Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen1. Besonders bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen erfordert dies, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen2.

Dabei greift das Gebot, die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen zu erhalten und zu festigen, nicht erst dann ein, wenn er bereits Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweist3. Das Interesse des Gefangenen, vor den schädlichen Folgen aus der langjährigen Inhaftierung bewahrt zu werden und seine Lebenstüchtigkeit im Falle der Entlassung aus der Haft zu behalten, hat ein umso höheres Gewicht, je länger die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bereits andauert4.
Androhung und Vollstreckung der Freiheitsstrafe finden ihre verfassungsrechtlich notwendige Ergänzung in einem sinnvollen Behandlungsvollzug5. Dementsprechend hat der Gesetzgeber dem Vollzug der Freiheitsstrafe ein Behandlungs- und Resozialisierungskonzept zugrunde gelegt6. Der Wiedereingliederung des Gefangenen dienen unter anderem die Vorschriften über Vollzugslockerungen beziehungsweise vollzugsöffnende Maßnahmen7. Durch diese Maßnahmen werden dem Gefangenen zudem Chancen eingeräumt, sich zu beweisen und zu einer günstigeren Entlassungsprognose zu gelangen8. Erstrebt ein Gefangener diese Maßnahmen, so wird er durch deren Versagung in seinem durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse berührt9.
Gerade bei Gefangenen, die die Voraussetzungen für vollzugslockernde Maßnahmen im eigentlichen Sinne etwa wegen einer konkret bestehenden Flucht- oder Missbrauchsgefahr noch nicht erfüllen, dienen Ausführungen dem Erhalt und der Festigung der Lebensfähigkeit und ‑tüchtigkeit10. Bei langjährig Inhaftierten kann es daher, selbst wenn noch keine konkrete Entlassungsperspektive besteht, jedenfalls geboten sein, zumindest Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt11. Der damit verbundene personelle Aufwand ist dann hinzunehmen12.
Aufgrund dieser Bedeutung darf sich eine Justizvollzugsanstalt, wenn sie vollzugslockernde Maßnahmen und Ausführungen versagt, nicht auf bloße pauschale Wertungen oder auf den Hinweis einer abstrakten Flucht- oder Missbrauchsgefahr beschränken. Sie hat vielmehr im Rahmen einer Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darzulegen, welche geeignet sind, die Prognose einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren. Ob dies geschehen ist, hat die Strafvollstreckungskammer zu überprüfen13.
Versagt die Justizvollzugsanstalt eine Vollzugslockerung unter Annahme ei- ner Flucht- oder Missbrauchsgefahr, prüfen die Fachgerichte im Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG, ob die Vollzugsbehörde die unbestimmten Rechtsbegriffe richtig ausgelegt und angewandt hat. Zwar verlangt der Versagungsgrund der Flucht- und Missbrauchsgefahr eine Prognoseentscheidung und eröffnet der Vollzugsbehörde einen – verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden – Beurteilungsspielraum, in dessen Rahmen sie bei Achtung der Grundrechte des Gefangenen mehrere Entscheidungen treffen kann, die gleichermaßen rechtlich vertretbar sind14. Der Beurteilungsspielraum entbindet die Vollstreckungsgerichte indes nicht von ihrer rechtsstaatlich fundierten Prüfungspflicht15. Das Gericht hat dementsprechend den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde den zugrunde gelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt und damit eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat16.
Legt das Strafvollstreckungsgericht seiner Entscheidung diesen Maßstab zugrunde, prüft das Bundesverfassungsgericht lediglich, ob das Strafvollstreckungsgericht der Vollzugsbehörde einen zu weiten Beurteilungsspielraum zugebilligt und damit Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruchs verkannt hat und ob die angegriffene Entscheidung unter Zugrundelegung des dargelegten fachgerichtlichen Maßstabs schlechthin nicht mehr nachvollziehbar ist und damit den aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abzuleitenden Anspruch auf willkürfreie Entscheidung (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt17.
Nach diesem Maßstab konnten im hier entschiedenen Fall die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts Bielefeld18 und des Oberlandesgerichts Hamm19 keinen Bestand haben:
Die Entscheidung des Landgerichts genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Wenn das Gericht dem Gefangenen entgegenhält, die Justizvollzugsanstalt sei rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass die Voraussetzung von Ausführungen die (konkrete) Gefahr sei, dass Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit drohten, was diese anhand von Prognosekriterien verneint habe, verfehlt es – wie zuvor schon die Justizvollzugsanstalt – den Sinn des grundrechtlichen Gebots, einem Verlust der Lebenstüchtigkeit des Gefangenen nach Möglichkeit entgegenzuwirken beziehungsweise dessen Lebenstüchtigkeit zu festigen. Dieses Gebot bezieht sich als Element der staatlichen Verpflichtung, den Haftvollzug am Resozialisierungsziel auszurichten, offensichtlich nicht nur auf den drohenden Verlust von für das Leben in Haft bedeutsamen Fähigkeiten, sondern gerade auch auf die Erhaltung der Tüchtigkeit für ein Leben in Freiheit. Der Gefangene soll so lebenstüchtig bleiben, dass er sich im Falle einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben wieder zurechtfindet20. Mit der Annahme, das Gebot, die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen zu erhalten und zu festigen, greife erst ein, wenn der Gefangene Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation aufweist, die sich bereits als Einschränkung seiner Lebenstüchtigkeit unter den Verhältnissen der Haft bemerkbar macht, wird es daher grundlegend missverstanden21. Bei den von der Justizvollzugsanstalt herangezogenen Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation, wonach Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit im Ergebnis erst gewährt werden, wenn sich Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten abzeichnen, handelt es sich um nichts anderes als bereits konkret vorliegende haftbedingte Schädigungen. Dies hat das Landgericht, wie zuvor schon die Justizvollzugsanstalt, verkannt. Dem hohen Gewicht, das dem Resozialisierungsinteresse des Gefangenen nach rund siebenjährigem Freiheitsentzug für die Ermessensentscheidung der Justizvollzugsanstalt zukam, hat es auf diese Weise nicht hinreichend Rechnung getragen.
Auch der Bewertung des Landgerichts, dass die von der Justizvollzugsanstalt herangezogene Missbrauchs- und Fluchtgefahr die Versagung von Ausführungen trage, verkennt die Bedeutung und Tragweite des Resozialisierungsgrundrechts und die trotz des Beurteilungsspielraums bei der Bewertung von Flucht- und Missbrauchsgefahr fortbestehende Prüfungspflicht der Gerichte. Denn insoweit erschöpft sich die Versagungsentscheidung der Justizvollzugsanstalt in dem pauschalen Verweis auf eine vor zehn Jahren aus dem offenen Vollzug heraus begangene Tat des Gefangenen, von der, ohne dass aktuelle Erkenntnisse die Gefahrenprognose untermauern, nicht ohne Weiteres auf eine bis heute fortbestehende Missbrauchsgefahr geschlossen werden kann. Dasselbe gilt für die lediglich mit der ausstehenden Reststrafe begründete Fluchtgefahr. Diese Erwägungen tragen die Versagung demnach erkennbar nicht. Beide Wertungen stehen überdies in einem – im fachgerichtlichen Verfahren trotz Hinweis des Gefangenen nicht aufgeklärten – Widerspruch zu der Einlassung der Justizvollzugsanstalt, die Überstellung des Gefangenen in den offenen Vollzug – die üblicherweise ein besonderes Vertrauen in die Absprachefähigkeit des Gefangenen voraussetzt – sei in Bearbeitung.
Darauf, dass das Landgericht auch nicht hinreichend geprüft hat, inwiefern die Justizvollzugsanstalt der von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen, etwa auch einer verdeckten Fesselung, hätte entgegenwirken können, kommt es demnach nicht mehr an. Insoweit ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die pauschale Versagung einer Ausführung mit dem Argument, sie entspreche nicht dem realen Erleben und verfehle ihren Zweck, wenn sie unter Sicherheitsvorkehrungen stattfinde, nicht nur die Eigenarten einer Ausführung im System der vollzugsöffnenden Maßnahmen verkennt, sondern auch deren Bedeutung für den Erhalt und die Festigung der Lebenstüchtigkeit langjährig Inhaftierter grundlegend falsch gewichtet.
Das Oberlandesgericht hat seinem Beschluss über die Rechtsbeschwerde ergänzende Bemerkungen hinzugefügt, die den Gefangenen ebenfalls in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzen. Auch das Oberlandesgericht berücksichtigt die Bedeutung und Tragweite des Resozialisierungsgrundrechts nicht hinreichend, wenn es – unter Hinweis auf die eigene Rechtsprechung – feststellt, dass Ausführungen auch bei langjährig Inhaftierten nur geboten seien, wenn Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit konkret drohten, und dies im vorliegenden Fall verneint. Wie zuvor schon das Landgericht verkennt das Oberlandesgericht, dass es, indem es ein durch Anzeichen belegtes Drohen von Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit in der Haft zur Voraussetzung von Ausführungen macht, nichts anderes als das Vorliegen von haftbedingten Depravationen fordert, denen durch Gewährung von Ausführungen gerade vorgebeugt werden soll. Solche bereits bemerkbaren Defizite dürfen demnach von Verfassungs wegen nicht zur Voraussetzung von Ausführungen langjährig Inhaftierter erhoben werden. Auch wenn ein langjährig inhaftierter Strafgefangener, wie der Gefangene, noch keine Anzeichen haftbedingter Schädigungen und keine Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten unter den Bedingungen der Haft zeigt, folgt aus dem Resozialisierungsgrundrecht, dass ihm Ausführungen zu gewähren sind, es sei denn, einer konkret und durch aktuelle Tatsachen belegten Missbrauchs- oder Fluchtgefahr kann durch die Begleitung von Bediensteten und, soweit erforderlich, durch zusätzliche Weisungen und Auflagen wie etwa der verhältnismäßigen Anordnung einer (verdeckten) Fesselung nicht hinreichend begegnet werden. Auch der Beschluss des Oberlandesgerichts leidet demnach unter den verfassungsrechtlich zu beanstandenden Mängeln, die bereits der landgerichtliche Beschluss aufweist.
Da die angegriffenen Entscheidungen schon wegen Verstoßes gegen das Resozialisierungsgrundrecht verfassungswidrig sind, kann offenbleiben, ob sie auch weitere Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Gefangenen verletzen.
Nach § 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG sind die angegriffenen Beschlüsse aufzuheben. Der dem fachgerichtlichen Verfahren zugrundeliegende Antrag des Gefangenen dürfte sich infolge seiner Termingebundenheit zwar erledigt haben. Die Sache ist jedoch zur erneuten Entscheidung über die Kosten an das Landgericht Bielefeld zurückzuverweisen22
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 18. September 2019 – 2 BvR 1165/19
- vgl. BVerfGE 116, 69, 85 f. m.w.N.; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 45, 187, 238; 64, 261, 277; 98, 169, 200; 109, 133, 150 f.; BVerfGK 17, 459, 462; 19, 306, 315; 20, 307, 312; stRspr[↩]
- BVerfGK 19, 157, 165; BVerfG, Beschluss vom 04.05.2015 – 2 BvR 1753/14, Rn. 27[↩]
- vgl. BVerfGE 64, 261, 272 f.; 70, 297, 315; BVerfG, Beschluss vom 04.05.2015 – 2 BvR 1753/14, Rn. 27[↩]
- vgl. BVerfGE 45, 187, 238; 64, 261, 272 f.; 109, 133, 150 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 117, 71, 91[↩]
- vgl. BVerfGE 117, 71, 92[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.08.2010 – 2 BvR 729/08, Rn. 32[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 05.08.2010 – 2 BvR 729/08, Rn. 32; und vom 26.10.2011 – 2 BvR 1539/09, Rn. 17[↩]
- vgl. BVerfGK 17, 459, 462; 19, 306, 315 f.; 20, 307, 312[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10.09.2008 – 2 BvR 719/08, Rn. 3; und vom 05.08.2010 – 2 BvR 729/08, Rn. 32[↩]
- vgl. BVerfGK 17, 459, 462 f.; 19, 306, 316; 20, 307, 313[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297, 308; dazu auch BVerfG, Beschluss vom 05.08.2010 – 2 BvR 729/08, Rn. 32 m.w.N.; Beschluss vom 15.05.2018 – 2 BvR 287/17, Rn. 32[↩]
- vgl. BGHSt 30, 320, 324 f.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.04.1998 – 2 BvR 1951/96, Rn.20[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297, 308[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.04.1998 – 2 BvR 1951/96, Rn. 21[↩]
- LG Bielefeld, Beschluss vom 15.01.2019 – 101 StVK 4188/18[↩]
- OLG Hamm, Beschluss vom 09.05.2019 – III‑1 Vollz(Ws) 92/19[↩]
- vgl. BVerfGE 45, 187, 240; BVerfG, Beschlüsse vom 12.11.1997 – 2 BvR 615/97, Rn. 10; und vom 13.12 1997 – 2 BvR 1404/96, Rn. 15; Beschlüsse vom 05.08.2010 – 2 BvR 729/08, Rn. 32; und vom 26.10.2011 – 2 BvR 1539/09, Rn. 23[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.10.2011 – 2 BvR 1539/09, Rn. 23[↩]
- vgl. BVerfGE 35, 202, 245; 128, 326, 407[↩]
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