Der Schadensersatzanspruch des Art. 5 Abs. 5 EMRK kann gegen das Bundesland geltend gemacht werden, dessen Gerichte die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach § 67 d StGB i.d.F. von 1998 angeordnet und dessen Beamte diese Anordnung vollzogen haben.

Schadensersatz unmittelbar aus Art. 5 Abs. 3 EMRK
Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass sich der Schadensersatzanspruch des Klägers unmittelbar aus Art. 5 Abs. 5 EMRK ergibt. Die Europäische Menschenrechtskonvention gilt innerstaatlich mit Gesetzeskraft und gewährt in Art. 5 Abs. 5 EMRK dem Betroffenen einen unmittelbaren Schadensersatzanspruch, wenn seine Freiheit Art. 5 Abs. 1 EMRK zuwider beschränkt wurde [1].
Die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle sind völkerrechtliche Verträge, die unmittelbar die Vertragsstaaten binden und innerhalb der deutschen Rechtsordnung im Rang eines Bundesgesetzes stehen [2]. Deutsche Gerichte haben die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden. Die Gewährleistungen der Konvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beeinflussen die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes [3]. Art. 5 Abs. 5 EMRK begründet dabei einen selbständigen Anspruch auf Entschädigung, der in den Vertragsstaaten, die die Konvention und ihre Zusatzprotokolle in innerstaatliches Recht übernommen haben, unmittelbar vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden kann [4].
Das Bundesland als Schuldner des Schadensersatzanspruchs
Der Schadensersatzanspruch nach Art. 5 Abs. 5 EMRK richtet sich gegen das beklagte Land.
Zweifel an der Passivlegitimation sind nicht deshalb begründet, weil die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung in Anwendung bundesrechtlicher Vorschriften erfolgt ist. Zwar haben diese Vorschriften den Freiheitsentzug nach Ablauf der früheren Höchstfrist ermöglicht. Der unmittelbare Eingriff in das Freiheitsrecht hat sich jedoch erst aus der Anordnung der Verlängerung sowie dem Vollzug der Sicherungsverwahrung ergeben, die durch die Vollstreckungsbehörden des beklagten Landes erfolgt sind.
Die nachträglich verlängerte Sicherungsverwahrung
Die Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage von § 67 d Abs. 3 StGB (i.d.F. von 1998) und deren Vollzug im Zeitraum vom 04.12.1999 bis 12.10.2010 stellte eine rechtswidrige Freiheitsentziehung i. S. von Art. 5 Abs. 5 EMRK dar.
Die mit der Sicherungsverwahrung verbundene Freiheitsentziehung konnte sich nicht auf Rechtfertigungsgründe nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 a) – f) EMRK stützen und erfolgte auch nicht auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise, Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EMRK. Auf die zutreffenden und vom Senat geteilten Feststellungen des Landgerichts zu Art. 5 Abs. 1 Satz 2 a), c) und e) EMRK sowie zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Vorschriften, auf deren Grundlage die Fortdaueranordnung erfolgte, wird verwiesen. Die Ausführungen dazu werden auch von der Berufung nicht in Zweifel gezogen.
Gefährdungshaftung – kein Verschulden
Ein Verschulden der innerstaatlichen Organe setzt die als Gefährdungshaftung ausgestaltete Schadensersatzpflicht nach Art. 5 Abs. 5 EMRK nicht voraus [5].
Keine zeitliche Einschränkung des Schadensersatzanspruchs
Entgegen der Rechtsansicht des beklagten Landes kommt der für den Schadensersatzanspruch nach Art. 5 Abs. 5 EMRK vorausgesetzten Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung nach Abs. 1 keine konstitutive, die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung erst begründende Wirkung zu. Dies lässt sich weder dem Wortlaut noch einer systematischen und teleologischen Auslegung von Art. 5 Abs. 5 EMRK entnehmen.
Art. 5 Abs. 5 EMRK gewährt jeder Person, die unter Verletzung des Freiheitsrechts von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, einen Anspruch auf Schadensersatz. Eine Einschränkung der Schadensersatzpflicht in zeitlicher Hinsicht sieht der Wortlaut nicht vor. Anknüpfungspunkt der Schadensersatzpflicht ist der Eingriff in das Freiheitsrecht nach Art. 5 Abs. 1 EMRK. Beschränkungen des Freiheitsrechts sind nur nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EMRK gerechtfertigt. Aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EMRK ergibt sich nichts dafür, dass die Rechtswidrigkeit des Eingriffs einer darauf bezogenen konstitutiven Feststellung bedarf. Der Senat folgt auch der in der Literatur vertretenen Ansicht, dass es sich bei der Gefährdungshaftung nach Art. 5 Abs. 5 EMRK in der Sache um die Ausprägung eines Folgenentschädigungsanspruchs handelt, wonach für die Folgen eines primär zu unterlassenden Eingriffs dann eine Entschädigung zu zahlen ist, wenn eine Folgenbeseitigung unzumutbar, oder – wie hier – unmöglich ist [6]. Die Beschränkung der Schadensersatzpflicht auf Freiheitsentziehungen nach Feststellung ihrer Konventionswidrigkeit würde zudem Art. 5 Abs. 5 EMRK seines wesentlichen Anwendungsbereichs berauben, da die gerichtliche Feststellung der Konventionswidrigkeit dem Eingriff in der Regel nachzufolgen pflegt, oftmals auch zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem die Freiheitsentziehung bereits beendet ist. Der mit Art. 5 Abs. 5 EMRK bezweckte Ausgleich bei rechtswidrigen staatlichen Eingriffen in das Freiheitsrecht wäre bei dieser Auslegung jedoch nahezu bedeutungslos. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist die Konvention jedoch so auszulegen und anzuwenden, dass ihre Rechte praktisch und effektiv und nicht lediglich theoretisch und illusorisch sind [7]. Für den Schadensersatzanspruch kommt es daher nicht darauf an, zu welchem Zeitpunkt eine auch in Bezug auf den Kläger wirksame Entscheidung über die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 EMRK erfolgt ist.
Schadensersatz vs. Vertrauensschutz und Rechtssicherheit?
Der Entschädigungsanspruch nach Art. 5 Abs. 5 EMRK wird nicht immanent durch Vertrauensschutzgesichtspunkte oder das Prinzip der Rechtssicherheit eingeschränkt.
Da der Entschädigungsanspruch kein Verschulden voraussetzt, kommt es nicht darauf an, dass die Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung aufgrund § 67d Abs. 3 StGB (i.d.F. von 1998) der damaligen Gesetzeslage entsprochen hat, von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zunächst nicht beanstandet worden ist und die Vollstreckungsbehörden des beklagten Landes verpflichtet waren, die verlängerte Sicherungsverwahrung zu vollstrecken. Das Vertrauen des beklagten Landes und seiner Behörden auf die Rechtmäßigkeit der angewandten Vorschriften ist gegenüber dem Interesse des Einzelnen, dass in sein Freiheitsrecht von Konventionsorganen oder innerstaatlichen Organen nicht sanktionslos rechtswidrig eingegriffen werden darf, unbeachtlich.
Auch das dem Konventionsrecht innewohnende Prinzip der Rechtssicherheit steht der Zubilligung einer Entschädigung für Haftzeiten in der Vergangenheit nicht entgegen.
Zwar hat der EGMR aus diesem Prinzip, insbesondere bei festgestellter Konventionswidrigkeit gesetzlicher Vorschriften, eine zeitliche Begrenzung der Wirkung seiner Entscheidungen abgeleitet und festgestellt, dass das dem Konventions- und Gemeinschaftsrecht innewohnende Prinzip der Rechtssicherheit den Mitgliedstaat davon entbinden kann, Handlungen oder Rechtslagen nachträglich im Hinblick auf die durch Urteil des EGMR festgestellte Konventionswidrigkeit in Frage zu stellen [8].
Diese Grundsätze lassen sich jedoch nicht auf die Entschädigungsregelung nach Art. 5 Abs. 5 EMRK übertragen. Durch die Zubilligung einer Entschädigung und die in diesem Rahmen getroffene Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Freiheitsentziehung werden Interessen der Rechtssicherheit des Mitgliedsstaates nicht berührt. Vielmehr soll durch die Zubilligung einer Entschädigung gerade in Fällen, in denen ein rechtswidriger Eingriff in das Freiheitsrecht erfolgt ist und nicht mehr beseitigt werden kann, ein Ausgleich durch Gewährung von Schadensersatz erreicht werden. Im Übrigen ist die Menschenrechtskonvention nach der Rechtsprechung des EGMR ein lebendiges Instrument, das im Lichte der heutigen Verhältnisse auszulegen ist [9].
Schadensersatz wegen Beeinträchtigung des Freiheitsrechtes
Dem Betroffenen steht nach Art. 5 Abs. 5 EMRK ein Anspruch auf Ersatz seines immateriellen Schadens infolge der Beeinträchtigung seines Freiheitsrechtes zu.
Art. 5 Abs. 5 EMRK ist ein Gesetz i. S. des § 253 BGB, wonach wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine Entschädigung gefordert werden kann [10].
Der Entschädigungsanspruch nach Art. 5 Abs. 5 EMRK bezweckt eine vollständige Rehabilitation des Verletzten, der so gestellt werden soll, als hätte der rechtswidrige Eingriff in seine persönliche Freiheit nicht stattgefunden. Der Entschädigungsanspruch wegen immaterieller Schäden soll dabei die Diskriminierung und psychische Belastung durch die Inhaftierung ausgleichen und dem Geschädigten Genugtuung verschaffen [11]. Da Gegenstand der Garantie nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EMRK die Freiheitsentziehung als solche ist, nicht aber die Modalitäten des Vollzugs [12], ist entgegen der Rechtsansicht des beklagten Landes die Höhe des Schmerzensgeldes nicht daran zu bemessen, ob die Sicherungsverwahrung unter Verstoß gegen das Abstandsgebot zum regulären Strafvollzug vollstreckt worden ist. Vielmehr sind der Verlust der persönlichen Freiheit und die damit einhergehenden Belastungen für die Bemessung des Schmerzensgeldes maßgebend.
An der Schwere des Eingriffs in das Freiheitsrecht bestehen keine Zweifel.
Da die Entschädigung verschuldensunabhängig ausgestaltet ist, fehlt es entgegen der Rechtsansicht des beklagten Landes nicht schon deshalb an einem die Entschädigungspflicht auslösenden erheblichen Eingriff in das Freiheitsrecht, weil die innerstaatlichen Organe ein Verschuldensvorwurf nicht trifft. Zwar entspricht es der Rechtsprechung des EGMR, dass ein Eingriff in das Freiheitsrecht nicht notwendigerweise auch die Zubilligung einer Entschädigung erfordert. Der EGMR hat es jedoch lediglich in Fällen der Verletzung von Verfahrensvorschriften oder bei ganz kurzfristigem Freiheitsentzug als ausreichend angesehen, dass die Konventionswidrigkeit festgestellt wird und es darüber hinaus nicht der Zubilligung eines Schmerzensgeldes bedarf [13]. Diese Voraussetzungen sind jedoch offensichtlich nicht gegeben.
Bemessung des Schadensersatzanspruchs
Vorliegend hielt das Oberlandesgericht einen immateriellen Schadensersatzanspruch in Höhe von 65.000 € für angemessen:
Hierbei wurde ausgegangen von einer immateriellen Entschädigung in Höhe von 500 € pro Monat. Dies ist unter Heranziehung der Bemessungspraxis des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in vergleichbaren Fällen [14] sowie unter Berücksichtigung, dass es sich um einen verschuldensunabhängigen Anspruch handelt und ein Verschulden der handelnden Organe nicht festgestellt werden kann, nicht zu beanstanden. Auf die Tagessätze nach dem Strafrechtsentschädigungsgesetz kommt es nicht an, da bereits dessen sachlicher Anwendungsbereich nicht eröffnet ist.
Ein Mitverschulden nach §§ 839 Abs. 3, 254 Abs. 2 BGB hat sich der Kläger nicht anrechnen zu lassen. Er hat es nicht vorwerfbar versäumt, die Widerrechtlichkeit des Freiheitsentzuges mit einem Rechtsbehelf zu rügen. Vielmehr stand ihm schon nicht zeitnah ein erfolgversprechendes Rechtsmittel zur Verfügung, nachdem auch das Bundesverfassungsgericht die Anwendung von § 67 d Abs. 3 StGB i.V.m. § 1a Abs. 3 StGB in der Fassung von 1998 als verfassungsgemäß beurteilt hat [15] und erst durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte [16] ein Konventionsverstoß festgestellt worden ist.
Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil vom 29. November 2012 – 12 U 60/12
- BGH, Urteile vom 10.01.1966, BGHZ 45, 46 – 58; und in BGHZ 122, 268 – 282[↩]
- BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 120[↩]
- BVerfGE 74, 358, 370; 83, 119, 128; BVerfG, Beschluss vom 20.12.2000 – 2 BvR 591/00, NJW 2001, 2245, 2246 f.[↩]
- BGHZ 45, 30ff.; BGHZ 45, 46 ff.; BGHZ 122, 268ff.; IntKommEMRK (Renzikowski) Art. 5 Rdnr. 312[↩]
- BGHZ 45, 58 – 83, Tz. 35, 38; BGHZ 122, 268 – 282, Tz. 40, 44[↩]
- IntKommEMRK (Renzikowski) Art. 5 Rdnr. 314[↩]
- EGMR, Urteil vom 11.07.2002 – 28957/95, NJW-RR 2004, 289, 291[↩]
- EGMR, Urteile vom 13.06.1979 – 6833/4, NJW 1979, 2449, 2453 – Marckx; vom 29.11.1991 – 12849/87 – Vermeiere; und vom 28.05.2009 – 3545/04[↩]
- EGMR, Urteil vom 28.05.2009 – 3545/04[↩]
- BGHZ 122, 268[↩]
- BGHZ 122, 268 – 282; IntKommEMRK (Renzikowski) Art. 5 Rdnr. 324[↩]
- BGHZ 122, 268 – 282[↩]
- IntKommEMRK (Renzikowski) Art. 5 Rdnr. 328[↩]
- EGMR, Urteile vom 17.12.2009 – 19359/04, Tz. 139, 141; EGMR, vom 13.01.2011 – 17792/07, Tz. 88; 20008/07, Tz. 71; 27360/04, Tz. 92; 42225/07, Tz. 92; vom 24.11.2011 – 48038/06, Tz. 115, 116; und vom 19.04.2012 – 61272/09, Tz. 105[↩]
- BVerfG, Urteil vom 05.02.2004 – 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133[↩]
- EGMR, Urteil vom 17.12.2009 – 19359/04, NJW 2010, 2495 – 2499[↩]