Unerlaubter Aufenthalt – und die EU-Rückführungsrichtlinie

Welchen Einfluss hat die Rückführungsrichtlinie auf die Strafbarkeit des unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2. AufenthG? Diese Frage hatte jetzt der Bundesgerichtshof zu beantworten – und sah in richtlinienkonformer Auslegung des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG im Fall 8 der Urteilsgründe von Strafe ab:

Unerlaubter Aufenthalt – und die EU-Rückführungsrichtlinie

Jedenfalls die Strafnormen des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG) sind aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Vorrang des Rückführungsverfahrens gemäß der Rückführungsrichtlinie1 europarechtskonform auszulegen2.

Um den Vorrang des Rückführungsverfahrens auch praktisch wirksam zu sichern, sollen gegen Drittstaatsangehörige, die sich illegal in einem Mitgliedsstaat aufhalten oder dort illegal eingereist sind, für diesen illegalen Aufenthalt und die illegale Einreise keine freiheitsentziehenden Sanktionen verhängt und vollstreckt werden, weil diese geeignet sind, das Rückführungsverfahren zu verzögern3. Dies hat der Europäische Gerichtshof auch angenommen, wenn der Aufenthalt des Ausländers den Behörden bis dahin unbekannt war und deshalb bis zur Ergreifung kein Rückführungsverfahren vorgenommen werden konnte4. Der Erlass einer Geldstrafe ist nur gestattet, wenn weder die Durchführung des Strafverfahrens das Rückführungsverfahren verzögert noch eine Umwandlung der Geldstrafe in eine freiheitsentziehende Sanktion möglich ist5.

Anders verhält es sich, wenn ein Rückführungsverfahren schon abgeschlossen ist, was regelmäßig die freiwillige Rückkehr oder die zwangsweise Durchsetzung der Rückführung voraussetzt. Reist der betreffende Drittausländer unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot anschließend erneut illegal in das Bundesgebiet ein und hält er sich hier illegal auf, kann er auch mit freiheitsentziehenden Sanktionen belegt werden6. Strafbar wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist ein Drittstaatsangehöriger auch ab dem Zeitpunkt, in dem er sich durch Untertauchen dem Rückführungsverfahren entzieht, nachdem die Behörden Kenntnis von seinem illegalen Aufenthalt erlangt haben und das Rückführungsverfahren auf ihn anwenden wollen7. Dies gilt auch für einen unerlaubten Aufenthalt nach endgültigem Scheitern des Rückführungsverfahrens8, sofern nicht andere Gründe wie insbesondere der Anspruch auf Duldungserteilung bei den Behörden bekanntem Aufenthalt9 dem entgegenstehen.

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Die Rückführungsrichtlinie schließt für die Mitgliedstaaten schließlich auch nicht die Möglichkeit aus, die Verwirklichung anderer Straftatbestände als derjenigen im Zusammenhang mit dem bloßen Umstand der illegalen Einreise oder des illegalen Aufenthalts mit einer Freiheitsstrafe zu ahnden, auch wenn das Rückführungsverfahren nicht abgeschlossen ist10. Die Rückführungsrichtlinie ist zudem für die Strafbarkeit von Schleusern ohne Belang11.

Da das deutsche Recht bei Uneinbringlichkeit einer Geldstrafe regelmäßig die Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe vorsieht (§ 43 StGB), ergibt die richtlinienkonforme Auslegung von § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG, dass gegen illegal einreisende und hier aufhältige Drittausländer wegen dieser Straftaten weder Freiheits- noch Ersatzfreiheitsstrafen verhängt12 oder vollstreckt13 werden dürfen, sofern ein Rückführungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Für die genannten Straftaten darf demnach lediglich die geringstmögliche, in keinem Fall freiheitsentziehende Sanktion verhängt werden. Dies ist das Absehen von Strafe bei gleichzeitigem Schuldspruch14.

Prozessual kann der Vorrang des Rückführungsverfahrens durch eine europarechtskonforme (entsprechende) Anwendung von § 154b Abs. 3 StPO auf die Durchsetzung des Rückführungsverfahrens gesichert werden. Zudem wird beim Absehen von Strafe die Einstellungsmöglichkeit nach § 153b StPO eröffnet. Hierdurch kann gewährleistet werden, dass es aufgrund der Durchführung eines Strafverfahrens nicht zu einer Verzögerung des Rückführungsverfahrens kommt.

Soweit der 3. Strafsenat demgegenüber erwogen hat, die Strafbarkeitseinschränkung durch die Annahme eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes, die Annahme eines Prozesshindernisses oder die Beachtung eines Vollstreckungshindernisses in europarechtskonformer Handhabung von § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, § 154b Abs. 3 und 4 StPO oder § 456a StPO sicherzustellen15, vermag der Bundesgerichtshof dem nicht zu folgen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dürfen für den illegalen Aufenthalt und die illegale Einreise eines Drittstaatsangehörigen vor Durchführung des Rückführungsverfahrens lediglich keine freiheitsentziehenden Sanktionen verhängt werden. Dies hindert aber nicht, durch einen Schuldspruch (mit entsprechender Kostenfolge, vgl. § 465 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 StPO) das begangene Unrecht zu kennzeichnen, gerade wenn das Strafverfahren – wie hier – eigentlich wegen anderer Tatvorwürfe geführt wird und deshalb die Verfolgung von Straftaten nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG faktisch keine Verzögerung des Rückführungsverfahrens zur Folge hat. Einen Freispruch aufgrund eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes oder eine Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses sieht der Bundesgerichtshof nicht als gebotene Reaktion auf die rechtswidrige und schuldhafte Verwirklichung16 der in Rede stehenden Straftatbestände an. Die Annahme eines Vollstreckungshindernisses verlagert die Problematik hingegen in einen späten Verfahrensabschnitt und erweist sich gerade in Fällen wie dem vorliegenden (Gesamtstrafenbildung) als wenig praktikabel.

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Im Ergebnis konnte daher im vorliegenden Verfahren der Schuld- und Strafausspruch in einem Fall bestehen bleiben. Der Bundesgerichtshof entnimmt dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe, dass gegen den Angeklagten 2016 nach erfolgter Durchführung eines Rücküberführungsverfahrens eine (wirksame) Einreisesperre für den Schengenraum bestand, wie er zu diesem Zeitpunkt im Schengener Informationssystem eingetragen war.

Anders verhält es sich dagegen im zweiten Fall. Den Urteilsgründen lässt sich nicht entnehmen, dass weiter eine Einreisesperre bestand; schließlich konnte der Angeklagte im September 2018 unbeanstandet die ungarische Grenze überqueren, wie der Einreisestempel in seinem Pass belegt. Nach seiner Festnahme aufgrund eines Haftbefehls wegen der verfahrensgegenständlichen Vorwürfe wurde auch kein Rückführungsverfahren erfolgreich durchgeführt. Im Ergebnis führt dies dazu, dass für diesen Fall von Strafe abzusehen ist. Dies nimmt der Bundesgerichtshof entsprechend § 354 Abs. 1 StPO selbst vor.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 24. Juni 2020 – 5 StR 671/19

  1. Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008, ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98[]
  2. vgl. EuGH [Große Kammer], Urteile vom 07.06.2016, – C-47/15 [„Affum“], ZAR 2016, 344 mit Anm. Hörich/Bergmann; und vom 06.12.2011, – C-329/11 [„Achughbabian“], ZAR 2016, 443; EuGH, Urteile vom 19.03.2019 – C-444/17 [„Arib“], NVwZ 2019, 947 mit Anm. Pfersisch ZAR 2019, 385; vom 26.07.2017 – C-225/16 [„Ouhrami“], InfAuslR 2017, 375; vom 01.10.2015, – C-290/14 [„Celaj“], NVwZ-RR 2015, 952; vom 19.09.2013, – C-297/12 [„Filev/Osmani“], NJW 2014, 527; vom 06.12.2012, – C-430/11 [„Sagor“], ZAR 2013, 118 mit Anm. Hörich/Bergmann; vom 28.04.2011, – C-61/11 [„El Dridi“], InfAuslR 2011, 320; vgl. auch EuGH, Urteil vom 10.04.2012, – C-83/12 [„Vo“], NJW 2012, 1641; aus der inländischen Rspr.: BGH, Urteile vom 04.05.2017 – 3 StR 69/17, NStZ 2018, 286 mit Anm. Kudlich; vom 08.03.2017 – 5 StR 333/16, BGHSt 62, 85; Beschlüsse vom 04.06.2019 – 2 StR 202/18, NStZ 2020, 357; vom 13.07.2016 – 1 StR 279/16, StV 2017, 256; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.05.2020 – 2 RVs 35/20; OLG Hamm, InfAuslR 2017, 128; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 25.01.2012, 3-1/12 [Rev] 1 Ss 196/11, NStZ-RR 2012, 219 [Ls.]; KG, NStZ-RR 2012, 347; OLG Frankfurt, InfAuslR 2014, 79 und StV 2015, 356; OLG München, NStZ 2013, 484; OLG München, Urteil vom 16.07.2012 – 4 StRR 10/12; aus der Literatur: Hörich/Bergmann NJW 2012, 3339; dies., ZRP 2014, 109; Kleinlein NVwZ 2016, 1141; Hailbronner, Ausländerrecht, 115. Lfg., § 95 AufenthG Rn. 15a ff.; MünchKomm-StGB/Gericke, 3. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 30 ff.; BeckOK AuslR/Hohoff, Stand 1.03.2020, § 95 AufenthG Rn. 27; NK-AuslR/Fahlbusch, 2. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 50 ff.; Hörich in Huber, AufenthG, 2. Aufl., § 95 Rn. 50 ff.; Senge in Erbs/Kohlhaas, 229. Lfg., § 95 AufenthG Rn. 13; Winkelmann/Stephan in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 18 ff.[]
  3. grundlegend EuGH [Große Kammer] „Achughbabian“, aaO Rz. 50; „Affum“, aaO Rz. 52, 63[]
  4. vgl. die Fallkonstellation bei EuGH „Affum“, aaO[]
  5. EuGH „Sagor“, aaO Rz. 35 ff.[]
  6. EuGH „Achughbabian“, aaO Rz. 28; „Sagor“, aaO Rz. 31; „Celaj“, aaO Rz.20[]
  7. vgl. HansOLG Hamburg, aaO; Gericke, aaO Rn. 32[]
  8. vgl. Kleinlein, aaO[]
  9. vgl. BVerfG, NStZ 2003, 488 mit Anm. Mosbacher[]
  10. EuGH „Arib“ Rz. 66; „Affum“ Rz. 65[]
  11. BGH, Urteil vom 08.03.2017 – 5 StR 333/16, BGHSt 62, 85; Urteil vom 04.05.2017 – 3 StR 69/17, NStZ 2018, 286 mit Anm. Kudlich; Beschlüsse vom 24.10.2018 – 1 StR 212/18, NStZ 2019, 283; und vom 04.06.2019 – 2 StR 202/18, NStZ 2020, 357[]
  12. EuGH „El Dridi“, aaO Rz. 58[]
  13. EuGH „Affum“, aaO Rz. 52[]
  14. vgl. Gräfe, Sinn und System des Absehens von Strafe, 2012, S. 3 ff.; SSW-StGB/Claus, 4. Aufl., § 60 Rn. 1 ff.[]
  15. BGH, Urteil vom 04.05.2017 – 3 StR 69/17, NStZ 2018, 286; vgl. auch Gericke, aaO[]
  16. vgl. BGH, Urteil vom 08.03.2017 – 5 StR 333/16, BGHSt 62, 85, 88 f.[]
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Bildnachweis:

  • Flüchtling im Hamburger Hafen: fsHH