Steuerhinterziehung trotz Kenntnis des Finanzamtes

Eine Strafbarkeit wegen vollendeter Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO aufgrund unrichtiger oder unvollständiger Angaben entfällt nicht deshalb, weil den zuständigen Finanzbehörden alle für die Steuerfestsetzung bedeutsamen Tatsachen bekannt waren und zudem sämtliche Beweismittel (§ 90 AO) bekannt und verfügbar waren.

Steuerhinterziehung trotz Kenntnis des Finanzamtes

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt der Tatbestand der Steuerhinterziehung in der hier einschlägigen Variante des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO (Abgabe unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen) keine gelungene Täuschung des zuständigen Finanzbeamten voraus. Dies folgt bereits aus dem vom Betrugstatbestand des § 263 StGB abweichenden Wortlaut des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO. Es genügt daher, dass die unrichtigen oder unvollständigen Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen in anderer Weise als durch eine Täuschung für die Steuerverkürzung oder das Erlangen nicht gerechtfertigter Steuervorteile ursächlich werden1. Deshalb kommt es auch auf den Kenntnisstand der Finanzbehörden von der Unrichtigkeit der gemachten Angaben nicht an. Dementsprechend würde der hier unter Beweis gestellte Verdacht des Münchner Steuerfahnders die Erfüllung des Tatbestandes der Steuerhinterziehung auch dann nicht ausschließen, wenn der Beweis gelungen wäre2.

Darüber hinaus greift § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO selbst dann ein, wenn der zuständige Veranlagungsbeamte von allen für die Veranlagung bedeutsamen Tatsachen Kenntnis hat und zudem sämtliche Beweismittel (§ 90 AO) bekannt und verfügbar sind3. Im Gegensatz zu § 370 Abs.1 Nr. 2 AO ist bei § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO – schon nach seinem Wortlaut – nicht auf eine Kenntnis oder Unkenntnis der Finanzbehörden abzustellen4 oder das ungeschriebene Merkmal der „Unkenntnis“ der Finanzbehörde vom wahren Sachverhalt in den Tatbestand hineinzulesen5. Dies stünde im Widerspruch zu der Wertung des Gesetzgebers in den Regelbeispielen des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nrn. 2 und 3 AO, die die Mitwirkung eines Amtsträgers unabhängig von dessen Zuständigkeit als besonders strafwürdig einstufen. Anders als in der Unterlassungsvariante setzt der Täter bei Begehung durch aktives Tun mit Abgabe der dann der Veranlagung zugrunde gelegten – aber unrichtigen – Erklärung eine Ursache, die im tatbestandsmäßigen Erfolg (i.S.d. § 370 Abs. 4 Satz 1 AO) stets wesentlich fortwirkt. Der Erfolg wäre auch bei Kenntnis der Finanzbehörden vom zutreffenden Besteuerungssachverhalt – anders als in der Unterlassungsvariante – weder ganz noch zum Teil ohne den vom Steuerpflichtigen in Gang gesetzten Geschehensablauf eingetreten. Insofern realisiert sich gerade auch in dem Machen der falschen Angaben (neben einem möglicherweise strafrechtlich relevanten Verhalten des die zutreffenden Besteuerungsgrundlagen kennenden Veranlagungsbeamten) die durch § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO rechtlich missbilligte Gefahr einer Steuerverkürzung6.

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Die Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung kann auch nicht durch die mit dem Beweisantrag implizit aufgestellte Behauptung einer verzögerten Verfahrenseinleitung in Frage gestellt werden7.

Das Verhalten der Finanzbehörden konnte vorliegend auch keinen Einfluss auf den Strafausspruch haben.

Zwar kann ein Verhalten des Steuerfiskus (gleich einem Mitverschulden oder einer Mitverursachung des Verletzten) strafmildernd zu berücksichtigen sein. Es kann daher Fälle geben, in denen strafschärfend berücksichtigtes Verhalten eines Angeklagten (etwa Skrupellosigkeit, Raffinesse oder Hartnäckigkeit) ins Verhältnis zum Verhalten der zum Schutze der staatlichen Vermögens-interessen berufenen Beamten zu setzen ist8. Dies gilt jedoch allenfalls dann, wenn das staatlichen Stellen vorwerfbare Verhalten unmittelbar auf das Handeln des Angeklagten Einfluss genommen hat (etwa weil er bislang nicht tatgeneigt war oder ihm wenigstens die Tat erleichtert wurde) und den staatlichen Entscheidungsträgern die Tatgenese vorgeworfen werden kann9. Derartiges hätte weder durch den in Rede stehenden Beweisantrag bewiesen werden können, noch ist es sonst vorgetragen oder ersichtlich.

Ein Anspruch eines Straftäters darauf, dass die Ermittlungsbehörden rechtzeitig gegen ihn einschreiten, um seine Taten zu verhindern, besteht nicht. Insbesondere folgt ein solcher Anspruch nicht aus dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 Abs. 1 EMRK10. Es wäre daher rechtsfehlerhaft gewesen, dies hier zugunsten des Angeklagten zu werten.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14. Dezember 2010 – 1 StR 275/10

  1. vgl. BGH, Urteil vom 06.06.2007 – 5 StR 127/07, NStZ 2007, 596, 597; Beschluss vom 19.10.1999 – 5 StR 178/99, wistra 2000, 63, 64; Urteil vom 19.12.1990 – 3 StR 90/90, BGHSt 37, 266, 285; so auch BFH, BStBl II 2006, 356, 357[]
  2. vgl. BGH, Beschluss vom 19.10.1999 – 5 StR 178/99, wistra 2000, 63, 64[]
  3. vgl. BGH, Beschluss vom 19.10.1999 – 5 StR 178/99, wistra 2000, 63, 64, wo die aufgezeigte Fragestellung nicht entscheidungserheblich war[]
  4. so aber Schmitz/Wulf in MüKo-StGB, § 370 AO Rn. 241[]
  5. vgl. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl., § 370 AO Rn. 198 f.[]
  6. so jetzt auch Ransiek in Kohlmann, Steuerstrafrecht, 42. Lfg. März 2010, § 370 Rn. 581 ff.[]
  7. vgl. BGH, Beschluss vom 12.01.2005 – 5 StR 191/04, wistra 2005, 148, 149[]
  8. vgl. BGH, Beschluss vom 03.05.1983 – 1 StR 25/83, wistra 1983, 145[]
  9. vgl. BGH, Urteil vom 29.01.2009 – 3 StR 474/08, NStZ-RR 2009, 167[]
  10. BGH, Beschluss vom 15.01.2003 – 1 StR 506/02, NStZ-RR 2003, 172 f.; BGH, Beschluss vom 17.07.2007 – 1 StR 312/07, NStZ 2007, 635[]
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