüfung der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zu berücksichtigen.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann „die Freiheit der Person“ und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert1.
Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden2. Belange von ausreichendem Gewicht sind insbesondere die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung3 und der Schutz der Allgemeinheit4.
Das Rechtsstaatsprinzip, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, sowie die Gleichbehandlung aller in Strafverfahren rechtskräftig Verurteilten gebieten die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Das bedeutet auch, dass rechtskräftig erkannte Freiheitsstrafen grundsätzlich zu vollstrecken sind. Der staatliche Strafanspruch und – daraus folgend – das Gebot, rechtskräftig verhängte, tat- und schuldangemessene Strafen auch zu vollstrecken, sind gewichtige Gründe des Gemeinwohls5. Die Rechtsordnung darf ihre Missachtung nicht prämieren, denn sie schafft sonst Anreize zur Rechtsverletzung, diskriminiert rechtstreues Verhalten und untergräbt damit auch die Voraussetzungen ihrer eigenen Wirksamkeit6.
Kollidiert der Freiheitsanspruch der Person mit der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs oder dem Erfordernis, die Allgemeinheit vor zu erwartenden Rechtsgutverletzungen zu schützen, sind beide Belange gegeneinander abzuwägen7. Dabei gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Freiheit der Person nur beschränkt werden darf, soweit dies im öffentlichen Interesse unerlässlich ist. Die verfassungsrechtlich gerechtfertigten Eingriffstatbestände haben insoweit auch eine freiheitsgewährleistende Funktion, da sie nicht nur den Eingriff in ein grundrechtlich geschütztes Interesse erlauben, sondern zugleich die äußersten Grenzen zulässiger Grundrechtseinschränkungen bestimmen8.
Freiheitsstrafen und freiheitsentziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung verfolgen unterschiedliche Zwecke, weswegen sie grundsätzlich auch nebeneinander angeordnet werden können9. Geschieht dies, ist es jedoch geboten, sie einander so zuzuordnen, dass die Zwecke beider Maßnahmen möglichst weitgehend erreicht werden, ohne dass dabei in das Freiheitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG mehr als notwendig eingegriffen wird10. Die Schwere des Eingriffs darf nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen11.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auch im Rahmen der Prüfung der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zu berücksichtigen. Das Bundesverfassungsgericht hat hinsichtlich der Prüfung der Fortdauer des Maßregelvollzugs bereits entschieden, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch eine „integrative Betrachtung“ in die Prüfung der sogenannten Aussetzungsreife der Maßregel nach § 67d Abs. 2 StGB einzubeziehen ist. Die dem Richter in diesem Zusammenhang auferlegte Prognose erfordert eine wertende Entscheidung. Die darauf aufbauende Gesamtwürdigung hat die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen12.
Anders als bei Maßregeln ist zwar bei Strafen bereits im Strafurteil über die Verhältnismäßigkeit der zu vollstreckenden Strafe grundsätzlich entschieden worden. Doch auch bezüglich der Strafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe gemäß § 57a StGB – der auf § 57 Abs. 1 StGB verweist – hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bereits betont, dass die Regelung der Aussetzung einen Ausgleich zwischen dem Resozialisierungsanspruch und dem Freiheitsgrundrecht des zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten einerseits und dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit andererseits schafft13.
Die dafür bei der Entscheidung über die Aussetzung zu berücksichtigenden Umstände werden durch § 57 Abs.1 Satz 2 StGB (i.V.m. § 57a Abs. 1 Satz 2 StGB) konkretisiert14. Für die Strafaussetzung bei zeitigen Freiheitsstrafen kann nichts anderes gelten. Bei der nach § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB gebotenen Berücksichtigung der individuellen Lebensumstände des Verurteilten kann die Dauer einer Freiheitsentziehung als notwendige Bedingung des Maßregelvollzugs aus Anlass der Tat nicht außer Betracht bleiben, auch wenn sie gemäß § 67 Abs. 4 StGB nur auf zwei Drittel der Strafe angerechnet wird. Je länger der Freiheitsentzug insgesamt dauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für dessen Verhältnismäßigkeit15.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22. Juni 2012 – 2 BvR 22/12
- vgl. BVerfGE 35, 185, 190; 109, 133, 157; 128, 326, 372[↩]
- vgl. BVerfGE 22, 180, 219; 29, 312, 316; 35, 185, 190; 45, 187, 223; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 20, 45, 49; 20, 144, 147; 32, 87, 93; 35, 185, 190[↩]
- vgl. BVerfGE 22, 180, 219; 30, 47, 53; 45, 187, 223; 58, 208, 224 f.; 70, 297, 307[↩]
- vgl. BVerfGE 51, 324, 343 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 116, 24, 49; BVerfG, Beschluss vom 27.03.2012 – 2 BvR 2258/09[↩]
- vgl. BVerfGE 90, 145, 172; 109, 133, 157; 128, 326, 372 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297, 307; 75, 329, 341; 126, 170, 195[↩]
- vgl. BVerfGE 91, 1, 31; 128, 326, 376 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 91, 1, 31[↩]
- vgl. BVerfGE 90, 145, 173; 92, 277, 327; 109, 279, 349 f.; 115, 320, 345; BVerfG, Beschluss vom 27.03.2012 – 2 BvR 2258/09 , juris, Rn. 58[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297, 312 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 117, 71, 112; BVerfGK 15, 390, 396; 16, 44, 47 f.[↩]
- BVerfGE 117, 71, 112[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297, 315; BVerfGK 15, 390, 397; 16, 44, 48[↩]