Schwarzfahrer

Reicht es zur Strafbarkeit des Schwarzfahrens aus, einfach Bus oder Bahn ohne gültigen Fahrschein zu benutzen oder muss der Schwarzfahrer zusätzlich noch etwa eine Kontrollperson aktiv täuschen oder eine Kontrolleinrichtung umgehen? Diese Frage ist seit einiger Zeit umstritten.

Schwarzfahrer

Im strafrechtlichen Schrifttum ist es inzwischen herrschende Ansicht, dass ein Erschleichen einer Beförderung durch ein Verkehrsmittel im Sinne des § 265 a Abs. 1 StGB voraussetze, dass der Täter sich mit einem täuschungsähnlichen oder manipulativen Verhalten in den Genuss der Leistung bringe; allein die Entgegennahme einer Beförderungsleistung ohne gültigen Fahrausweis, die nicht mit der Umgehung von Kontroll- oder Zugangssperren oder sonstigen Sicherheitsvorkehrungen verbunden sei, reiche nicht aus. Dies folge zum einen aus dem Wortsinn des Begriffs „Erschleichen“, zum anderen aus der systematischen Stellung der Vorschrift im Rahmen der §§ 263 bis 265 b StGB.

Demgegenüber steht die Rechtsprechung der meisten Oberlandesgerichte, die unter dem Erschleichen einer Beförderung im Sinne des § 265 a Abs. 1 StGB jedes der Ordnung widersprechende Verhalten verstehen, durch das sich der Täter in den Genuss der Leistung bringt und bei welchem er sich mit dem Anschein der Ordnungsmäßigkeit umgibt. Eines heimlichen Vorgehens des Täters, einer List, einer Täuschung oder einer Umgehung von Sicherungen oder Kontrollen bedürfe es nicht; das Erschleichen einer Beförderung entfalle auch nicht deshalb, weil der Zugang zum Verkehrsmittel nicht kontrolliert werde.

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Das OLG Naumburg wollte nun in einem bei ihm anhängigen Revisionsverfahren von dieser bisher einheitlichen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte im Sinne der herrschenden Literaturmeinung abweichen und legte die Frage gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof vor. Und dessen Antwort war eindeutig:

Eine Beförderungsleistung wird bereits dann im Sinne des § 265 a Abs. 1 StGB erschlichen, wenn der Täter ein Verkehrsmittel unberechtigt benutzt und sich dabei allgemein mit dem Anschein umgibt, er erfülle die nach den Geschäftsbedingungen des Betreibers erforderlichen Voraussetzungen.

Der Wortlaut der Norm setzt, so der BGH, weder das Umgehen noch das Ausschalten vorhandener Sicherungsvorkehrungen oder regelmäßiger Kontrollen voraus. Nach seinem allgemeinen Wortsinn beinhaltet der Begriff der „Erschleichung“ lediglich die Herbeiführung eines Erfolges auf unrechtmäßigem, unlauterem oder unmoralischem Wege. Er enthält allenfalls ein „täuschungsähnliches“ Moment dergestalt, dass die erstrebte Leistung durch unauffälliges Vorgehen erlangt wird; nicht erforderlich ist, dass der Täter etwa eine konkrete Schutzvorrichtung überwinden oder eine Kontrolle umgehen muss.

Diese Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Erschleichen“ verstößt auch nicht gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG. Da das Tatbestandsmerkmal schon im Hinblick auf seine Funktion der Lückenausfüllung eine weitere Auslegung zulässt, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, unter dem Erschleichen einer Beförderung jedes der Ordnung wider-sprechende Verhalten zu verstehen, durch das sich der Täter in den Genuss der Leistung bringt und bei welchem er sich mit dem Anschein der Ordnungsmäßigkeit umgibt.

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Auch die Entstehungsgeschichte der Norm spricht für die Auslegung des Begriffs des Erschleichens im Sinne der obergerichtlichen Rechtsprechung. Die Vorschrift des § 265 a StGB geht, soweit sie das „Schwarzfahren“ unter Strafe stellt, auf Art. 8 der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935 zurück. Sie sollte vor allem die Lücke schließen, die sich bei der Erschleichung von Massenleistungen bezüglich der Anwendung des § 263 StGB ergaben. Das Reichsgericht hatte bereits im Jahre 1908 in einem „Schwarzfahrerfall“ entschieden, dass der Tatbestand des § 263 StGB keine Anwendung finden könne, da nicht festgestellt war, in welcher Weise sich der Täter die Möglichkeit zur Benutzung der Eisenbahn verschafft und ob er einen Bahnmitarbeiter getäuscht hatte (RGSt 42, 40, 41); es hatte angeregt, die bestehende Strafbarkeitslücke für sogenannte blinde Passagiere durch eine neue Strafvorschrift zu schließen. Die im Jahre 1935 eingeführte Vorschrift des § 265 a StGB entsprach fast wörtlich dem § 347 (Erschleichen freien Zutritts) des Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1927, in dessen Begründung es unter anderem heißt: „Erschleichen ist nicht gleichbedeutend mit Einschleichen. Auch wer offen durch die Sperre geht, sich dabei aber so benimmt, als habe er das Eintrittsgeld entrichtet, erschleicht den Eintritt. Auch ein bloß passives Verhalten kann den Tatbestand des Erschleichens erfüllen; so fällt auch der Fahrgast einer Straßenbahn unter die Strafdrohung, der sich entgegen einer bestehenden Verpflichtung nicht um die Erlangung eines Fahrscheins kümmert“.
Die Vorschrift sollte also gerade diejenigen Fälle erfassen, in denen es unklar bleibt, ob der Täter durch täuschungsähnliches oder manipulatives Verhalten Kontrollen umgeht. Der gesetzgeberische Wille ist nicht etwa deswegen unbeachtlich, weil sich die bei Schaffung des Gesetzes bestehenden Verhältnisse insoweit geändert haben, als heute, auch zu Gunsten einer kostengünstigeren Tarifgestaltung, auf Fahrscheinkontrollen weitgehend verzichtet wird. Der Gesetzgeber hat die Bestimmung so weit gefasst, dass sie auch auf neue Fallgestaltungen angewendet werden kann.

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Der erkennbare Wille des heutigen Gesetzgebers spricht ebenfalls für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals des Erschleichens im Sinne der obergerichtlichen Rechtsprechung. Er wird daraus deutlich, dass § 265 a Abs. 1 StGB trotz der Angriffe von Teilen des Schrifttums gegen diese Rechtsprechung und trotz verschiedener Reformvorhaben unverändert gelassen wurde. Zwei Gesetzesentwürfe scheiterten. Der Gesetzentwurf des Bundesrates, der für eine Beförderungserschleichung eine Beschränkung des § 265 a StGB auf wiederholtes Handeln oder solches unter Umgehung von Kontrollmechanismen und die Einführung eines Ordnungswidrigkeitstatbestandes für erstmaliges Schwarzfahren vorsah, ist nach einer ersten Beratung im Bundestag nicht weiter behandelt worden. Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der unter anderem die Streichung der Alternative „Beförderung durch ein Verkehrsmittel“ in § 265 a StGB und die Ersetzung durch einen Bußgeldtatbestand vorsah, wurde während der Beratungen zum 6. StrRÄndG abgelehnt. Auch die Vorschläge der niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts, die eine ersatzlose Streichung des § 265 a StGB gefordert hatte, und der hessischen Kommission „Kriminalpolitik“, die eine Ergänzung der dritten Alternative des § 265 a Abs. 1 StGB um das Merkmal der Täuschung einer Kontrollperson vorgeschlagen hatte, gaben dem Gesetzgeber keine Veranlassung zu einer Änderung bezüglich der Beförderungserschleichung.

Schließlich führt auch der Vergleich mit den anderen Tatbestandsalternativen des § 265 a Abs. 1 StGB zu keiner anderen Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Erschleichen“. Zwar erfordert die unberechtigte Inanspruchnahme von Automatenleistungen oder von Leistungen eines öffentlichen Zwecken dienenden Telekommunikationssystems in der Regel eine aktive Manipulation oder Umgehung von Sicherungsmaßnahmen. Dies folgt aber daraus, dass diese Leistungen nur auf eine spezielle Anforderung hin erbracht werden. Im Unterschied dazu wird die Beförderungsleistung dadurch für eine bestimmte Person erbracht, dass diese in das ohnehin in Betrieb befindliche Verkehrsmittel einsteigt und sich befördern lässt; eine vergleichbare aktive Umgehung von Kontrolleinrichtungen beim Zugang zu einem Verkehrsmittel ist daher schon der Sache nach nicht erforderlich. Notwendig ist deshalb auch nicht, dass der Anschein ordnungsgemäßer Erfüllung der Geschäftsbedingungen gerade gegenüber dem Beförderungsbetreiber oder seinen Bediensteten erregt wird; es genügt vielmehr, dass sich der Täter lediglich allgemein mit einem entsprechenden Anschein umgibt.

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Soweit in der Literatur Gesichtspunkte der Entkriminalisierung des „Schwarzfahrens“ angeführt werden, ist dies nach Ansicht des BGH für die Auslegung des § 265 a StGB unbeachtlich. Es sei nicht Aufgabe der Rechtsprechung, so der BGH, dem Gesetzgeber vorbehaltene rechtspolitische Zielsetzungen zu verwirklichen.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 8. Januar 2009 – 4 StR 117/08