Vor dem Bundesverfassungsgericht war die Verfassungsbeschwerde eines Sicherungsverwahrten gegen seine mehrtägige Fesselung während eines Krankenhausaufenthalts erfolgreich. Das Bundesverfassungsgericht sah den Sicherungsverwahrten durch die sich über 96 Stunden erstreckende Fesselung während des Krankenhausaufenthalts in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt.

Der Ausgangssachverhalt
Der Beschwerdeführer leidet unter verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die bereits in der Vergangenheit Behandlungen in Krankenhäusern außerhalb des Vollzugs erforderlich machten. Vom 13. bis zum 16.10.2020 befand er sich in stationärer Behandlung in einem Universitätsklinikum. Vor und nach dem Transport in die Klinik wurde er auf Grundlage einer Hausverfügung der Justizvollzugsanstalt Werl vollständig entkleidet am gesamten Körper durchsucht, während er sich um die eigene Achse drehen musste. Die Fahrten zwischen Justizvollzugsanstalt und Krankenhaus erfolgten mit armverschränkender Handfesselung in einem vollvergitterten Transporter, der in Boxen unterteilt war, in Begleitung zweier bewaffneter Bediensteter. Bei der Voruntersuchung war der Beschwerdeführer durchgängig mit überkreuzten Händen gefesselt. Am Morgen des 14.10.2020 wurde er in Begleitung eines Bediensteten ohne Handfesselung, aber gefesselt am Fuß im Bett in den OP-Vorraum verbracht, wo ihm die Fußfessel abgenommen und durch eine über Kreuz angelegte Fesselung an den Händen ersetzt wurde. Während der Vollnarkose wurde die Fesselung der Hände entfernt und nach dem Aufwachen erneut eine Handfessel angelegt. Nach zwei Stunden im Aufwachraum wurde die Handfessel durch eine am Bettrahmen befestigte Fußfessel ausgetauscht, die während der Nachsorge für weitere drei Tage angelegt blieb. Bei täglichen, durch zwei bewaffnete Bedienstete begleiteten Spaziergängen wurde der Beschwerdeführer an den Händen statt an den Füßen gefesselt.
Die Entscheidungen der Fachgerichte
Der Beschwerdeführer stellte einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung und Eilrechtsschutz hinsichtlich der Umstände seiner Ausführung ins Krankenhaus. Er sei insgesamt mehr als 96 Stunden ununterbrochen gefesselt gewesen, was Bewegungsfreiheit und Schlaf beeinträchtigt habe. Mit der am Bettrahmen befestigten Fußfessel sei ein Drehen oder Anwinkeln der Beine nicht möglich gewesen. Die Fesselung habe ihm Schmerzen bereitet. Bei den täglichen Spaziergängen außerhalb der Klinik sei er auf unangenehme Weise an den Händen gefesselt gewesen und gleichzeitig durch zwei Vollzugsbedienstete bewacht worden.
Die Justizvollzugsanstalt bezog hierzu Stellung. Die Fesselungsanordnung sei rechtmäßig gewesen. Für den Beschwerdeführer bestehe ein Fluchtanreiz schon wegen des noch unbekannten Vollzugsendes der Sicherungsverwahrung. Bei einem Transport ins Krankenhaus sei die Situation unübersichtlich. Über eine ungefesselte Ausführung werde nur entschieden, wenn der Untergebrachte zunächst einige Ausführungen gefesselt beanstandungsfrei absolviert habe, was auf den Beschwerdeführer nicht zutreffe.
Das Landgericht Arnsberg wies die Anträge des Beschwerdeführers zurück1. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt, dass eine Fesselung erforderlich gewesen sei, sei nicht zu beanstanden. Dem Beschwerdeführer als Untergebrachtem in der Sicherungsverwahrung mit noch unbestimmter Vollzugsdauer könne eine gewisse Fluchtmotivation zugesprochen werden. Die Justizvollzugsanstalt habe noch keine ausreichenden Erfahrungswerte darüber, wie sich der Beschwerdeführer bei Transporten verhalte. Die Situation im Krankenhaus sei hinsichtlich Räumlichkeiten und Publikumsverkehr unvorhersehbar. Die Justizvollzugsanstalt habe „die Grenzen des [ihr] zustehenden Beurteilungsspielraumes nicht überschritten und insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit eingehalten“. Dabei sei zu berücksichtigen, dass je nach Situation eine unterschiedliche Fesselung vorgelegen habe und jeweils die mildeste Art der Fesselung gewählt worden sei. Die Fesselung auf den Fahrten über Kreuz an den Händen sei nach Auskunft des Anstaltsarztes auch angesichts der Erkrankungen des Beschwerdeführers medizinisch unbedenklich. Auch die körperliche Durchsuchung sei nicht zu beanstanden gewesen.
Die gegen den Beschluss des Landgerichts erhobene Rechtsbeschwerde verwarf das Oberlandesgericht Hamm als unzulässig2. Das Landgericht habe zutreffend ausgeführt, dass die Justizvollzugsanstalt eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Fesselung und Durchsuchung getroffen habe.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, die mehrtägige Fesselung verletze ihn in seinen Grundrechten. Die körperliche Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung hat er nicht zum Gegenstand seiner Verfassungsbeschwerde gemacht.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde ur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die insoweit für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht.
Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts sind grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte, unterliegen aber der verfassungsgerichtlichen Prüfung daraufhin, ob sie die Grenze zur Willkür überschreiten oder die Bedeutung eines Grundrechts grundsätzlich verkennen3. Der fachgerichtliche Spielraum ist insbesondere dann überschritten, wenn das Gericht bei der Gesetzesauslegung und -anwendung in offensichtlich nicht zu rechtfertigender Weise den vom Gesetzgeber gewollten und im Gesetzestext ausgedrückten Sinn des Gesetzes verfehlt4 oder das zu berücksichtigende Grundrecht völlig unbeachtet gelassen hat5.
Grundrechte dürfen nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes und nur unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden; dies gilt auch für Grundrechte von Gefangenen6. Bei einer Fesselungsanordnung handelt es sich um einen gewichtigen Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht7. Bei der Bestimmung des Gewichts des Eingriffs im konkreten Einzelfall spielen neben der mit einer sichtbaren Fesselung einhergehenden stigmatisierenden Wirkung und der Dauer und konkreten Durchführungsart der Fesselung auch etwaige gesundheitliche Beeinträchtigungen des Gefangenen, sein Alter sowie der Umstand eine Rolle, ob er durch sein Verhalten Veranlassung zu der Fesselung gegeben hat.
Diese Wertungen liegen auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zugrunde, der Fesselungen regelmäßig an Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) misst. Seine Rechtsprechung ist bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen8. Der EGMR bezieht bei der Beurteilung der Frage, ob eine Fesselung gegen Art. 3 EMRK verstößt, die individuelle Vorgeschichte und den Gesundheitszustand des betroffenen Gefangenen, etwaiges gefährliches Vorverhalten in Haft, ergänzend angewandte Sicherungsmaßnahmen sowie die Dauer und öffentliche Wahrnehmbarkeit der Fesselung ein9. Die mit der Fesselung verbundene Zwangsanwendung ist auf das unausweichliche Maß zu beschränken10. So stellt die eintägige Fesselung eines Gefangenen an sein Krankenbett eine unmenschliche Behandlung dar, wenn in Anbetracht von Alter, Gesundheitszustand und dem Fehlen konkreter Anhaltspunkte für ein von dem Gefangenen ausgehendes Sicherheitsrisiko die Fesselung auch in Anbetracht von zwei anwesenden Sicherheitskräften als unverhältnismäßig erscheint11. Maßgeblich zu berücksichtigen ist, ob die Fesselung angeordnet wurde, obwohl der Gefangene durch sein Verhalten während der Haft in der Vergangenheit keinen Grund zu Beanstandungen gegeben hat12. Das routinemäßige Fesseln eines Gefangenen, der sich in einer gesicherten Umgebung befindet, kann nicht gerechtfertigt werden13. Das Wohlergehen der gefesselten Person ist regelmäßig zu überprüfen14 und der Einsatz der Fesseln ist von der anordnenden Instanz vollständig zu dokumentieren15. In Übereinstimmung mit Part.IV.68.03. der European Prison Rules, die bei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit von Haftbedingungen indiziell zu berücksichtigen sind16, ist die Dauer der Fesselung auf das unerlässliche Maß zu beschränken. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) hat in seinem Bericht an die deutsche Bundesregierung über seinen Länderbesuch in Deutschland im Dezember 2020 – allerdings in Bezug auf das Festhalten von Menschen in Polizeieinrichtungen – empfohlen, von der Fesselung von Personen an feste Gegenstände abzusehen17.
Die Fesselung ist als besondere Sicherungsmaßnahme in § 69 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 6, § 70 StVollzG NRW verankert, die über § 69 SVVollzG NRW auch für den Vollzug der Sicherungsverwahrung zur Anwendung kommen. § 69 Abs. 2 Nr. 6 StVollzG NRW differenziert zwischen Fesselung und Fixierung, wobei der nordrhein-westfälische Gesetzgeber unter letzterer gemäß § 70 Abs. 5 Satz 1 StVollzG NRW eine Maßnahme versteht, durch die die Fortbewegungsfreiheit der Gefangenen absehbar nicht nur kurzfristig aufgehoben wird. § 69 Abs. 7, § 70 Abs. 4, Abs. 5 und Abs. 7 StVollzG NRW knüpfen die so verstandene Fixierung an besondere, auch verfahrensrechtliche Voraussetzungen. Angesichts des damit regelmäßig verbundenen Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG bedarf es insbesondere einer richterlichen Anordnung (vgl. § 70 Abs. 5 Satz 1 StVollzG NRW; zu 5-Punkt- und 7-Punkt-Fixierungen vgl. BVerfGE 149, 293).
Der Erheblichkeit des Eingriffs entsprechend statuiert § 69 Abs. 8 StVollzG NRW Anforderungen an die Durchführung der Fesselung, die grundsätzlich nur entweder an Händen oder Füßen zu erfolgen und den Gefangenen zu schonen hat. Die Fesselung ist nach § 69 Abs. 8 Satz 3, § 70 Abs. 3 StVollzG NRW auf das (zeitlich) unbedingt erforderliche Minimum zu beschränken. Die Regelungen werden von Verfahrensvorschriften flankiert, insbesondere der Pflicht zur Dokumentation der Maßnahmen (vgl. § 70 Abs. 4 Satz 4 StVollzG NRW), und zur Benachrichtigung der Aufsichtsbehörde, wenn die Maßnahme mehr als drei Tage aufrecht erhalten wird (vgl. § 70 Abs. 6 StVollzG NRW).
Der Anwendungsbereich für Fesselungen während Ausführungen, Vorführungen und beim Transport ist gemäß § 69 Abs. 9 StVollzG NRW gegenüber den rechtlichen Voraussetzungen, die gemäß § 69 Abs. 1 StVollzG NRW für die Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen allgemein gelten, erweitert. Unabhängig von konkreten, in der Person des Gefangenen liegenden Gründen ist die Fesselung in diesen Konstellationen nach der gesetzlichen Konzeption auch dann zulässig, wenn die Beaufsichtigung nicht ausreicht, um eine Entweichung zu verhindern. Mit Blick auf das nachvollziehbare Interesse der Anstalt an der Gewahrsamsicherung ausreichend, in Anbetracht der verfassungsrechtlichen Vorgaben aber auch notwendig ist, dass bei der Feststellung, eine Beaufsichtigung allein reiche nicht aus, um die Entweichung zu verhindern, die jeweiligen Umstände des Einzelfalles Berücksichtigung finden. Dies gilt auch für die im Rahmen der nach § 69 Abs. 1, Abs. 9 StVollzG NRW zu treffende Ermessensentscheidung über die Anordnung der Fesselung18.
Vor diesem Hintergrund begegnet eine vollzugsbehördliche Praxis, die ohne Prüfung der individuellen Flucht- beziehungsweise Missbrauchsgefahr durch Justizbedienstete beaufsichtigte Ausführungen nur erlaubt, wenn der Gefangene gefesselt ist, mit Blick auf die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Erfordernis einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung verfassungsrechtlichen Bedenken. § 69 Abs. 9 StVollzG NRW darf nicht als eine Vermutungsregel (miss-)verstanden werden, welche die Fesselung bei Ausführungen ohne Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls als Regelfall ohne Weiteres zulässt. Wenn nach den Umständen des Einzelfalls, namentlich dem Vorverhalten des Gefangenen in Haft, seinem Gesundheitszustand, seinem Alter und dem Ablauf vorangegangener Ausführungen die Gefahr der Entweichung bei einer Ausführung auch in Anbetracht der gleichzeitig angeordneten Beaufsichtigung durch (bewaffnete) Justizbedienstete fernliegend ist, verdient das durch eine Fesselung empfindlich berührte allgemeine Persönlichkeitsrecht eines Gefangenen im Regelfall Vorrang vor den Sicherheitsinteressen der Anstalt und der Allgemeinheit. Das gilt insbesondere, wenn die Fesselung über einen längeren Zeitraum andauert.
Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts nicht gerecht.
Das Landgericht hat bei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ermessensentscheidung der Justizvollzugsanstalt Bedeutung und Tragweite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht hinreichend beachtet, indem es die über vier Tage andauernde Fesselung des gesundheitlich beeinträchtigten Beschwerdeführers als verhältnismäßig angesehen hat.
Das Landgericht geht nicht auf die Dauer der Fesselungsanordnung ein. Es ist daher nicht ersichtlich, ob es sich des Umstands gewahr war, dass besondere Sicherungsmaßnahmen, die über einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten bleiben, verschärften Prüfungsanforderungen begegnen19. Die sich über 96 Stunden erstreckende Dauer der Fesselungsmaßnahme überschreitet jedenfalls in der vorliegenden Konstellation das verfassungsrechtlich zulässige Maß. Justizvollzugsanstalt und Landgericht hätten sich insoweit an der einfachrechtlichen Wertung des § 70 Abs. 6 Satz 1 StVollzG NRW orientieren können, der eine Benachrichtigung der Aufsichtsbehörde für den Fall einer über mehr als drei Tage andauernden (Fesselungs-)Maßnahme vorsieht und diese Zeitspanne als jedenfalls im Rahmen der Verfahrensgestaltung zu berücksichtigende Zäsur einordnet.
Zwar hat das Landgericht ausgeführt, der Beschwerdeführer sei je nach Situation unterschiedlich und jeweils auf möglichst schonende Weise gefesselt gewesen. Es hat sich aber nicht hinreichend mit der Frage auseinandergesetzt, ob alle anderen Maßnahmen, welche die Fesselungsanordnung nach Art und Dauer hätten beschränken können, ausgeschöpft wurden. Ein Gefangener kann zwar nicht verlangen, dass unbegrenzt personelle und sonstige Mittel aufgewendet werden, um Beschränkungen seiner grundrechtlichen Freiheiten zu vermeiden20. Hier hätte es angesichts der mehrtägigen Verweildauer im Krankenhaus aber nahegelegen, die Fesselungsanordnung jedenfalls phasenweise auszusetzen und – eine Gefahr des Entweichens unterstellt – in diesen Zeiträumen gegebenenfalls die Zahl der beaufsichtigenden Vollzugsbeamten zu erhöhen.
Nur unzureichend berücksichtigt hat es ferner die individuelle Situation des Beschwerdeführers, sowohl mit Blick auf seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen als auch auf die Wahrscheinlichkeit seiner Entweichung. Wenn das Landgericht ausführt, die Fesselung über Kreuz an den Händen sei „sicherlich nicht angenehm“, aber „medizinisch unbedenklich“ gewesen, geht es zwar auf die gesundheitlichen Einschränkungen des Beschwerdeführers ein, scheint aber das – vom Gericht offenbar angenommene – Fehlen eines zusätzlichen Eingriffs in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als Argument für die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht heranziehen zu wollen. Damit verkennt es das erhebliche Gewicht des letztgenannten Eingriffs, den der Beschwerdeführer als von seinem Verhalten in Haft unabhängig und daher als von ihm nicht zu beeinflussen erlebt. Dass eine angesichts der gesundheitlichen Belastungen des Beschwerdeführers gebotene besondere Rücksichtnahme und eine periodische Überprüfung seines Zustands erfolgt wäre, ist nicht ersichtlich. Zudem hätten sein beanstandungsfreies Vollzugsverhalten und die ihm attestierten Erkrankungen, die ausweislich der Auskunft des Anstaltsarztes ein Entweichen jedenfalls erschwerten, im Rahmen der Ermessensausübung in gewichtigem Maße berücksichtigt werden müssen. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund, dass der Ausführung eine körperliche Durchsuchung voranging, bei der etwaige für eine Flucht nutzbar zu machende Gegenstände hätten auffallen müssen, und sich der Beschwerdeführer beim Transport in einem in Boxen unterteilten vergitterten Transporter befand. Die Argumentation des Landgerichts, angesichts der unübersichtlichen Situation im Straßenverkehr und im Krankenhaus sei die Mehrstufigkeit sich ergänzender Sicherungsmaßnahmen – Fesselung und Beaufsichtigung – nicht zu beanstanden, lässt außerdem die als einfachrechtliche Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu verstehende Konzeption in § 69 Abs. 9 StVollzG NRW außer Acht, wonach eine Fesselung bei Ausführung, Vorführung und Transport gerade nur dann in Betracht kommt, wenn die Beaufsichtigung allein nicht ausreicht; denn insbesondere Ausführungen und Transporte finden typischerweise im öffentlichen Raum beziehungsweise im Straßenverkehr statt.
Das Landgericht ist überdies nicht auf das Unterbleiben der in Übereinstimmung mit den konventionsrechtlichen Vorgaben in § 70 Abs. 4 Satz 4 StVollzG NRW vorgesehenen Dokumentation der Maßnahme durch die Vollzugsbehörde eingegangen, der insbesondere in einem nachgelagerten gerichtlichen Verfahren eine beweissichernde Funktion zukommen kann. Dem verfahrensrechtlichen Gehalt der betroffenen Grundrechte21 wird insoweit nur unzureichend Rechnung getragen.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 23.08.2021 verletzt den Beschwerdeführer ebenfalls in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Indem das Oberlandesgericht ausführt, dass das Landgericht zutreffend dargelegt habe, die Justizvollzugsanstalt habe das ihr zustehende Ermessen bei der Entscheidung über die Fesselung des Beschwerdeführers rechtlich beanstandungsfrei ausgeübt, hat es sich die landgerichtliche Entscheidung mit den verfassungsrechtlich zu beanstandenden Erwägungen zu eigen gemacht. Darin liegt eine eigenständige Verkennung der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.
Auf die Frage, ob angesichts der durch den Beschwerdeführer behaupteten Aufklärungsmängel insbesondere hinsichtlich der Anschnallmöglichkeiten während des Transports auch ein Verstoß gegen Art.19 Abs. 4 GG vorliegt, weil Landgericht und Oberlandesgericht die grundrechtseingreifende Maßnahme der Fesselung bestätigt haben, ohne den Sachverhalt hinreichend aufgeklärt zu haben22, kommt es nach alledem nicht mehr an.
Über die Frage, ob der Beschwerdeführer durch die angegriffenen Entscheidungen auch insoweit in seinen Grundrechten verletzt ist, als diese seine körperliche Durchsuchung mit Entkleidung für rechtmäßig befunden haben, ist nicht zu entscheiden, weil er seine Verfassungsbeschwerde darauf nicht erstreckt hat.
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Hamm und des Landgerichts Arnsberg wurden daher vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben und die Sache an das Landgericht Arnsberg zurückverwiesen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 19. Januar 2023 – 2 BvR 1719/21
- LG Arnsberg, Beschluss vom 27.05.2021 – IV-2 StVK 395/20[↩]
- OLG Hamm, Beschluss vom 23.08.2021 – III-1 Vollz (Ws) 313-315/21[↩]
- vgl. BVerfGE 18, 85 <93> 30, 173 <196 f.> 57, 250 <272> 74, 102 <127> stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 89, 48 <64>[↩]
- vgl. BVerfGE 59, 231 <268 f.> 77, 240 <255 f.>[↩]
- vgl. BVerfGE 33, 1 <11> 89, 315 <322 f.>[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.06.2007 – 2 BvR 2395/06, Rn. 17; BVerfGK 19, 25 <29 f.>[↩]
- vgl. BVerfGE 111, 307 <317> 120, 180 <200 f.> 128, 326 <370 f.>[↩]
- vgl. EGMR, Shlykov and others v. Russia, Urteil vom 19.01.2021, Nr. 78638/11, §§ 72 ff.[↩]
- vgl. EGMR, Shlykov and others v. Russia, Urteil vom 19.01.2021, Nr. 78638/11, § 72[↩]
- vgl. EGMR, Hénaf v. France, Urteil vom 27.11.2003, Nr. 65436/01, §§ 56 ff.[↩]
- vgl. EGMR, Shlykov and others v. Russia, Urteil vom 19.01.2021, Nr. 78638/11, §§ 72 ff.; Kashavelov v. Bulgaria, Urteil vom 20.01.2011, Nr. 891/05, §§ 38 ff.; Salakhov and Islyamova v. Ukraine, Urteil vom 14.03.2013, Nr. 28005/08, § 154[↩]
- vgl. EGMR, Kashavelov v. Bulgaria, Urteil vom 20.01.2011, Nr. 891/05, § 39 f.[↩]
- vgl. EGMR, Wiktorko v. Poland, Urteil vom 31.03.2009, Nr. 14612/02, § 55[↩]
- vgl. EGMR, Bureš v. The Czech Republic, Urteil vom 18.10.2012, Nr. 37679/08, § 103[↩]
- vgl. BVerfGE 116, 69 <90> BVerfGK 12, 422 <424> 20, 93 <101> BVerfG, Beschluss vom 18.03.2015 – 2 BvR 1111/13, Rn. 31[↩]
- CPT/Inf <2022> 18, Nr. 4[↩]
- vgl. Goerdeler, in: Feest/Lesting/Lindemann [Hrsg.], Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl.2022, S. 689 Rn. 45[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.01.2008 – 2 BvR 1661/06, Rn. 45 m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfGE 34, 369 <380 f.> 34, 384 <402> 35, 307 <310> 42, 95 <100 f.> BVerfGK 13, 163 <166> 13, 487 <492> BVerfG, Beschluss vom 23.05.2013 – 2 BvR 2129/11, Rn. 16; Beschluss vom 10.07.2013 – 2 BvR 2815/11, Rn. 17[↩]
- vgl. hierzu BVerfGE 52, 214 <219 ff.> 70, 297 <308 ff.> BVerfG, Beschluss vom 24.01.2008 – 2 BvR 1661/06, Rn. 39; Beschluss vom 18.03.2015 – 2 BvR 1111/13, Rn. 42[↩]
- vgl. BVerfGK 9, 390 <395 f.>[↩]
Bildnachweis:
- Justizvollzugsanstalt: Falco