Obhutspflichten gegenüber einem jugendlichen Untersuchungshäftling

Die Bediensteten einer Justizvollzugsanstalt treffen Amtspflichten zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit der Untersuchungsgefangenen und Strafgefangenen (Art. 2 Abs. 2 GG). Diese Pflicht umfasst auch die Verhütung von drohenden Schäden der Häftlinge durch Mitgefangene.

Obhutspflichten gegenüber einem jugendlichen Untersuchungshäftling

Im vorliegenden Fall wurde der jugendliche Untersuchungshäftling während der Untersuchungshaft in der Jugendstrafanstalt Berlin von einem anderen Mithäftling mehrfach mit einem Hammer geschlagen und dadurch schwer verletzt.

Hierfür hatte ihm das Landgericht Berlin zunächst 80.000 € Schmerzensgeld und Schadensersatz aus Amtshaftung gegenüber dem Land Berlin zugesprochen (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG). Auf die Berufung des Landes Berlin hin änderte das Berliner Kammergericht die Entscheidung des Landgerichts und wies die Klage vollumfänglich ab1. Dem Beschwerdeführer stehe, so das Kammergericht, kein Amtshaftungsanspruch zu, weil es an einem vorwerfbaren Fehlverhalten der zuständigen Amtsträger fehle. Bei der unterlassenen Trennung des Schädigers von den übrigen Gefangenen habe es sich zwar um eine drittschützende Amtspflicht gehandelt; deren Verletzung sei allerdings nicht vorwerfbar. Nach der zum Zeitpunkt der Tat geltenden Rechtslage (Nr. 22 Abs. 5 UVollzO) wäre eine Trennung von Gefangenen bei besonderem Gefährdungspotential gegenüber anderen Gefangenen angezeigt gewesen. Bei der für die Beurteilung insoweit relevanten ex ante-Sicht könne unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls jedoch nicht festgestellt werden, dass die Verneinung einer besonderen Gefährlichkeit des Schädigers schuldhaft erfolgt sei. In der Folge lehnte der Bundesgerichtshof zunächst den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Nichtzulassungsbeschwerde ab, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichenden Erfolgsaussichten biete2 und wies auch die hiergegen erhobene Gehörsrüge (§ 321a ZPO) und eine Gegenvorstellung zurück3.

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Das Bundesverfassungsgericht nahm die gegen die Entscheidungen des Kammergerichts und des Bundesgerichtshofs gerichtete Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG) und die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist: Die Entscheidungen des Kammergerichts und des Bundesgerichtshofs beruhen, wie das Bundesverfassungsgericht betont, auf einer objektiv willkürlichen Anwendung der Amtshaftungsvorschriften.

Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind an sich Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen; ein verfassungsgerichtliches Eingreifen gegenüber Entscheidungen der Fachgerichte kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht, etwa unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Dimension als Willkürverbot4. Vor diesem Hintergrund prüft das Bundesverfassungsgericht, ob die Anwendung der einschlägigen einfachrechtlichen Bestimmungen und das dazu eingeschlagene Verfahren durch das Fachgericht vertretbar ist oder ob sich der Schluss aufdrängt, dass seine Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht5. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen, schuldhaftes Handeln ist nicht erforderlich. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht objektiv willkürlich. Schlechterdings unhaltbar ist eine fachgerichtliche Entscheidung vielmehr erst dann, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird6.

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Nach diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in der Ausprägung als Willkürverbot.

Das Kammergericht stellt im Ausgangspunkt zwar zutreffend dar, dass die Bediensteten einer Justizvollzugsanstalt Amtspflichten zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit der Untersuchungs- und Strafgefangenen treffen (Art. 2 Abs. 2 GG) und dass diese Pflicht auch die Verhütung von drohenden Schäden der Häftlinge durch Mitgefangene umfasst. Die Anwendung dieses Grundsatzes auf den zu entscheidenden Fall und seine Berücksichtigung im Rahmen der insoweit maßgeblichen § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG ist jedoch schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und verstößt daher gegen Art. 3 Abs. 1 GG.

Das Kammergericht geht davon aus, dass den Amtswaltern des Landes Berlin ein Verstoß gegen die oben genannten Amtspflichten nicht nachzuweisen sei.

Soweit es die Frage nach der Amtspflichtverletzung dabei allein unter dem Blickwinkel einer etwa notwendigen Trennung der Gefangenen gemäß Nr. 22 Abs. 5 UVollzO beurteilt, verkennt es, dass der im Raume stehenden Gefährlichkeit des Schädigers nicht nur durch seine Isolierung begegnet werden konnte, sondern auch mildere Maßnahmen wie eine engmaschige Aufsicht oder die Verwehrung freien Zugangs zu (gefährlichen) Werkzeugen in Betracht gekommen wären.

Der Jugendstrafanstalt waren zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses mehrere Umstände bekannt, aus denen sich zumindest die Verpflichtung ergab, den Schädiger nicht unbeaufsichtigt in Kontakt mit anderen Häftlingen kommen zu lassen. Das gilt zunächst für den Haftbefehl vom 10.01.2009, der sich auf am 9.01.2009 begangene Taten des Schädigers bezog und ein erhebliches und unberechenbares Gewaltpotential erkennen ließ. Aus dem Aufnahmeersuchen ergab sich darüber hinaus der Verdacht einer geistigen Verwirrtheit des Schädigers. Am 11.01.2009 kam es ferner zu einer Randale des Schädigers in seinem Haftraum, bei der er gegenüber den Justizvollzugsbeamten aggressiv auftrat und Verfolgungsangst erkennen ließ. Er wurde daraufhin zunächst in einem besonders gesicherten Haftraum untergebracht und dem Kinder- und Jugendpsychiater vorgeführt. Das verordnete Medikament nahm der Schädiger – wie die Amtswalter wussten – nicht ein.

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Trotz dieser gewichtigen Anhaltspunkte für eine besondere Gefährlichkeit des Schädigers hat sich das Kammergericht der Einschätzung des gerichtlich bestellten psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen, wonach die eine Eigen- und Fremdgefährdung verneinende Diagnose des Kinder- und Jugendpsychiaters in der Jugendstrafanstalt lege artis durchgeführt worden und angesichts des ruhigeren Verhalten des Schädigers mit einem gewaltsamen Übergriff nicht zu rechnen gewesen sei.

Das verkennt, dass es für die Erfüllung der der Jugendstrafanstalt obliegenden grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG gegenüber den anderen Gefangenen nicht allein darauf ankommen kann, ob eine psychiatrische Prognoseentscheidung gültig getroffen worden ist, sondern dass bei der Alltagsorganisation einer Anstalt zur Vermeidung von Übergriffen unter den Gefangenen auch besondere Vorkehrungen geboten sein können. Im vorliegenden Fall hätte sich den zuständigen Amtsträgern aufdrängen müssen, dass ein psychotischer Gefangener, der aufgrund seiner Wahnvorstellungen bereits mehrfach unvermittelt starke Gewaltausbrüche gezeigt hatte, sich im Anstaltsalltag nicht unbeaufsichtigt mit Zugang zu Werkzeug unter anderen Gefangenen bewegen durfte.

Die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens der zuständigen Amtswalter wird durch die Situation weiter erhärtet, wie sie sich am Tattag darstellte. Der Schädiger war bereits der Gruppe „Beschäftigungstherapeutische Werkstatt für psychisch auffällig Gefangene“ zugeteilt, was in der Regel eine weitgehende Trennung vom Beschwerdeführer zur Folge hatte. Am Tattag kam es dagegen zu einer Zusammenlegung der Gruppen, weil ein Übungsleiter krankheitsbedingt ausfiel. Vor dem Angriff des Schädigers auf den Beschwerdeführer befanden sich daher alle Gefangenen im Aufenthaltsraum – mit freiem Zugang zu den Werkzeugen. Eine kontinuierliche optische Überwachung des Aufenthaltsraums durch die zuständigen Aufsichtspersonen war angesichts der räumlichen Gegebenheiten nicht möglich.

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Indem das Kammergericht davon ausgeht, dass der Aufenthalt der Aufsichtspersonen in Hörweite noch keine Pflichtverletzung begründe, da eine dauerhafte Anwesenheitspflicht des Aufsichtspersonals nicht existiere und vorliegend insbesondere keine Fremdgefährdung bestanden habe, handhabt es § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG in einer nicht mehr vertretbaren Weise. Denn es vernachlässigt insoweit die besonderen Umstände des Falles, namentlich, dass am Tattag entgegen der Regel psychisch auffällige Gefangene mit „normalen“ Gefangenen über einen längeren Zeitraum alleine gelassen wurden und dass diese freien Zugang zu gefährlichen Werkzeugen hatten. Es verkennt auch, dass den zuständigen Amtsträgern auch ohne psychologische Vorbildung allein aufgrund ihrer dienstlichen Erfahrung hätte erkennbar sein müssen, dass in dieser Konstellation Gewalttaten zumindest nicht ausgeschlossen werden konnten und es dementsprechend geeigneter Maßnahmen zum Schutz der anderen Häftlinge bedurft hätte.

Ob das Land darüber hinaus ein Organisationsverschulden trifft, weil das psychiatrische Gutachten des Dr. P… vom 16.03.2009 nicht rechtzeitig an die Jugendstrafanstalt weitergeleitet worden ist, kann nach alldem offen bleiben.

Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG rügt, ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Das Kammergericht hat sich hinreichend mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers auseinander gesetzt. Dabei war insbesondere zu berücksichtigen, dass es dem Privatgutachten hinsichtlich der hier beweiserheblichen Fragen in weiten Teilen an Substanz fehlte.

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Die angegriffene Entscheidung des Kammergerichts sowie deren inhaltliche Bestätigung durch die Beschlüsse des Bundesgerichtshofs beruhen auf einer objektiv willkürlichen Anwendung von § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG. Sie sind gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Kammergericht zurückzuverweisen.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 5. Oktober 2015 – 2 BvR 2503/14

  1. KG, Urteil vom 14.02.2014 – 9 U 3/12[]
  2. BGH, Beschluss vom 21.08.2014 – III ZA 6/14[]
  3. BGH, Beschluss vom 18.09.2014 – III ZA 6/14[]
  4. vgl. BVerfGE 74, 102 <127>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Bundesgerichtshofs vom 01.06.2015 – 2 BvR 67/15 17[]
  5. vgl. BVerfGE 80, 48 <51>; 108, 129 <137, 142 f.>; 109, 13 <33>; 109, 38 <59>; BVerfGK 2, 82 <85>; 2, 165 <173>; 6, 334 <342>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Bundesgerichtshofs vom 20.11.2014 – 2 BvR 1820/14 23[]
  6. vgl. BVerfGE 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Bundesgerichtshofs vom 03.03.2015 – 1 BvR 3271/14 10; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Bundesgerichtshofs vom 01.06.2015 – 2 BvR 67/15 17[]