Corona – und das Risiko in der Untersuchungshaft

Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass Gefangene in nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalten einem gegenüber der Durchschnittsbevölkerung erhöhtem Infektionsrisiko ausgesetzt sind.

Corona – und das Risiko in der Untersuchungshaft

Mit dieser Begründung hat das Oberlandesgericht Hamm in dem hier vorliegenden Fall einer Haftbeschwerde entschieden. Seit März 2019 sitzt der 32-jährige Angeklagte in Untersuchungshaft. Vom Landgericht Bielefeld ist er am 7. Oktober 2019 wegen Betäubungsmitteldelikten zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt worden. Dieses Urteil ist nicht rechtskräftig.

Mit seiner Haftbeschwerde hat der Angeklagte geltend gemacht, ihm sei im Alter von 16 Jahren eine neue Herzklappe eingesetzt worden. Aufgrund dieser Operation müsse er bis heute Marcumar einnehmen. Er leide unter Kurzatmigkeit, eine Vorschädigung seiner Lunge sei nicht auszuschließen und sein Immunsystem sei geschwächt. Er sei deshalb besonders gefährdet, sich mit dem SARS-CoV-2-Virus anzustecken bzw. infolge einer Ansteckung mit dem Virus und Erkrankung an COVID-19 besonders schwerwiegende gesundheitliche Folgen zu erleiden. In der Justizvollzugsanstalt, in der die Untersuchungshaft zurzeit vollzogen werde, sei er vor diesem Risiko nicht ausreichend geschützt. Beim Freigang würden die Mindestabstände von 1,5 bis 2 Metern nicht überwacht und nie eingehalten. Es gebe keine regelmäßige Reinigung oder Desinfektion der Freiflächen, bei Neuaufnahmen werde kein Infektionstest durchgeführt.

In seiner Entscheidung hat das Oberlandesgericht Hamm ausgeführt, dass bei einem Gefangenen, der bei Fortdauer der Untersuchungshaft mit irreversiblen und schwerwiegenden Schäden an seiner Gesundheit oder dem Tode rechnen müsse, sein Freiheitsgrundrecht durch die Fortsetzung der Haft verletzt werde. Dies sei hier jedoch nicht der Fall. Dabei könne dahinstehen, ob der Angeklagte zu einer sog. Risikogruppe gehöre. Denn es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass Gefangene in nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalten einem gegenüber der Durchschnittsbevölkerung erhöhtem Infektionsrisiko ausgesetzt seien.

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Weiterhin verweist das Oberlandesgericht Hamm auf die Zahlen des Robert Koch-Instituts, nach denen bis zum 07.05.2020 in Deutschland 20,0 von 10.000 Einwohnern und in Nordrhein-Westfalen 19,1 von 10.000 Einwohnern positiv auf das COVID-19-Virus getestet worden. In den nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalten seien bis zum 04.05.2020, 14:00 Uhr, bei vier Gefangenen entsprechende Tests positiv gewesen. Selbst wenn nur die Hälfte der Haftplätze in Gefängnissen in NRW belegt sei, liege die Quote der außerhalb des Justizvollzugs positiv Getesteten mindestens viermal höher. Nicht zu befürchten sei, dass die Dunkelziffer der unerkannten SARS-CoV-2-Infektionen im Justizvollzug signifikant höher sei als in der Allgemeinbevölkerung. Denn die Justizvollzuganstalten orientierten sich beim Umgang mit der Epidemie an den Vorgaben des Robert Koch-Instituts.

Außerdem sei in der Justizvollzugsanstalt, in der der Angeklagte inhaftiert sei, bislang kein Fall eines mit SARS-CoV-2 infizierten Gefangenen oder Bediensteten bekannt geworden. Dies und die geringen Fallzahlen im Justizvollzug in NRW insgesamt sprächen dafür, dass die ergriffenen Maßnahmen jedenfalls in der gegenwärtigen Situation und nach heutigem Kenntnisstand ausreichten, um den Angeklagten ebenso wie alle anderen Gefangenen in NRW angemessen vor einer Ansteckung mit dem SARS-CoV-2-Virus zu schützen. Dazu zählten u.a. ein Besuchsverbot sowie die vorsorgliche Isolierung und Testung von Verdachtsfällen. Soweit der Angeklagte geltend mache, in den Freistunden sei die Einhaltung des Mindestabstands von 1,5 Metern nicht gewährleistet, seien die Gefangenen hierfür in erster Linie selbst verantwortlich. Angesichts der Platzverhältnisse auf dem Freistundenhof der JVA könne sich der Angeklagte jederzeit in einen Bereich des Hofs begeben, in dem die Mindestabstände eingehalten würden.

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Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 7. Mai 2020 – III-3 Ws 157/20

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