Sollen einem inhaftierten Beschuldigten Beschränkungen zur Abwehr einer Flucht, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr (§§ 112, 112a StPO) auferlegt werden, ist eine den Anforderungen nach § 119 StPO genügende, einzelfallbezogene Anordnung (sog. Haftstatut) notwendig, die dem Beschuldigten zur Kenntnis zu geben ist.

Da Beschränkungen nach §§ 133 ff. NJVollzG nur zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Vollzugsanstalt getroffen werden dürfen, sind ohne ein Haftstatut nach § 119 StPO Maßnahmen im Rahmen der „Haftkontrolle“ zur Abwehr einer Verdunkelungsgefahr rechtswidrig. Insoweit fehlt es an einer gesetzmäßigen Grundlage für die getroffenen Beschränkungen.
In dem hier vom Oberlandesgericht Celle entschiedenen Fall hat das Landgericht das Anhalten und die Beschlagnahme des Briefes auf eine Umgehung der „Postkontrolle“ gestützt, obwohl eine Anordnung nach § 119 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StPO, dass der Schriftverkehr der Angeklagten zu überwachen ist, zuvor nicht getroffen worden war. Ebenso hat das Landgericht die Erteilung von Erlaubnissen für den Empfang von Besuchen und das Führen von Telefongesprächen abgelehnt, ohne dass eine Anordnung nach § 119 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StPO ergangen war, dass der Empfang von Besuchen und die Telekommunikation der Angeklagten der Erlaubnis bedürfen. Sollen aber einer oder einem inhaftierten Beschuldigten Beschränkungen zur Abwehr einer Flucht, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr (§§ 112, 112a StPO) auferlegt werden, ist eine den Anforderungen nach § 119 StPO genügende, einzelfallbezogene Anordnung (sog. Haftstatut) notwendig, die der oder dem Beschuldigten zur Kenntnis zu geben ist [1]. Eine solche Anordnung ist hier unterblieben. Sie ist insbesondere nicht in dem Aufnahmeersuchen des Amtsgerichts Hannover vom 15.07.2019 und dem diesem beigefügten Formblatt „Anordnungen für den Vollzug“, in dem hinter verschiedenen Textzeilen Felder mit „Ja“ oder „Nein“ angekreuzt worden sind, zu erkennen. Denn weder enthielt diese Anordnung eine Begründung noch ist die bei Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 Satz 6 StPO erforderliche Benachrichtigung der Beschuldigten hierüber erfolgt [2].
Die angefochtenen Entscheidungen finden auch keine Rechtfertigung in §§ 133 ff. NJVollzG.
Zwar enthält das NJVollzG Regelungen zum Vollzug der Untersuchungshaft. Insbesondere bedürfen auch ohne ein „Haftstatut“ nach § 119 Abs. 1 StPO Besuche in der Untersuchungshaft der Erlaubnis des Gerichts (§§ 143, 144 NJVollzG). Der Schriftverkehr von Untersuchungsgefangenen unterliegt der Überwachung (§ 146 NJVollzG). Telefongespräche von Untersuchungsgefangenen bedürfen der Erlaubnis der Vollzugsbehörde, die nur mit Zustimmung des Gerichts erteilt werden darf (§ 148 Abs. 1 NJVollzG).
Allerdings greifen diese Beschränkungen nur, soweit sie zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Vollzugsanstalt erforderlich sind [3]. Denn nachdem das Bundesverfassungsgericht durch Beschluss vom 30.10.2014 [4] entschieden hat, dass auch nach der Übertragung der Gesetzgebungskompetenz für den Untersuchungshaftvollzug auf die Länder die bundesgesetzliche Regelung des § 119 StPO weiterhin die alleinige Rechtsgrundlage für Beschränkungen darstellt, die dem Zweck der Untersuchungshaft zu dienen bestimmt sind, kann der Auffassung, dass § 119 StPO in Niedersachsen für den Bereich der Untersuchungshaft keine Anwendung findet, nicht mehr gefolgt werden [5]. Dementsprechend dürfen einem Untersuchungsgefangenen Beschränkungen, die zur Abwehr einer Flucht, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr erforderlich sind, ausschließlich nach § 119 Abs. 1 StPO auferlegt werden, während ohne ein solches „Haftstatut“ nur Gründe der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt zum Tragen kommen können.
Da im vorliegenden Fall das Landgericht Hannover allein auf Erwägungen einer möglichen Verdunkelungsgefahr abgestellt hat [6], sind die Beschränkungen allein an § 119 Abs. 1 StPO zu messen, dessen Voraussetzungen mangels Haftstatuts – wie bereits ausgeführt – nicht erfüllt sind.
Abgesehen davon tragen auch die sachlichen Erwägungen die angefochtenen Beschränkungen nicht.
Selbst bei unterstellter Umgehung der Postkontrolle würde allein dieser Umstand das Anhalten und die Beschlagnahme des Briefes nicht rechtfertigen. Denn jedenfalls durch die Retoure des Briefes ist derselbe in die Postkontrolle gelangt. Das Landgericht hatte also die Gelegenheit, seinen Inhalt auf Verfahrensrelevantes zu überprüfen. Anhaltspunkte dafür, dass der Brief mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu diente, in unlauterer Weise auf Zeugen einzuwirken, und deshalb die Gefahr begründete, dass die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (Verdunkelungsgefahr), hat jedoch weder das Landgericht aufgezeigt noch vermag das Oberlandesgericht dem Brief solche zu entnehmen. Soweit die Generalstaatsanwaltschaft den Verdacht begründet sieht, dass die Beschwerdeführerin den Empfänger veranlassen wollte, bestimmte Unterlagen und Gegenstände beiseite zu schaffen, um sie so sicher vor den Strafverfolgungsbehörden zu verheimlichen, vermag das Oberlandesgericht sich dem nicht anzuschließen. Denn es hat bereits am 15.07.2019 eine Durchsuchung der Wohnung der Angeklagten stattgefunden, die zur Sicherstellung zahlreicher Gegenstände geführt hat. Abgesehen davon ist der Brief mangels Zustellbarkeit in Rücklauf geraten, wäre also ohnehin nur der Angeklagten wieder auszuhändigen gewesen. Es ist auch nicht erkennbar, dass der Brief als Beweismittel von Bedeutung sein könnte und demgemäß der Beschlagnahme nach § 94 StPO unterlag.
Auch die zur Begründung der Ablehnung der beantragten Telefonerlaubnisse angeführten Umstände reichen nicht aus, die Maßnahme zu tragen.
Zwar kann die Abwehr einer Verdunkelungsgefahr, weil vom Haftzweck generell mitumfasst, Beschränkungen auch dann rechtfertigen, wenn der Haftbefehl nicht ausdrücklich auf diesen Haftgrund gestützt worden ist [7]. Allerdings ist bei der Anwendung von § 119 Abs. 1 StPO immer dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb allein den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf [8]. Voraussetzung für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen auf der Grundlage von § 119 StPO ist eine reale Gefährdung der in der Bestimmung bezeichneten öffentlichen Interessen, der durch die Inhaftierung allein nicht ausreichend entgegengewirkt werden kann. Für das Vorliegen einer solchen Gefahr müssen konkrete Anhaltspunkte bestehen; die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbraucht, reicht nicht aus [9]. Das Vorliegen der Haftgründe allein kann Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO schon deshalb nicht rechtfertigen, weil diese bereits Voraussetzung der Untersuchungshaft und deshalb für sich genommen nicht geeignet sind, die Erforderlichkeit darüber hinausgehender Beschränkungen zu begründen [10]. Deshalb erfüllt die Annahme, eine Verdunkelungsgefahr liege angesichts des Verfahrensgegenstands nahe, nicht die Anforderungen an die gebotene einzelfallbezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung (ebenda).
Vor diesem Hintergrund rechtfertigt jedenfalls mit Blick auf das weite Fortschreiten der Beweisaufnahme allein die vormalige Umgehung der „Haftkontrolle“ nicht die Annahme, dass die Ablehnung der Telefonerlaubnisse zur Abwendung einer Verdunkelungsgefahr erforderlich ist. Denn weder der Entscheidung des Landgerichts vom 25.02.2020 noch derjenigen vom 12.03.2020 ist zu entnehmen, dass die Angeklagte über die Umgehung der Postkontrolle hinaus auch in der Sache substantielle Verdunkelungshandlungen im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO vorgenommen hat oder vornehmen werde.
Oberlandesgericht Celle, Beschluss vom 11. Mai 2020 – 3 Ws 94/20 (UVollz) – 3 Ws 110/20 (UVollz) – 3 Ws 112/20 (UVollz)
- vgl. OLG Celle, Beschluss vom 10.01.2020 – 3 Ws 372/19 [((UVollz][↩]
- vgl. OLG Celle, aaO[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 09.02.2012 – 3 BGs 82/12, BGHR StPO § 119 Abs. 1 Beschränkung 1 mwN[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 30.10.2014 – 2 BvR 1513/14, NStZ-RR 2015, 79[↩]
- so schon OLG Celle, Beschluss vom 22.02.2019 – 3 Ws 67/19 (UVollz), Nds. Rpfl.2019, 327[↩]
- LG Hannover, Beschluss vom 12.03.2020 – 63 KLs 7/19[↩]
- vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 27.03.2017 – 3 Ws 288/12 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 62. Aufl. § 119 Rn. 5 mwN[↩]
- vgl. BVerfG aaO mwN[↩]
- BVerfG aaO; ebenso OLG Dresden, Beschluss vom 05.04.2016 – 3 Ws 30/16, StraFo 2016, 206; OLG Hamm, Beschluss vom 13.11.2012 – III‑5 Ws 329/12, StV 2014, 28; OLG Köln, Beschluss vom 28.12.2012 – III‑2 Ws 896/12, StV 2013, 525[↩]
- BVerfG aaO[↩]
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