Sexueller Missbrauch der „Stiefenkelin“

Mit der Frage, wie der von § 174 Ab. 1 Nr. 3 StGB geschützte Personenkreis zu umgrenzen ist, hatte sich aktuell der Bundesgerichtshof zu befassen:

Sexueller Missbrauch der „Stiefenkelin“

In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall ist der Angeklagte der „Stiefgroßvater“ der am 13.03.2003 geborenen Stiefenkelin. Sein Sohn ist mit der Mutter der Stiefenkelin verheiratet. Der Angeklagte übernahm alle zwei Wochen nachmittags für ein bis zwei Stunden die Betreuung der damals 15- bzw. 16jährigen Stiefenkelin. Dabei nutzte er die Zeit, um die Stiefenkelin, begleitet von anzüglichen Bemerkungen, an den Armen und Schultern, später auch an ihrem Gesäß und an ihrer Brust zu streicheln, um sich sexuell zu erregen. Die Stiefenkelin lehnte die Annäherungsversuche, die sie als sehr unangenehm empfand, stets ab. Ungeachtet dessen setzte der Angeklagte sein Verhalten gegen ihren Willen fort, wobei er teilweise erhebliche Kraft entfaltete, sodass die Stiefenkelin immer wieder blaue Flecken erlitt. Das Landgericht Darmstadt hat die konkrete Anzahl der Übergriffe nicht feststellen können. Es hat jedoch sechs Einzeltaten im Zeitraum von Anfang 2018 bis zum 2.09.2019 individualisiert, bei denen die Stiefenkelin 15 Jahre beziehungsweise 16 Jahre alt war.

Der Schuldspruch des Landgerichts Darmstadt1 hatte vor dem Bundesgerichtshof keinen Bestand. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen diesen nicht, soweit das Landgericht den Angeklagten in sämtlichen Fällen auch wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen verurteilt hat:

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Nach § 174 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB in der unverändert gebliebenen Fassung vom 21.01.20152 wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer Person unter 18 Jahren vornimmt oder an sich von dieser vornehmen lässt, die sein leiblicher oder rechtlicher Abkömmling oder der seines Ehegatten, seines Lebenspartners oder einer Person ist, mit der er in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftlicher Gemeinschaft lebt.

Die Stiefenkelin ist kein leiblicher Abkömmling des Angeklagten.

Leibliche Abkömmlinge sind Personen, die biologisch vom Täter abstammen3, sodass neben leiblichen Kindern auch die gemäß § 1589 Satz 1 BGB in gerader Linie absteigenden Verwandten (Enkel und Urenkel) umfasst sind4.

Ein derartiges Abstammungsverhältnis ist zwischen dem Angeklagten und seiner „Stiefenkelin“ nicht festgestellt.

Die Stiefenkelin unterfällt auch nicht als rechtlicher Abkömmling des Angeklagten dem Schutzbereich der Norm.

Rechtliche Abkömmlinge eines Mannes sind adoptierte Kinder, die nach § 1754 BGB die rechtliche Stellung eines Kindes des Annehmenden erlangen, oder Kinder, die nach § 1592 Nr. 1 bis Nr. 3 BGB rechtlich einem Mann zugeordnet werden, ohne von diesem abzustammen5.

Hieran gemessen ist nicht festgestellt, dass die Stiefenkelin ein rechtlicher Abkömmling des Angeklagten ist. Den Feststellungen lässt sich – auch unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe – nicht entnehmen, dass der Sohn des Angeklagten bereits zum Zeitpunkt der Geburt der Stiefenkelin im Jahr 2003 mit deren Mutter verheiratet war (§ 1592 Nr. 1 BGB) oder die minderjährige Stiefenkelin adoptiert hat (§ 1754 Abs. 1, Abs. 2 BGB) und dadurch ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Angeklagten und der Stiefenkelin begründet wurde6.

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Die Feststellung des Landgerichts, der Angeklagte sei der „Stiefgroßvater“ der Stiefenkelin, eröffnet nicht den Schutzbereich des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB.

Zwar hat der Gesetzgeber den Täterkreis mit der Neufassung des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB durch das 49. StRÄndG vom 21.01.2015 erweitert, indem er den Schutz der Vorschrift auch auf leibliche und rechtliche Abkömmlinge des Ehegatten, Lebenspartners oder der Person, mit der der Täter in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft lebt, erstreckt hat. Er hat damit die – leiblichen und rechtlichen ? Kinder des Ehe- oder Lebenspartners (Stiefkinder) und deren Abkömmlinge (Stiefenkel des Täters) sowie von derjenigen Person, mit der der Täter in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Beziehung zusammenlebt7, in den Schutzbereich der Vorschrift einbezogen8. Der Gesetzgeber wollte hierdurch den Schutz von Jugendlichen gegenüber sexuellen Übergriffen in ihrem engsten sozialen und verwandtschaftlichen Umfeld verbessern9, da § 174 Abs. 1 StGB in der Fassung vom 27.12.2003 für eine Strafbarkeit von Stiefeltern oder (Stief)Großeltern deren Übernahme von Erziehungsverantwortung voraussetzte10.

„Stiefenkel“ sind daher nur insoweit vom Schutzbereich des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfasst, als es sich um Abkömmlinge des Ehe- oder Lebenspartners des Täters beziehungsweise einer Person, mit der er in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft lebt, handelt. Stiefkinder der eigenen Abkömmlinge fallen danach nicht unter die Vorschrift. Dieses – am eindeutigen Wortlaut orientierte – Verständnis der Vorschrift entspricht dem Willen des Gesetzgebers, der ihren Schutzbereich auf „leibliche und angenommene Abkömmlinge sowie diejenigen des Ehegatten oder Lebenspartners (Enkel, Stiefkinder und Stiefenkel) …“ erstrecken wollte9.

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Danach unterfällt die Stiefenkelin im Verhältnis zu dem Angeklagten nicht dem von § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF geschützten Personenkreis.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22. Juni 2021 – 2 StR 131/21

  1. Landgericht Darmstadt, Urteil vom 12.01.2021 – 200 Js 54548/19 2 KLs[]
  2. BGBl. I S. 10[]
  3. vgl. Palandt/Siede, BGB, 80. Aufl., Einf. v. § 1591 Rn. 1 mwN; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 174 Rn. 13[]
  4. vgl. BGH, Urteil vom 29.10.1980 – 2 StR 508/80, BGHSt 29, 387 f.; MünchKomm-StGB/Renzikowski, 4. Aufl., § 174 Rn. 37 f.; Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, 2. Aufl., § 174 Rn. 23[]
  5. vgl. BT-Drs. 18/3202 (neu), S. 26; BeckOK-StGB/Ziegler, 50. Ed., § 174 Rn. 9; MünchKomm-StGB/Renzikowski, aaO, Rn. 37[]
  6. vgl. MünchKomm-BGB/Maurer, 8. Aufl., § 1754 Rn. 12[]
  7. vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 23.01.2018 – 1 StR 625/17 5 ff.[]
  8. BT-Drs. 18/2601, S. 26; MünchKomm-StGB/Renzikowski, aaO Rn. 38; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl., § 174 Rn. 4[]
  9. BT-Drs. 18/2601, aaO[][]
  10. vgl. BT-Drs. 18/2601, aaO[]

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