Unterbringung in der Psychiatrie – und der Maßstab für die Fortdauerentscheidung

Bei einer mehrfach angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist über ihre Fortdauer in einem prozessualen Verbund zu entscheiden; die Entscheidung erfolgt aber nicht zwingend nach einem einheitlichen rechtlichen Maßstab. Bei der Berechnung der Fristen des § 67d Abs. 6 S. 2 und 3 StGB ist auf die Dauer des Vollzugs der jeweiligen Unterbringungsanordnung abzustellen, was zur Anwendung unterschiedlicher Maßstäbe bei der Fortdauerentscheidung führen kann. Eine weitere Unterbringungsanordnung und die damit verbundene Unterbringungsdauer ist jedoch bei der Gefährlichkeitsprognose und bei der allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprüfung gem. § 67d Abs. 6 S. 1, 2. HS StGB zu berücksichtigen.

Unterbringung in der Psychiatrie – und der Maßstab für die Fortdauerentscheidung

Bei einer mehrfach angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist über ihre Fortdauer zwar in einem prozessualen Verbund zu entscheiden; die Entscheidung erfolgt aber nicht zwingend nach einem einheitlichen rechtlichen Maßstab1. Durch die differenzierten Erledigungsregeln in § 67d Abs. 6 StGB ist es schon im Gesetz angelegt, dass es bei mehreren angeordneten Unterbringungen nach § 63 StGB aus verschiedenen gerichtlichen Erkenntnissen zu divergierenden Entscheidungen kommen kann2. Die Formulierungen in § 67d Abs. 6 S. 2 und S. 3 StGB, wonach die dort jeweils (im Falle des § 67d Abs. 6 S. 3 i.V.m. § 67d Abs. 3 S. 1 StGB) aufgestellten erhöhten Anforderungen greifen, wenn „die Unterbringung“ sechs oder zehn Jahre andauert, ist jedoch nicht dahin zu verstehen, dass dabei auf eine von der jeweiligen Unterbringungsanordnung unabhängige Unterbringungsdauer abzustellen ist. Zwar hat der Gesetzgeber mit der Einfügung der Sätze 2 und 3 im § 67d Abs. 6 StGB durch das Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 des Strafgesetzbuches und zur Änderung anderer Vorschriften vom 08.07.20163 den Zweck verfolgt, eine zeitliche Limitierung der Unterbringung bei weniger schwerwiegenden Gefahren zu erreichen und eine unverhältnismäßig lange Unterbringungsdauer durch den Ausbau prozessualer Sicherungen besser zu vermeiden4. Gleichzeitig hat er aber davon abgesehen, eine Änderung der für die Vollstreckung der Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus geltenden Vorschriften vorzunehmen. Dementsprechend sieht die Regelung in § 54 Abs. 2 StVollstrO unverändert vor, dass bei durch mehrere Entscheidungen angeordneten freiheitsentziehenden Maßregeln von der Vollstreckungsbehörde eine Entscheidung über die Vollstreckungsreihenfolge zu treffen ist. In dieser Verwaltungsvorschrift kommt der das Vollstreckungsrecht allgemein beherrschende Gedanke zum Ausdruck, dass gesondert angeordnete Sanktionen bei der Vollstreckung ihre Selbständigkeit behalten5. Eine Ausnahme von dieser Regel enthält insoweit nur § 67f StGB, der im Falle der erneuten Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt die Erledigung der zuvor angeordneten Unterbringung vorsieht. Eine analoge Anwendung des § 67f StGB auf andere Maßregeln kommt nicht in Betracht6.

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Bei einer auf die Gesamtdauer der Unterbringung abstellenden Betrachtung verlöre die später zu vollstreckende Unterbringungsanordnung zudem vollstreckungsrechtlich jede Bedeutung, was insbesondere in dem – immerhin denkbaren – Fall verfehlt erscheint, in dem die Unterbringungen aufgrund unterschiedlicher psychischer Störungsbilder angeordnet wurden7. Bei der Berechnung der Fristen des § 67d Abs. 6 S. 2 und 3 StGB ist deshalb auf die Dauer des Vollzugs der jeweiligen Unterbringungsanordnung abzustellen, was vorliegend zur Anwendung eines unterschiedlichen Maßstabs bei der Fortdauerprüfung führt.

Allerdings sind eine weitere Unterbringungsanordnung und die damit verbundene Unterbringungsdauer bei der Gefährlichkeitsprognose8 und bei der (allgemeinen) Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen9.

Erhebliche Straftaten im Sinne von § 67 d Abs. 6 S. 3 StGB i.V.m. Abs. 3 S. 1 StGB  sind regelmäßig Verbrechen und im Übrigen Straftaten aus dem Bereich der mittleren Kriminalität, wenn sie einen hohen Schweregrad aufweisen und den Rechtsfrieden empfindlich stören. Dies ergibt sich in systematischer Hinsicht aus dem Verweis in § 67 d Abs. 6 S. 3 StGB auf § 67 d Abs. 3 StGB, dessen Formulierung wiederum der des § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB entspricht, insbesondere aber aus dem gesetzgeberischen Willen10.

Wurde die mit einem weiteren Urteil angeordnete Unterbringung bislang noch nicht vollzogen, so ist für diese Unterbringung weder der erhöhte Maßstab des § 67d Abs. 6 S. 2 StGB noch der Maßstab des 67d Abs. 6 S. 3 i.V.m. Abs. 3 S. 1 StGB anzuwenden. Zwar befindet sich der Beschwerdeführer seit rund 20 Jahren im Maßregelvollzug. Jedoch führt dies nicht dazu, dass die erhöhten Maßstäbe des § 67d Abs. 6 S. 2 StGB oder des 67d Abs. 6 S. 3 i.V.m. Abs. 3 S. 1 StGB zu berücksichtigen wären. Vielmehr beurteilt sich die Verhältnismäßigkeit dieser Unterbringung allein nach dem allgemeinen Maßstab des § 67 d Abs. 6 S. 1, 2. Hs StGB, wobei hier allerdings auch die Gesamtdauer (beider Unterbringungen) in den Blick zu nehmen ist. Dieser führt nicht zur Unverhältnismäßigkeit.

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es, die Unterbringung nur solange zu vollstrecken, wie der Zweck der Maßregel dies erfordert und weniger belastende Maßnahmen nicht genügen11.

Im hier entschiedenen Fall bedeutete dies:  Bei den begangenen Straftaten des Beschwerdeführers handelt es sich um schwerste Sexualdelikte zu Lasten verschiedener (ihm teilweise unbekannter) Opfer, die -gerade auch mit Blick auf die dem Urteil vom 06.10.1986 zugrunde liegenden Anlasstaten – in ihrer Schwere deutlich im oberen Bereich liegen. Zwar hat der Sachverständige nachvollziehbar dargelegt, dass das Risiko erneuter vergleichbarer Delikte nur noch als gering anzusehen ist. Dennoch liegt auf der Hand und entspricht es auch der Einschätzung des Sachverständigen anlässlich seiner mündlichen Anhörung, dass eine unvorbereitete Entlassung des sich seit mehreren Jahrzehnten im Straf- und Maßregelvollzug befindlichen Beschwerdeführers diesen erheblich destabilisieren könnte, was die Gefahr der Begehung neuer Straftaten erhöhen würde. Zudem kann bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht außer Acht gelassen werden, dass ein Großteil der Unterbringungsdauer von rund 20 Jahren im Wesentlichen auf der zunächst gezeigten hartnäckigen Verweigerungshaltung des Beschwerdeführers beruht. Erst seit dem Jahre 2015 hat er begonnen, sich offen auf seine sexuell-sadistischen Phantasien sowie auf eine Psychotherapie einzulassen. In Anbetracht dieser Erwägungen – vor allem unter Berücksichtigung des Umstandes, dass vor einer Entlassung zwingend ein strukturiertes Wohnumfeld geschaffen werden muss – überwiegt das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit hier (noch) den Freiheitsanspruch des Untergebrachten, so dass eine Erledigung der Unterbringung aus allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgründen nicht in Betracht kommt.

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Auch eine Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung gemäß § 67 d Abs. 2 StGB kommt derzeit noch nicht in Betracht:

Der weitere Vollzug einer Maßregel ist zur Bewährung auszusetzen, wenn von dem Untergebrachten außerhalb des Maßregelvollzuges keine störungsbedingten erheblichen rechtswidrigen Taten mehr zu erwarten sind12. Die zu fordernde Prognosewahrscheinlichkeit hängt einerseits von dem Gewicht der bei erneuter Straffälligkeit gefährdeten Rechtsgüter ab13. Weil der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz integrativ aber auch bei der Prüfung der Aussetzungsreife zu berücksichtigen ist14, ist die Fortsetzung des Vollzugs andererseits umso strenger zu prüfen, je länger die Unterbringung bereits andauert15. Je höherwertigere Rechtsgüter in Gefahr sind, desto geringer muss das Rückfallrisiko sein16.

Vorliegend ist in die gebotene Abwägung insbesondere einzustellen, dass die durch einen möglichen Rückfall bedrohten Rechtsgüter – die sexuelle Selbstbestimmung sowie die körperliche Integrität und Gesundheit anderer Personen, darunter auch jene von Kindern – in besonders hohem Maße schutzwürdig und von besonders hohem Gewicht sind17, so dass die Anforderungen an die anzustellende Kriminalprognose erhöht sind. Die notwendige Wahrscheinlichkeit für die Erwartung, dass der Verurteilte zukünftig keine erheblichen Straftaten mehr begehen wird, besteht zur Überzeugung des Oberlandesgerichtes noch nicht. Dabei kann nicht außer Acht gelassen werden, dass es in der Vergangenheit immer wieder zu einschlägigen Straftaten – sogar während mehrerer Hafturlaube – gekommen ist und auch die Bewährungsaufsicht nicht geeignet war, neue einschlägige Straftaten des Verurteilten zu verhindern.

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Zwar spricht andererseits für eine Entlassung des Verurteilten aus dem Maßregelvollzug, dass die Unterbringung – wenngleich auch nicht die mit Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 06.10.1986 angeordnete – schon längere Zeit andauert und sich der Verurteilte im Rahmen der ihm nunmehr seit rund 6 Jahren gewährten umfangreichen Lockerungen als zuverlässig erwiesen und keine neuen Straftaten begangen hat oder es auch nur zu deliktsnahem Verhalten gekommen ist.

Jedoch bestehen vor allem hinsichtlich der tatsächlichen Ausprägung des sexuellen Sadismus immer noch gewichtige Zweifel. Zwar geht der Sachverständige K. in seinem aktuellen Prognosegutachten davon aus, dass der sexuelle Sadismus altersbedingt abgeschwächt sei; jedoch hat der Vorgutachter Prof. K. in seinem Gutachten aus dem Jahre 2019 darauf hingewiesen, dass gerade im Bereich des sexuellen Sadismus ein schwankungsreicher Verlauf bekannt sei, so dass das erwähnte Abklingen nur vorübergehend sein könne. Obwohl der Verurteilte selbst dies in Abrede gestellt hatte, sprach aus Sicht des Sachverständigen Prof. K. für eine nach wie vor vorhandene sexuelle Ansprechbarkeit des Verurteilten u.a. der Umstand, dass dieser einen sexuellen Kontakt zu seiner Lebenspartnerin zwei Jahre zuvor geschildert, eine Wiederaufnahme von Intimkontakten nicht ausgeschlossen habe und auch bei der Schilderung seiner Tagesausgänge insbesondere erotische Aspekte einen größeren Raum eingenommen hätten. Schlussendlich hat auch der Verurteilte selbst gegenüber dem Sachverständigen K. die Gefahr, dass er erneut mit einem Sexualdelikt rückfällig werde, mit immerhin 10 Prozent beziffert. Aus diesem Grund wies auch der Sachverständige Prof. K. darauf hin, dass vor einer etwaigen Entlassung in jedem Fall ein besonders gut strukturierter sozialer Empfangsraum (engmaschiges ambulantes Setting in Verbindung mit einem stützenden und insbesondere haltgebenden Wohnrahmen) etabliert werden müsse, der eine gewisse Tagesstruktur gewährleisten würde. Dieser zu etablierende Empfangsraum müsse auch im Kontext von Vollzuglockerungen erprobt werden. Zu diesem Ergebnis gelangt letztlich auch der Sachverständige K., der mehrfach betont hat, dass der Verurteilte nicht unvorbereitet entlassen werden könne. Schließlich hat die Maßregelvollzugeinrichtung in ihrem Behandlungs- und Eingliederungsplan vom 10.11.2020 erwähnt, dass der Verurteilte den Eindruck erwecke, nicht mit offenen Karten zu spielen, so dass er möglicherweise weiterhin sexuell-sadistische Phantasien habe, diese jedoch nicht preisgeben wolle. Auch der Umstand der überraschend erfolgten Heirat der Mitpatientin Anfang September 2021, die er im Explorationsgespräch mit dem Sachverständigen K. nur wenige Monate zuvor noch kategorisch abgelehnt hatte, lässt den Schluss darauf zu, dass die Angaben des Verurteilten nicht stets offen und belastbar sind.

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Hiervon ausgehend kommt eine Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung nicht in Betracht. Erst nach der Schaffung eines strukturierten Wohnumfeldes und Etablierung eines ausreichenden Entlassungssettings mit ambulant komplementären Strukturen sowie der Anbindung des Beschwerdeführers an die Institutsambulanz sowie einer ausreichenden Erprobung des Beschwerdeführers unter diesen Bedingungen kann seine bedingte Entlassung aus dem Maßregelvollzug – mit den entsprechenden notwendigen Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht – gewagt werden. Ohne Vorhandensein eines an die Bedürfnisse des Verurteilten angepassten Entlassungssettings reichen Maßnahmen der Führungsaufsicht alleine nicht aus.

Oberlandesgericht Braunschweig, Beschluss vom 9. Februar 2022 – 1 Ws 284/21 – 1 Ws 285/21

  1. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 03.04.2018, 2 Ws 329/17 16; Peglau in Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl., § 67 d, Rn. 121[]
  2. Peglau, a.a.O. und in JR 2020, 193, 201[]
  3. BGBl. I S. 1610[]
  4. BT-Drs. 18/7244 S. 13[]
  5. OLG Karlsruhe, a.a.O., Rn. 17, mit weiteren Nachweisen zur mehrfachen Anordnung der Sicherungsverwahrung[]
  6. OLG Bremen, Beschluss vom 10.12.2019, 1 Ws 124/19, BeckRS 2019 33045, Rn. 26; OLG München, Beschluss vom 15.03.2017, 1 Ws 192 + 193/17, BeckRS 2017 107910, Rn. 16; OLG Koblenz, a.a.O., Rn. 11; Peglau in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl., § 67f, Rn. 3; Groß/Veh in MK, StGB, 4. Aufl., § 67f, Rn. 2[]
  7. OLG Karlsruhe, a.a.O.[]
  8. BGH, Urteil vom 21.04.2021, 1 StR 447/20 25 [Anordnung der Maßregel nach vorangegangener ausländischer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus][]
  9. bei mehrfacher Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: OLG Karlsruhe, a.a.O.; bei mehrfacher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung: BGH, Beschluss vom 17.09.1998, 5 StR 404/98 4; OLG Koblenz a.a.O.[]
  10. BT-Drs. 18/7244, S. 33; OLG Hamm, Beschluss vom 02.10.2018, III-3 Ws 368/18 23; OLG Hamm, Beschluss vom 05.09.2017, III-3 Ws 198/17 21[]
  11. BVerfG, Beschluss vom 04.10.2012, 2 BvR 442/12, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 18.12.2017, III-3 Ws 471/17 21; Fischer, a.a.O., § 67d, Rn. 13[]
  12. OLG Braunschweig, Beschluss vom 27.06.2012, 1 Ws 179/12 16; Beschluss vom 20.01.2015, 1 Ws 379/14 30[]
  13. BVerfG, Beschluss vom 08.10.1985, 2 BvR 1150/80 41; OLG Braunschweig, Beschluss vom 28.12.2016, 1 Ws 305/16 23[]
  14. BVerfG, Beschluss vom 26.08.2013, 2 BvR 371/12 43[]
  15. BVerfG, Beschluss vom 08.10.1985, a. a. O., Rn. 43 und Beschluss vom 06.04.1995, 2 BvR 1087/9420[]
  16. BVerfG, Beschluss vom 30.04.2009, 2 BvR 2009/08 26[]
  17. vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 05.07.2013, 2 BvR 708/12 41[]
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Die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsbehandlung

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