Strafgesetze – und die Grenzen ihrer Auslegung

103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Bedeutung dieser Verfassungsnorm erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie1.

Strafgesetze – und die Grenzen ihrer Auslegung

Dabei ist „Analogie“ nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die – tatbestandsausweitend – über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht2

Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen kann immer nur der Gesetzestext sein. Somit erweist sich dieser als maßgebendes Kriterium. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten garantieren will, ist die Wortlautgrenze aus dessen Sicht zu bestimmen3. Der Gesetzgeber hat also zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich und notwendig erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will4. Den Gerichten ist es verwehrt, seine Entscheidung zu korrigieren5. Würde erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende Deutung zur Strafbarkeit eines Verhaltens führen, so müssen sie zum Freispruch gelangen und dürfen nicht korrigierend eingreifen6. Dies gilt auch dann, wenn infolge des Bestimmtheitsgebots besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das pönalisierte Verhalten. Es ist dann Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er die Strafbarkeitslücke bestehen lassen oder durch eine neue Regelung schließen will7

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Den Strafgerichten ist es mithin nicht erlaubt, eine Strafbestimmung über ihren eindeutigen, einer Auslegung nicht zugänglichen Wortlaut hinaus allein im Blick auf den Normzweck anzuwenden; dies verstieße gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG festgeschriebene Analogieverbot im Strafrecht8. Nicht verwehrt ist den Strafgerichten hingegen eine weite – seine Grenze aber nicht überschreitende – Auslegung des Wortlauts einer Strafbestimmung. Gerade wenn der Normzweck eindeutig und offensichtlich ist, kann eine daran orientierte weite Auslegung des Wortsinns geboten sein, denn unter dieser Voraussetzung kann der Normadressat das strafrechtlich Verbotene seines Handelns vorhersehen, was zu gewährleisten Sinn des Art. 103 Abs. 2 GG ist9. Art. 103 Abs. 2 GG enthält allerdings auch Vorgaben für die Handhabung weit gefasster Tatbestände und Tatbestandselemente. Die Gerichte dürfen nicht durch eine fernliegende Interpretation oder ein Normverständnis, das keine klaren Konturen mehr erkennen lässt, dazu beitragen, bestehende Unsicherheiten über den Anwendungsbereich einer Norm zu erhöhen, und sich damit noch weiter vom Ziel des Art. 103 Abs. 2 GG entfernen10

Bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung, ob die Strafgerichte diesen aus Art. 103 Abs. 2 GG folgenden Vorgaben gerecht geworden sind, ist wegen des strengen Gesetzesvorbehalts auch eine strenge inhaltliche Kontrolle gefordert11. Sowohl die Überschreitung der Grenzen des Strafgesetzes als auch die Konturierung und Präzisierung ihres Inhalts betreffen die Entscheidung über die Strafbarkeit und damit die Abgrenzung von Judikative und Legislative. Die Klärung der insoweit aufgeworfenen Fragen ist Sache des Bundesverfassungsgerichts12.

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Allerdings ist es auch bei der Rüge des Analogieverbots des Art. 103 Abs. 2 GG nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, seine Auffassung von der zutreffenden oder überzeugenden Auslegung des einfachen Rechts an die Stelle derjenigen der Strafgerichte zu setzen13. Es unterzieht ein – gegebenenfalls in höchstrichterlichen Obersätzen – gefestigtes Normverständnis einer inhaltlichen Kontrolle nur in dem Sinn, dass es zur Konturierung der Norm nicht evident ungeeignet ist14. Insoweit werden – ebenso wie hinsichtlich der Anwendung der gegebenenfalls durch Obersätze konturierten und präzisierten Strafnorm – grundsätzlich keine Fragen des Verfassungsrechts aufgeworfen15

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16. August 2021 – 2 BvR 972/21

  1. vgl. BVerfGE 75, 329 <340> 126, 170 <194> 130, 1 <43>[]
  2. vgl. BVerfGE 92, 1 <12> 126, 170 <197> 130, 1 <43> BVerfG, Beschluss vom 05.05.2021 – 2 BvR 2023/20 u.a., Rn. 13[]
  3. vgl. BVerfGE 92, 1 <12> 126, 170 <197> 130, 1 <43>[]
  4. vgl. BVerfGE 130, 1 <43> 153, 310 <339 f. Rn. 72> BVerfGK 10, 442 <445> 14, 177 <182>[]
  5. vgl. BVerfGE 126, 170 <197> 130, 1 <43>[]
  6. vgl. BVerfGE 64, 383 <393> 126, 170 <197> 130, 1 <43>[]
  7. vgl. BVerfGE 92, 1 <13> 126, 170 <197> BVerfGK 10, 442 <445> 14, 177 <182>[]
  8. vgl. BVerfGE 26, 41 <42> 47, 109 <121, 124>[]
  9. vgl. BVerfGE 28, 175 <183> 48, 48 <56> 57, 250 <262> BVerfG, Beschluss vom 04.12.2003 – 2 BvR 1107/03, Rn. 3[]
  10. vgl. BVerfGE 71, 108 <121> 87, 209 <224 ff., 229> 92, 1 <19> BVerfG, Beschluss vom 28.07.2015 – 2 BvR 2558/14 u.a., Rn. 64[]
  11. vgl. BVerfGE 126, 170 <199> 130, 1 <44> BVerfG, Beschluss vom 28.07.2015 – 2 BvR 2558/14 u.a., Rn. 65[]
  12. vgl. BVerfGE 126, 170 <199> 130, 1 <44>[]
  13. vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.12.2000 – 2 BvR 1290/99, Rn.19; Beschluss vom 04.12.2003 – 2 BvR 1107/03, Rn. 3[]
  14. vgl. BVerfGE 26, 41 <43> 126, 170 <200>[]
  15. vgl. BVerfGE 126, 170 <200>[]
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