Richterablehnung – und die Wartepflicht

Mit der Wartepflicht gemäß § 29 StPO hatte sich aktuell der Bundesgerichtshof zu befassen.

Richterablehnung – und die Wartepflicht

Dem lag folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Einer der bis dahin am Verfahren mitwirkenden Schöffen erklärte unmittelbar vor Beginn des achten Hauptverhandlungstages am 10.03.2021 gegenüber den Strafkammermitgliedern, er leide an einer manischen Depression und nehme als Einschlafhilfe ein Antidepressivum. Da die Wirkung des Medikaments erst am Vormittag nachlasse, sei er an den bisher durchgeführten Hauptverhandlungsterminen „nur zu 80 Prozent“ anwesend gewesen. Bei früheren Gesprächen, welche die Strafkammermitglieder unter anderem wegen seiner geschlossenen Augen mit ihm geführt hatten, habe er die Müdigkeitserscheinungen der Wahrheit zuwider bestritten. Er habe das Medikament jedoch inzwischen abgesetzt, sodass er sich nunmehr in der Lage fühle, der Hauptverhandlung zu folgen. Trotz dieser Erklärung des Schöffen führte die Strafkammer den Hauptverhandlungstermin an diesem Tag durch und setzte die Vernehmung eines Zeugen fort.

Am 12.03.2021 telefonierte der Vorsitzende mit der Ärztin des Schöffen, die ihm versicherte, dessen Verhandlungsfähigkeit sei nicht beeinträchtigt; er könne das Medikament problemlos absetzen. Im Anschluss daran fragte der Vorsitzende den Schöffen in einem Telefonat, ob seine mündliche Erklärung vom 10.03.2021 als Selbstanzeige eines möglichen Befangenheitsgrundes anzusehen sei, was dieser bejahte. Am selben Tag informierte der Vorsitzende die Verteidiger und den Vertreter der Staatsanwaltschaft per E-Mail über den Sachverhalt und stellte den Verfahrensbeteiligten anheim, den Schöffen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, was nicht geschah.

Mit Beschluss vom 23.03.2021 stellte die Strafkammer fest, dass die in der Selbstanzeige des Schöffen mitgeteilten Umstände die Besorgnis seiner Befangenheit rechtfertigten. Grund sei nicht seine Erkrankung, sondern dass der Schöffe gegenüber der Strafkammer zunächst das Bestehen eines Müdigkeitsproblems ausdrücklich bestritten hatte. Erst am achten Hauptverhandlungstag habe er dann aber im Anschluss an einen entsprechenden Antrag der Verteidigung eingeräumt, aufgrund der täglichen Einnahme eines Medikaments vormittags während der vorangegangenen Hauptverhandlungstage nur „zu ca. 80 Prozent anwesend gewesen“ zu sein. Er habe mithin an mehreren Tagen unter Einfluss eines medizinisch nicht notwendigen, aber die Auffassungsfähigkeit einschränkenden Medikaments und unter fortlaufendem Ignorieren der Bitten des beisitzenden Richters und der Verteidiger um Aufklärung etwaiger Einschränkungen, an der Hauptverhandlung teilgenommen. Mit Ausscheiden des Schöffen trat für diesen am nächsten Hauptverhandlungstag die Ergänzungsschöffin in das Quorum ein.

Die Rüge mit der Angriffsrichtung, die Strafkammer habe die Wartepflicht gemäß § 29 Abs. 1 StPO verletzt, indem sie am 10.03.2021 nach der Erklärung des Schöffen weiterverhandelt habe, war für den Bundesgerichtshof jedenfalls unbegründet:

Eine Pflicht, mit der Hauptverhandlung bis zur Entscheidung über die Selbstanzeige zuzuwarten, hat nicht bestanden; die Strafkammer durfte unter Mitwirkung des Schöffen weiterverhandeln. Im Einzelnen:

Nach § 29 Abs. 1 StPO gilt der Grundsatz, dass „ein abgelehnter Richter“ sich aller Amtshandlungen zu enthalten hat, die nicht unaufschiebbar sind1. Die Vorschrift begründet eine Wartepflicht des Abgelehnten, die das Interesse des Ablehnenden daran schützt, dass der von ihm für befangen erachtete Richter in dem Verfahren nicht weiter mitwirkt. Ein abgelehnter Richter, dessen Ablehnung möglicherweise für begründet erklärt werden wird, soll nicht länger als unbedingt nötig auf das Prozessgeschehen einwirken können2.

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Ob diese Wartepflicht über den Wortlaut des § 29 Abs. 1 StPO hinaus auch auf den Richter entsprechend anzuwenden ist, der eine Selbstanzeige gemäß § 30 StPO erstattet hat, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Hieran bestehen allerdings Zweifel.

Eine solche entsprechende Anwendbarkeit ist zwar von der älteren Rechtsprechung – ohne nähere Begründung – angenommen worden3. Diese Entscheidungen basierten aber noch auf der Annahme, dass es sich bei der Selbstanzeige um interne Vorgänge handele und eine Anhörung der Verfahrensbeteiligten hierzu sachwidrig und entbehrlich sei. Dies erwies sich als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar4.

Nunmehr ist den Verfahrensbeteiligten zu der Selbstanzeige des Richters rechtliches Gehör zu gewähren, zu dessen effektiver Verwirklichung auch zählt, mit Aufschub gestattenden Amtshandlungen zuzuwarten, bis mit einer Reaktion der Verfahrensbeteiligten auf die Selbstanzeige zu rechnen ist. Auf diese Weise haben es die Ablehnungsberechtigten in der Hand, aufgrund der mitgeteilten Verhältnisse ihre Besorgnis der Befangenheit zu erklären, den Richter deswegen abzulehnen und so die Rechtswirkungen des Verfahrens nach §§ 24 ff. StPO und mithin auch die direkte Anwendbarkeit des § 29 StPO herbeizuführen. Erachten sie aufgrund der mitgeteilten Selbstanzeige den Richter nicht für befangen, so haben sie zum Ausdruck gebracht, keine Bedenken gegen die weitere Mitwirkung dieses Richters zu haben und ihre prozessuale Rechtsstellung hierdurch nicht berührt zu sehen. Damit besteht von ihrer Seite auch kein schützenswertes Interesse an einer Wartepflicht des selbstanzeigenden Richters, welchem durch eine entsprechende Anwendung des § 29 StPO Rechnung getragen werden müsste.

Der Bundesgerichtshof verkennt nicht, dass das zivilprozessuale Schrifttum aus der verfassungsgerichtlichen Entscheidung zur Gewährung rechtlichen Gehörs zur Selbstanzeige und der dadurch ausgelösten Streichung des § 48 Abs. 2 ZPO aF eine Gleichbehandlung des Verfahrens nach einem Ablehnungsgesuch durch eine Partei und der „Selbstablehnung“ nach § 48 ZPO – die Norm ist bis auf die Überschrift fast wortgleich mit § 30 StPO – ableitet5. Dies lässt die durch die Gewährung rechtlichen Gehörs geschaffene Möglichkeit der Parteien, auf die mit der Selbstanzeige mitgeteilten Umstände ein Ablehnungsgesuch zu stützen6 und so die Folgen des § 47 ZPO, der seinem Wortlaut nach ebenfalls nur für den „abgelehnten Richter“ gilt, herbeizuführen, allerdings unberücksichtigt.

In objektivrechtlicher Hinsicht gebietet das Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auf den gesetzlichen und mithin unbefangenen Richter7 nicht die entsprechende Anwendung des § 29 StPO auf das Verfahren nach alleiniger Selbstanzeige. Das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hat einen materiellen Gewährleistungsgehalt, durch den garantiert wird, dass der Rechtssuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet8. Dies verpflichtet den Gesetzgeber dazu, Regelungen vorzusehen, die es ermöglichen, einen Richter, der im Einzelfall nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet, abzulehnen oder von der Ausübung seines Amts auszuschließen9. Die Ausgestaltung im Einzelnen ist aber Sache des Gesetzgebers10, der sich für ein gestuftes Nebeneinander von Ausschlussgründen und Befangenheit entschieden hat.

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Während die Ausschlussgründe nach §§ 22, 23, 148a Abs. 2 Satz 1 StPO absolut und unabhängig von einem Antrag der Prozessbeteiligten wirken und auf sie nicht verzichtet werden kann11, ist der im Sinne des § 24 Abs. 2 StPO befangene Richter nicht bereits mit dem Entstehen des Ablehnungsgrundes von der weiteren Mitwirkung ausgeschlossen. Diese Wirkung tritt erst durch einen Gerichtsbeschluss ein, der seine Befangenheit feststellt12. Zudem findet eine Überprüfung der Befangenheit von Amts wegen nicht statt13; auch kann die Geltendmachung von Befangenheitsgründen – verfassungsrechtlich unbedenklich14 – nach § 25 StPO präkludiert sein. Würde der abgelehnte Richter schon vor der Entscheidung des Gerichts über seine Befangenheit nicht mehr gesetzlicher Richter sein, wäre dieses Stufenverhältnis unhaltbar. Hiermit ließe sich auch die Annahme einer Heilung eines Verstoßes gegen die Wartepflicht bei Rechtskraft der Verwerfung des Ablehnungsgesuchs unter Verstoß gegen Verfassungsrecht15 nicht vereinbaren.

Der Gesetzgeber hat zudem durch § 30 StPO sichergestellt, dass das Recht der Verfahrensbeteiligten auf einen unbefangenen Richter auch dann effektiv durchgesetzt werden kann, wenn die eine Befangenheit begründenden Umstände nicht offen zu Tage treten. Denn nach dieser Vorschrift ist der Richter verpflichtet, Mitteilung über solche Umstände zu machen, die seine Ablehnung oder die eines anderen Richters16 rechtfertigen könnten. Es handelt sich um eine Dienstpflicht und eine im Verhältnis zu den Verfahrensbeteiligten bestehende und unmittelbar verfahrensrelevante Verpflichtung17. Eine pflichtwidrig unterlassene Selbstanzeige kann ihrerseits ein Ablehnungsgesuch rechtfertigen18. Nach Mitteilung dieser Selbstanzeige haben es die Verfahrensbeteiligten sodann in der Hand, durch entsprechende Antragstellung eine nicht unbedingt notwendige Mitwirkung des für befangen erachteten Richters im Rahmen der Regelung des § 29 StPO zu verhindern. Dieses Zusammenspiel stellt sicher, dass das verfassungsgemäße Recht auf den neutralen Richter effektiv durchgesetzt werden kann und die betroffene Rechtsposition der Verfahrensbeteiligten ausreichend geschützt ist.

Auch im Übrigen erscheint eine entsprechende Anwendung nicht geboten. Vielmehr entspricht es der gesetzgeberischen Grundkonzeption, das Verfahren nach Ablehnung (§§ 24 ff. StPO) und nach einer Selbstanzeige (§ 30 StPO) unterschiedlich auszugestalten. Dies zeigt sich vor allem im Anwendungsbereich des § 338 Nr. 3 StPO. Dieser absolute Revisionsgrund ist nur nach Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit eröffnet, wohingegen in den Fällen des § 30 StPO die Entscheidung, durch welche die Selbstanzeige für begründet oder nicht begründet erklärt wird, für das Revisionsgericht für sich gesehen grundsätzlich nicht überprüfbar ist19. Erst dann, wenn ein Ablehnungsberechtigter aufgrund des Vorbringens des Selbstanzeigenden diesen abgelehnt hat, ist das Ablehnungsverfahren und mithin der Anwendungsbereich des § 338 Nr. 3 StPO im Revisionsverfahren eröffnet20. Insoweit ist das hohe Rechtsschutzniveau des § 338 Nr. 3 StPO an den Ablehnungsantrag gebunden. Der Bundesgerichtshof neigt dazu, auch die Sicherungen des § 29 StPO, der nach der gesetzlichen Überschrift und nach dem Normtext allein das Verfahren nach Ablehnung betrifft, auch nur diesem Verfahren vorzubehalten.

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Diese Fragen bedürfen hier indes keiner Entscheidung, denn selbst wenn eine Wartepflicht auch für das durch Selbstanzeige gemäß § 30 StPO ausgelöste Befangenheitsverfahren gelten sollte, erstreckte sie sich jedenfalls gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht auf die Hauptverhandlung.

Durch das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10.12.201921 ist die grundsätzliche Wartepflicht des § 29 Abs. 1 StPO für die Mitwirkung eines abgelehnten Richters an der Hauptverhandlung weiter eingeschränkt worden22. In § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO ist seitdem geregelt, dass die Hauptverhandlung keinen Aufschub gestattet und bis zur Entscheidung über das Ablehnungsgesuch stattfindet. Diese die Wartepflicht begrenzende Vorschrift gilt gemäß § 31 StPO auch für Schöffen23.

Eine Übertragung der grundsätzlichen Wartepflicht für Aufschub gestattende Handlungen nach § 29 Abs. 1 StPO auf das Verfahren nach Selbstanzeige führt dazu, dass die gesetzgeberische Wertung des § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO zur Unaufschiebbarkeit der Hauptverhandlung für diese Konstellation ebenfalls Geltung beanspruchen muss. Denn der Gesetzgeber hat durch die Schaffung des § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO die Wartepflicht nach Absatz 1 der Vorschrift beschränkt; eine die Hauptverhandlung miterfassende Wartepflicht kennt die Strafprozessordnung seit der Änderung des § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht mehr.

Ein anderes Ergebnis würde zu Wertungswidersprüchen und zu dem gesetzgeberischen Willen widerstreitenden Ergebnissen führen. So hat derjenige, der einen Richter für befangen erachtet, bis zur Entscheidung über seinen Antrag dessen weitere Mitwirkung in der Hauptverhandlung hinzunehmen. Sein Interesse daran, dass der abgelehnte Richter bis zur Entscheidung über sein Gesuch nicht mehr an der Hauptverhandlung mitwirkt, muss nach der Wertung des § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO zugunsten des öffentlichen Interesses an der beschleunigten Durchführung der Hauptverhandlung zurücktreten24. Erst Recht ist kein Grund dafür ersichtlich, dass demgegenüber im Fall einer Selbstanzeige nach § 30 StPO die Hauptverhandlung nicht mehr durchgeführt werden können sollte, ohne dass ein Antragsberechtigter einen Anschein der Befangenheit geltend gemacht hat. Vielmehr würde das gesetzgeberische Anliegen der Vereinfachung des Ablehnungsverfahrens durch die Gestattung der unbeschränkten Mitwirkung des abgelehnten Richters in der Hauptverhandlung ohne sachlichen Grund unterlaufen.

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Soweit in der Literatur nach wie vor vertreten wird, § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO sei bei einer Anzeige nach § 30 StPO nicht anwendbar25, orientiert sich diese Ansicht ersichtlich noch an der alten Fassung des § 29 Abs. 2 StPO und lässt den abweichenden Regelungsgehalt der Neufassung außer Betracht.

Die Rüge, die Kammer habe durch den Ausschluss des Schöffen nach dessen Selbstanzeige willkürlich gehandelt und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 16 Satz 2 GVG verletzt, bleibt ebenfalls erfolglos.

Es bestehen insoweit bereits erhebliche Bedenken gegen ihre Zulässigkeit, da das Revisionsvorbringen aufgrund des alternativen Vortrags zweier sich ausschließender Sachverhaltsvarianten widersprüchlich ist26. So stützt der Beschwerdeführer seine Behauptung, der Schöffe sei willkürlich aus dem Spruchkörper herausgedrängt worden, darauf, dass der Vorsitzende diesen (erst) in einem Telefonat am 12.03.2021 dazu gedrängt habe, eine (noch nicht existente) Selbstanzeige „zu bestätigen“. Die Rüge, mit der ein Verstoß gegen § 29 Abs. 1 StPO geltend gemacht wird begründet der Beschwerdeführer dem widerstreitend damit, dass die Strafkammer trotz des Vorliegens einer Selbstanzeige des Schöffen die Hauptverhandlung am 10.03.2021 durchgeführt habe, ohne unmittelbar in die Prüfung seiner Befangenheit einzutreten.

Die Rüge ist jedenfalls unbegründet. Das Revisionsgericht kann den Beschluss, durch den die Selbstanzeige eines Richters für begründet oder für nicht begründet erklärt wird, grundsätzlich nicht überprüfen. Ausnahmen gelten nur, wenn das Vorgehen des Gerichts objektiv willkürlich ist, das heißt das Verfahren nach § 30 StPO missbraucht wird, um den Angeklagten seinem verfassungsrechtlich garantierten gesetzlichen Richter zu entziehen27. Das ist hier nicht der Fall. Eine kollusive, auf Entziehung des gesetzlichen Richters angelegte Verfahrensweise der Strafkammer ist nicht erkennbar. Die für und gegen eine Befangenheit des Schöffen sprechenden Aspekte wurden in dem zugrundeliegenden Beschluss vielmehr ausführlich – und keinesfalls nur auf die „eingestandene Müdigkeit als solche“ bezogen – dargestellt und abgewogen. Das Ergebnis, ein Richter müsse den Anschein der Befangenheit gegen sich gelten lassen, wenn er im Bewusstsein, die Hauptverhandlung zu beachtlichen Teilen nicht wahrgenommen zu haben, die Aufdeckung dieses Umstands durch unzutreffende Angaben zunächst zu verschleiern sucht, ist jedenfalls vertretbar. Dass hierdurch der Revision aussichtsreich erscheinende Rügen „neutralisiert“ worden sein könnten, führt für sich genommen nicht zur Willkürlichkeit der nachvollziehbar begründeten Entscheidung. Auch bei Gesamtbetrachtung des Vorgehens der Strafkammer, insbesondere des Umstands, dass die Selbstanzeige erst zwei Tage nach der ersten Erklärung des Schöffen hierzu den Verfahrensbeteiligten und allein durch ein Schreiben des Vorsitzenden bekannt gegeben worden ist, ergibt sich angesichts der Begründung der Befangenheit kein Verstoß gegen das Willkürverbot.

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Ungeachtet der aufgezeigten Bedenken gegen die Zulässigkeit wegen der Widersprüchlichkeit der Revisionsangriffe, ist dem Vorbringen nicht mit der erforderlichen Bestimmtheit eine auf einen Verstoß gegen das Wiederholungsgebot gemäß § 29 Abs. 4 Satz 1 StPO gestützte Inbegriffsrüge zu entnehmen. Der Bundesgerichtshof muss daher nicht entscheiden, ob § 29 Abs. 4 StPO über seinen Wortlaut hinaus auch für das Verfahren nach Selbstanzeige gilt, wozu er nicht neigt. Zwar käme bei verspäteter Mitteilung der Selbstanzeige – wie hier – eine entsprechende Anwendung für den Zeitraum bis zur Gewährung rechtlichen Gehörs in Betracht, dies setzte allerdings aus den oben dargestellten Gründen einen daraufhin gestellten Befangenheitsantrag voraus, woran es hier fehlt.

Die Rügen der fehlerhaften Ablehnung von Befangenheitsanträgen, die an den Umgang der berufsrichterlichen Mitglieder der Strafkammer mit den Erklärungen des Schöffen angeknüpft haben, bleiben aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift aufgezeigten Gründen ebenfalls ohne Erfolg. Ergänzend ist zu bemerken und der Revision zuzugeben, dass über die vom Schöffen mitgeteilten Umstände, die der Selbstanzeige zugrunde lagen, nicht bereits vor dem Hauptverhandlungstermin und mithin verspätet informiert wurde. Allerdings stellen Verfahrensverstöße, die auf Irrtum oder auf unrichtiger oder sogar unhaltbarer Rechtsansicht beruhen, grundsätzlich noch keinen Ablehnungsgrund dar28. Etwas anderes gilt lediglich dann, wenn Entscheidungen oder Prozesshandlungen rechtlich völlig abwegig sind oder den Anschein von Willkür erwecken29. Solches kann in dem Verhalten der abgelehnten Richter nicht gesehen werden. So hat der Vorsitzende in seiner dienstlichen Erklärung der Sache nach ausgeführt, angesichts der Mitteilung des Schöffen vor dem Hauptverhandlungstermin am 10.03.2021 auf die Verhandlungsfähigkeit des Schöffen an diesem Tag bedacht gewesen zu sein und die Bedeutung der Mitteilung im Übrigen ohne die Möglichkeit näherer rechtlicher Prüfung noch nicht durchdrungen zu haben. Dies habe er nachgeholt und nach dem seine Würdigung bestätigenden Telefonat mit dem Schöffen den Verfahrensbeteiligten die Selbstanzeige bekannt gegeben. Danach ist nichts dafür ersichtlich, dass die Mitteilung des Schöffen den Verfahrensbeteiligten gänzlich vorenthalten oder die Wahrnehmung ihrer hieran anknüpfenden Rechte vereitelt werden sollte.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26. September 2023 – 5 StR 164/22

  1. BGH, Urteile vom 19.05.1953 – 2 StR 445/52, BGHSt 4, 208 f.; vom 14.02.2002 – 4 StR 272/01[]
  2. vgl. BGH, Beschlüsse vom 03.04.2003 – 4 StR 506/02, BGHSt 48, 264, 266; vom 28.07.2015 – 1 StR 602/14, NStZ 2016, 164, 167 Rn. 44[]
  3. BGH, Beschluss vom 13.02.1973 – 1 StR 541/72, BGHSt 25, 122, 125; Urteil vom 03.03.1982 – 2 StR 32/82, BGHSt 31, 3, 5; so auch LR/Siolek, StPO, 27. Aufl., § 30 Rn. 25[]
  4. BVerfG, Beschluss vom 08.06.1993 – 1 BvR 878/90, BVerfGE 89, 28, 36 mwN zur älteren Rspr. des BGH[]
  5. vgl. nur Stein/Jonas/Bork, ZPO, 23. Aufl.2014 § 48 Rn. 4 f.; vgl. auch OLG Hamburg, Urteil vom 28.03.2008 – 11 U 25/06 Rn. 61, 70[]
  6. vgl. zum Verfahren bei „Selbstablehnung“ und hinzutretendem Ablehnungsgesuch BGH, Beschluss vom 11.12.2019 – AnwZ (Brfg) 50/19 Rn. 71[]
  7. vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Jachmann-Michel, GG, 100. EL Art. 101 Rn. 87 mwN[]
  8. vgl. nur BVerfG, Beschlüsse vom 08.02.1967 – 2 BvR 235/64, BVerfGE 21, 139, 145 f.; vom 27.12.2006 – 2 BvR 958/06, NJW 2007, 1670; vom 05.05.2021 – 1 BvR 526/19, NJW-RR 2021, 1436[]
  9. BVerfG aaO[]
  10. BVerfG, Beschlüsse vom 08.06.1993 – 1 BvR 878/90, BVerfGE 89, 28, 35; vom 02.05.2007 – 2 BvR 2655/06 Rn. 11, NStZ 2007, 709[]
  11. vgl. BVerfG, Urteil vom 20.03.1956 – 1 BvR 479/55, BVerfGE 4, 412, 417; RG, Urteil vom 10.05.1880 – g.U. Rep 1211/80, RGSt 2, 209, 211; LR/Siolek, StPO, 27. Aufl., § 22 Rn. 49[]
  12. LR/Siolek, StPO, 27. Aufl., § 24 Rn. 3; KK-StPO/Heil, 9. Aufl., § 27 Rn. 13[]
  13. BGH, Beschluss vom 02.02.2022 – 5 StR 153/21, NJW 2022, 1470 mwN[]
  14. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 02.05.2007 – 2 BvR 2655/06 Rn. 12, 14 f., NStZ 2007, 709; vom 23.09.1987 – 2 BvR 814/87, NJW 1988, 477[]
  15. BVerfG, Beschluss vom 05.07.2005 – 2 BvR 497/03 Rn. 88, NVwZ 2005, 1304[]
  16. BGH, Beschluss vom 11.01.2022 – 3 StR 452/20 Rn.20[]
  17. BVerfG, Beschlüsse vom 08.06.1993 – 1 BvR 878/90, BVerfGE 89, 28, 36[]
  18. BGH, Beschluss vom 11.01.2022 – 3 StR 452/22 Rn.19[]
  19. vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 11. Janu- ar 2022 – 3 StR 452/20; vom 11.07.2017 – 3 StR 90/17, NStZ 2017, 720, auch zu den Ausnahmen vom Grundsatz der Nichtüberprüfbarkeit, vgl. unten zu 3.b[]
  20. vgl. zu einer solchen Konstellation BGH, Beschluss vom 11.01.2022 – 3 StR 452/20[]
  21. BGBl. I S. 2121[]
  22. vgl. BT-Drs.19/14747, S. 23[]
  23. BGH, Beschluss vom 18.05.2022 – 3 StR 181/21, NStZ 2023, 168; KK-StPO/Heil, 9. Aufl., § 31 Rn. 2; MünchKomm-StPO/Conen/Tsambikakis, 2. Aufl., 2023, § 31 Rn. 7[]
  24. vgl. hierzu BT-Drs.19/14747, S. 23[]
  25. vgl. LR/Siolek, StPO, 27. Aufl., § 30 Rn.20 zu § 29 Abs. 2 aF; KK-StPO/Heil, 9. Aufl., § 30 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 30 Rn. 4; noch in der Vorauflage: BeckOK-StPO/Cirener, § 30 Ed. 46 Rn. 4[]
  26. vgl. BGH, Beschlüsse vom 27.08.1999 – 3 StR 342/99; vom 13.04.2021 – 5 StR 29/21; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 344 Rn. 39[]
  27. BGH, Beschlüsse vom 11.07.2017 – 3 StR 90/17, BGHR StPO § 30 Selbstanzeige 3; vom 02.02.2022 – 5 StR 153/21 [§ 28 Abs. 2 StPO][]
  28. BGH, Beschluss vom 11.01.2022 – 3 StR 452/20 mwN[]
  29. BGH, Beschluss vom 08.05.2014 – 1 StR 726/13, BGHR StPO § 24 Abs. 2 Befangenheit 23 mwN[]
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Der überlastete gesetzliche Richter - und die Änderung der Spruchkörperzuständigkeit