Liegen Umstände vor, die eine tatsachenfundierte Schätzung orientiert an den konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls als möglich erscheinen lassen, darf sich das Gericht nicht einer pauschalen, an Durchschnittswerten orientierten Schätzung der Besteuerungsgrundlagen bedienen.

Im Steuerstrafverfahren ist die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen zulässig1, wenn feststeht, dass
- der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat,
- die tatsächlichen Verhältnisse, die für die Bemessung der Steuer maßgebend sind, aber ungewiss sind.
Ziel der Schätzung ist es, aus den vorhandenen Anhaltspunkten in einem Akt des Schlussfolgerns und der Subsumtion diejenigen Tatsachen zu ermitteln, von deren Richtigkeit der Tatrichter überzeugt ist2.
Die Schätzung ist so vorzunehmen, dass sie im Ergebnis einem ordnungsgemäß durchgeführten Bestandsvergleich bzw. einer ordnungsgemäßen Einnahmeüberschussrechnung möglichst nahekommt3. Sie muss daher schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein.
Soweit Tatsachen zur Überzeugung des Tatrichters feststehen, hat er diese der Schätzung zugrunde zu legen.
Die im Rahmen des Steuerstrafverfahrens erfolgende Schätzung steht zudem unter dem Gebot, dass sich unüberwindbare Zweifel zugunsten des Angeklagten auswirken müssen4. Dementsprechend müssen die vom Besteuerungsverfahren abweichenden Verfahrensgrundsätze (§ 261 StPO) eingehalten werden5.
Erforderlichenfalls hat der Tatrichter einen als erwiesen angesehenen Mindestschuldumfang festzustellen6. Das bedeutet u.a., dass der Tatrichter die Schätzung der Höhe nach auf den Betrag zu begrenzen hat, der ?mindestens? hinterzogen worden ist7.
Allerdings darf nicht vorschnell auf eine pauschale Schätzung – etwa in Form eines Anteils am Umsatz oder vorliegender, (unvollständiger) Angebote- ausgewichen werden, wenn eine tatsachenfundierte Berechnung anhand der bereits vorliegenden und der erhebbaren Beweismittel möglich erscheint. Die zuverlässige Klärung, ob eine für die Berechnung verlässliche Tatsachengrundlage beschafft werden kann, ist dabei auch und besonders Aufgabe der Ermittlungsbehörden. Deshalb wäre es verfehlt und würde die Hauptverhandlung mit unnötigem Aufklärungsaufwand belasten, wenn die Ermittlungsbehörden sich darauf beschränkten, die Quote zu schätzen, ohne zuvor ausermittelt zu haben, ob eine tatsachenfundierte Berechnung möglich ist.
Um einen unverhältnismäßigen Untersuchungsaufwand zu vermeiden8, kann die Schätzung aber auch anhand repräsentativer Stichproben erfolgen. Gerade dann, wenn sich solche Feststellungen bei angemessenem Aufklärungsaufwand nicht treffen lassen, darf das Tatgericht eine an den Umständen des Falles orientierte Schätzung unter Beachtung des Zweifelssatzes vornehmen9.
Die so gewonnenen Ergebnisse sind jedoch auf ihre Zuverlässigkeit zu überprüfen. So erscheint es oftmals möglich, durch die Vernehmung eines repräsentativen Anteils der ermittelbaren Kunden die Schätzung tatsachenfundiert zu überprüfen. Ebenso könnte das Ergebnis eines bereits im Ermittlungsverfahren durch Fragebögen ermittelte[n] Auftragsvolumen[s] in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Ob es in derartigen Fällen dann noch einer persönlichen Vernehmung von Kunden bedarf, entscheidet sich nach den Erfordernissen des Amtsaufklärungsgrundsatzes (§ 244 Abs. 2 StPO) und des Beweisantragsrechts10.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16. September 2020 – 1 StR 140/20
- st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 29.01.2014 – 1 StR 561/13, wistra 2014, 276; vom 04.02.1992 – 5 StR 655/91, wistra 1992, 147; und vom 10.09.1985 – 4 StR 487/85, wistra 1986, 65; Urteil vom 26.10.1998 – 5 StR 746/97, BGHR AO § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 1, 2[↩]
- BGH, Beschluss vom 24.05.2007 – 5 StR 58/07, wistra 2007, 345; vgl. auch BFH, Urteil vom 26.02.2002 – – X R 59/98, BFHE 198, 20, BStBl – II 2002, 450[↩]
- BFH, Urteil vom 19.01.1993 – – VIII R 128/84, BFHE 170, 511, BStBl – II 1993, 594, Rn. 23[↩]
- Joecks in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 8. Aufl., § 370 Rn. 81[↩]
- BGH, Beschluss vom 10.11.2009 – 1 StR 283/09, wistra 2010, 148[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 10.11.2009 – 1 StR 283/09, wistra 2010, 148 sowie Jäger in Klein, AO, 12. Aufl., § 370 Rn. 96 mwN[↩]
- Rüsken in Klein, AO, 12. Aufl., § 162 Rn.19a[↩]
- BGH, Beschluss vom 19.09.2007 – 3 StR 354/07, StV 2008, 9[↩]
- BGH, Beschluss vom 05.03.2002 – 3 StR 491/01, NStZ 2002, 438, 439[↩]
- insb. § 244 Abs. 3 StPO[↩]