Eine Therapieunterbringung nach § 1 Abs. 1 ThUG kann nur gegen Betroffene angeordnet werden, die sich in Sicherungsverwahrung nach dem Strafgesetzbuch befinden oder befunden haben, nicht jedoch gegen nach § 275a Abs. 5 StPO aF einstweilig Untergebrachte.

Eine Therapieunterbringung darf nach § 1 Abs. 1 ThUG unter den in Nr. 1 und 2 dieser Vorschrift genannten weiteren Voraussetzungen nur angeordnet werden, wenn auf Grund einer rechtskräftigen Entscheidung feststeht, dass eine wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Art verurteilte Person deshalb nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann, weil ein Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen ist. Wann ein Betroffener in diesem Sinne „nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann“, ist umstritten. Teils wird die Vorschrift weit in dem Sinne ausgelegt, dass diese Voraussetzung auch dann erfüllt ist, wenn der Betroffene – wie hier – nach § 275a Abs. 5 StPO aF einstweilen untergebracht worden ist, gegen ihn Sicherungsverwahrung hätte verhängt werden können und dies im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot unterblieben ist. Das sei „materiell Sicherungsverwahrung“1. Teils wird die Vorschrift mit dem vorlegenden Beschwerdegericht2 eng in dem Sinn verstanden, dass eine Therapieunterbringung nur möglich ist, wenn sich der Betroffene in der Sicherungsverwahrung befindet oder befunden hat3.
Der Bundesgerichtshof hält die zweite Meinung für zutreffend.
Für sie spricht der Wortlaut der Regelung. Die in § 1 Abs. 1 Halbsatz 1 ThUG verwendete Formulierung „…, dass eine Person … nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann, weil …“ ist bei isolierter Betrachtung allerdings auslegungsfähig. Sie kann einerseits nur Betroffene erfassen, die sicherungsverwahrt sind oder waren. Sie lässt sich andererseits auch in dem Sinn verstehen, dass es auf den Fortfall der rechtlichen Möglichkeit ankommt, Sicherungsverwahrung anzuordnen. Für diesen Fall hätte an sich die Formulierung näher gelegen „… nicht mehr … untergebracht werden kann … „. Das ändert aber nichts daran, dass die in dem Gesetz gewählte Formulierung, für sich genommen, die Auslegung des Saarländischen Oberlandesgerichts zulässt. Dieses Textverständnis scheitert indes daran, dass die Passage nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern im Textzusammenhang der ganzen Vorschrift gelesen werden muss. Ihr Sinn wird durch § 1 Abs. 2 ThUG deutlich. Danach ist Absatz 1 der Vorschrift unabhängig davon anzuwenden, ob die verurteilte Person sich noch im Vollzug der Sicherungsverwahrung befindet oder bereits entlassen wurde. Diese Regelung wäre überflüssig, würde § 1 Abs. 1 ThUG unabhängig von dem Vollzug von Sicherungsverwahrung nur auf die rechtliche Möglichkeit der Anordnung von Sicherungsverwahrung abstellen. Einen Sinn ergibt sie nur, wenn § 1 Abs. 1 ThUG im Grundsatz nur Betroffene anspricht, die sich in Sicherungsverwahrung befinden. Denn dann bedarf es einer Regelung darüber, was mit Betroffenen geschehen soll, die sich nicht mehr in Sicherungsverwahrung befinden. Nach dem Wortlaut gilt das Gesetz deshalb nur für Betroffene, die sich in Sicherungsverwahrung befinden oder befunden haben.
Die Wortlautauslegung wird durch ein systematisches Argument bestätigt.
Das Antragsrecht des Anstaltsleiters nach § 5 Abs. 1 Satz 3 ThUG setzt eine Sicherungsverwahrung nach dem Strafgesetzbuch voraus. Denn nur bei dieser ist nach Art. 159, 160, 9 BayStVollzG (bei Fehlen entsprechenden Landesrechts: §§ 1, 7 StVollzG) ein Vollzugsplan zu erstellen, aus dem sich – jedenfalls in Zukunft – im Einzelnen ergeben muss, wie dem verfassungsrechtlichen Individualisierungs- und Intensivierungsgebot bei dem einzelnen Betroffenen Rechnung getragen werden soll4. Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 ThUG kann der Antrag auf Therapieunterbringung bereits vor der Entlassung des Betroffenen aus der Sicherungshaft gestellt werden. Die für die Durchführung der Sicherungsverwahrung zuständige Vollstreckungsbehörde ist nach § 5 Abs. 3 Satz 1 ThUG zur Übermittlung der für die Entscheidung über die Therapieunterbringung erforderlichen Daten verpflichtet. Auch diese Regelungen setzen voraus, dass sich die Betroffenen in Sicherungsverwahrung befinden oder befunden haben.
Von diesem Verständnis ist auch der Gesetzgeber ausgegangen. So heißt es in der Erläuterung zu § 1 ThUG in der Entwurfsbegründung, die Vorschrift regele die „materiellrechtlichen Voraussetzungen, unter denen gegen einen verurteilten Straftäter, der sich in Sicherungsverwahrung befindet oder befand, die Unterbringung … angeordnet werden kann“5. Zweck des Gesetzes war es, die Folgen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.20096 angemessen und EMRKkonform zu regeln7. Das Urteil behandelt die Fälle von Straftätern, bei denen die im Zeitpunkt ihrer Verurteilung bestehende Begrenzung der Sicherungsverwahrung auf höchstens zehn Jahre rückwirkend aufgehoben wurde. Um diese auch ausdrücklich so genannten Altfälle ging es. Dem steht nicht entgegen, dass der zuständige Minister des Saarlandes in der Plenardebatte des Bundesrats zu dem Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages die Erklärung zu Protokoll gegeben hat, das Saarland gehe nach der Diskussion um seinen (mündlich) im Rechts- und Innenausschuss gestellten Antrag auf Anrufung des Vermittlungsausschusses davon aus, dass § 1 ThUG auch den Fall einer Unterbringung auf Grund eines Unterbringungsbefehls gemäß § 275a StPO aF erfasse8. Diese Erklärung ist kein Beleg dafür, dass der Gesetzgeber die Vorschrift in diesem Sinne verstanden hätte9. Sie zeigt im Gegenteil, dass am Ende des Gesetzgebungsverfahrens eine Fallgruppe aufgefallen ist, deren Einbeziehung in das Gesetz erwägenswert gewesen wäre, aber eine Textänderung erfordert hätte. Zu einem entsprechenden Vorschlag hat sich der Bundesrat nicht entschließen können, weil sie nur durch die Anrufung des Vermittlungsausschusses zu erreichen gewesen wäre und diese das – allseits angestrebte – Inkrafttreten der Neuregelung zum 1.01.2011 gefährdet hätte. Der Gesetzgeber hat damit in Kauf genommen, dass diese Fälle von dem Gesetz nicht erfasst werden und durch eine spätere Ergänzung der Vorschrift einbezogen werden müssten. Das ließ sich durch eine Protokollerklärung nicht vermeiden.
Die Regelung in § 1 Abs. 1 ThUG kann auf den Fall der Unterbringung nach § 275a Abs. 5 StPO aF auch nicht entsprechend angewendet werden. Dafür spielt es keine Rolle, ob eine Einbeziehung dieser Fallgruppe in den Regelungsbereich der Vorschrift sachlich vertretbar oder wünschenswert wäre. Eine Therapieunterbringung darf als Freiheitsentziehung nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG nur unter den Voraussetzungen angeordnet werden, die sich unmittelbar und hinreichend bestimmt aus dem Gesetz selbst ergeben10. Diese Verfassungsvorschrift steht einer analogen Heranziehung materiellrechtlicher Ermächtigungsgrundlagen für Freiheitsentziehungen entgegen11.
Dabei hat es der Bundesgerichtshofs ausdrücklich offen gelassen, ob die gegen das Therapieunterbringungsgesetz unter dem Blickwinkel der Gesetzgebungskompetenz erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken durchgreifen12.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12. Juli 2012 – V ZB 106/12
- OLG Saarbrücken, StV 2012, 31, 34[↩]
- so schon in FGPrax 2012, 87, 88[↩]
- Schröder/Starke, DRiZ 2011, 254, 255[↩]
- BVerfGE 128, 326, 379 f.[↩]
- BT-Drucks. 17/3403 S. 53[↩]
- 19359/04, NJW 2010, 2495[↩]
- Entwurfsbegründung in BT-Drucks 17/3403 S.19, 53[↩]
- PlP-BRat 2010, 538 [878. Sitzung vom 17.12.2010 Anlage 14][↩]
- aM wohl OLG Saarbrücken, StV 2012, 31, 36[↩]
- BVerfG, NVwZRR 2009, 616; BGH, Beschluss vom 14.10.1954 – IV ZB 52/54, BGHZ 15, 61, 63 f.[↩]
- BVerfG, BVerfGE 29, 183, 196; 83, 24, 31 f.; NVwZRR 2009, 616[↩]
- Verfahren vor dem BVerfG anhängig unter Az. 2 BvR 2302/11; vgl. i.Ü. einerseits Antrag des Landes Brandenburg für die Plenarberatung des Bundesrats in BR-Drucks. 794/2/12; Kinzig, NJW 2011, 177, 181; und auch LG Lübeck, SchlHA 2011, 417, 418; andererseits OLG Saarbrücken, StV 2012, 31, 32[↩]