Hat der Beschuldigte rechtswidrige Taten im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit oder der Schuldunfähigkeit begangen und sind angesichts seines Krankheitsbildes von ihm auch künftig vergleichbare Handlungen zu erwarten, die erheblich sind, mithin keine bloßen Belästigungen oder Lästigkeiten darstellen [1], ist er damit er nach allgemeinen Regeln für die Allgemeinheit gefährlich [2].

Allerdings stellt der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung besondere Anforderungen bei Taten, die ein Beschuldigter oder Angeklagter im Rahmen von Unterbringungen in Betreuungseinrichtungen verübt.
In seinem Urteil vom 22.01.1998 [3] hat der 4. Strafsenat mit solcher Begründung – soweit ersichtlich erstmals – die Unterbringung eines bereits auf anderer Rechtsgrundlage Untergebrachten als unverhältnismäßig angesehen (§ 62 StGB). Habe der Beschuldigte die krankheitstypischen und krankheitsbedingten Anlasstaten im Rahmen einer bereits aus anderen Gründen angeordneten Unterbringung begangen und seien Tatopfer die Angehörigen des Pflegepersonals, so bleibe für die Maßregel nach § 63 StGB in der Regel kein Raum. Das Verhalten eines in einer psychiatrischen Klinik dauerhaft Untergebrachten gegenüber dem im Umgang mit schwierigen und aggressiven Patienten geschulten Personal sei für eine wertende Betrachtung nicht gleichzusetzen mit Handlungen, die ein schuldunfähiger oder vermindert schuldfähiger Täter im Leben in Freiheit gegenüber beliebigen Dritten oder ihm nahestehenden Personen begehe. Solche Taten verlangten – jedenfalls soweit sie nicht dem Bereich schwerster Rechtsgutsverletzungen zuzurechnen seien – schon nach ihrem äußeren Eindruck weit weniger nach einer Reaktion durch ein Sicherungsverfahren und die Anordnung einer strafrechtlichen Maßregel.
Spätere Entscheidungen haben den Gedanken aufgegriffen, diesen jedoch nicht bei der Frage der Verhältnismäßigkeit, sondern bereits im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose gewichtet, und zwar bei der Prüfung der Erheblichkeit der (begangenen und künftig zu erwartenden) Taten [4]. Den Umstand, dass Taten innerhalb einer Einrichtung nicht mit solchen außerhalb (extra muros) gleichgesetzt werden dürften, habe das Tatgericht jedenfalls dann zu berücksichtigen und ausdrücklich zu erörtern, wenn die Taten nicht ausschließbar ihre Ursache (auch) in der durch die Unterbringung für den Betreffenden bestehenden Situation hätten [5]. Diese Maßstäbe hat der Bundesgerichtshof – ohne nähere Begründung – auf Taten zum Nachteil von Mitpatienten erstreckt [6].
Der hier entscheidende 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs vermag dieser Rechtsprechung nicht uneingeschränkt zu folgen.
Das gilt zunächst insoweit, als ihr ein Postulat zu entnehmen sein könnte, nach allgemeinen Regeln als erheblich gewertete Taten wögen dann generell weniger schwer, wenn sie während einer Unterbringung begangen werden [7]. Zwar mag es sein, dass beispielsweise eine – dann auch im Wesentlichen abgewehrte – Gewalttat zum Nachteil geschulter, hinreichend kräftiger und/oder über besondere Hilfsund Schutzmittel verfügender [8] Pflegekräfte in einem milderen Licht erscheint als dieselbe Tat gegenüber sonstigen Dritten. Der Gesichtspunkt vorhandener „Wehrhaftigkeit“ im Umgang mit aggressiven Patienten trifft jedoch schon nicht auf das gesamte ärztliche und pflegerische Personal zu. Dabei hätte der Bundesgerichtshof Bedenken, zur Begründung einer generell minderen Gewichtung von Taten auch darauf abzustellen, dass ein psychisch Schwerkranker das Pflegepersonal womöglich nicht nach entsprechend geschulten und ungeschulten Kräften zu unterscheiden vermag [9]. Denn nicht die „Gleichsetzung“ einschlägiger Taten mit solchen außerhalb von Einrichtungen bedarf besonderer Begründung, sondern die Ungleichbehandlung gleichartiger Taten maßgebend anhand des Orts der Tatbegehung.
Für Mitpatienten treffen die von der Rechtsprechung angeführten Gründe für eine Andersbehandlung von Taten innerhalb von Einrichtungen nicht ohne weiteres zu. Weder verfügen diese über eine Schulung noch über Erfahrungen bei der Bewältigung von Taten aggressiver Patienten. Sie erscheinen im Gegenteil aufgrund der Unterbringungssituation und weithin fehlender Ausweichmöglichkeiten in besonderem Maße schutzbedürftig.
Der Bundesgerichtshof neigt aus diesen Gründen der Ansicht zu, dass die Tatgerichte die Besonderheiten der Unterbringungssituation nur dann ausdrücklich zu würdigen haben, wenn hierzu nach den konkreten Umständen der Tat(en) Anlass besteht. Das kann etwa bei Delikten zum Nachteil besonders geschulter Pflegekräfte im oben genannten Sinne der Fall sein oder auch bei Überreaktionen in Belastungssituationen, etwa im Zuge von Disziplinarmaßnahmen [10]. Ohne besonderen Anlass kann es nach Auffassung des Bundesgerichtshofs hingegen keinen durchgreifenden Erörterungsmangel darstellen, wenn sich ein Tatgericht im Rahmen einer ansonsten rechtsfehlerfreien Gefährlichkeitsprognose nicht gesondert mit dem Umstand auseinandersetzt, dass es um eine oder mehrere Taten im Rahmen eines Aufenthalts in einer psychiatrischen Einrichtung geht. Bei Taten gegenüber Mitpatienten wird in aller Regel kein Anlass zu eigenständiger Begründung bestehen.
Der 5. Strafsenat brauchte die aufgeworfenen Fragen vorliegend nicht abschließend zu entscheiden. Er vermag schon nicht sicher zu beurteilen, ob der bisherigen Rechtsprechung in Bezug auf Taten gegenüber Mitpatienten tatsächlich ein striktes Erörterungsgebot entnommen werden kann [11], bei dessen Verfehlen der Bestand des Urteils gefährdet ist.
Angesichts des Verlaufs der festgestellten Anlasstaten konnte im vorliegenden Fall aber jedenfalls ausgeschlossen werden, dass die Anlasstaten maßgeblich durch die Unterbringungssituation bedingt waren. Jene bildete vielmehr nur einen äußeren Mantel für die Tatbegehungen. Die Anlasstaten entsprangen entweder Alltagssituationen, wie sie sich auch außerhalb von therapeutischen Einrichtungen ereignen können, oder wiesen nur insoweit einen losen Zusammenhang mit dem Aufenthalt in der psychiatrischen Einrichtung auf, als der aggressiv gestimmte Beschuldigte zuvor das Dienstzimmer einer Angehörigen der Einrichtung aufgesucht hatte.
Der vielleicht „unterbringungsspezifische“ Vorfall auf dem Dienstzimmer lag zur Tatzeit schon zwei Stunden zurück. Auslöser für den Messerangriff war die Äußerung des Mitpatienten, dass der Beschuldigte „spinne“, nachdem Letzterer von Millionenverdiensten aus Drogenhandelsgeschäften erzählt hatte. Aufgrund des schweren Krankheitsbildes des Beschuldigten liegt auf der Hand, dass sich derartige Vorfälle jederzeit auch „in Freiheit“ ereignen können.
Bedenken unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) bestehen schon wegen der überlegenen Sicherungsmöglichkeiten des Maßregelvollzugs nicht. Dies gilt zumal angesichts dessen, dass der Beschuldigte bereits zweimal aus der Unterbringung auf Akutstationen entwichen ist.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24. Oktober 2019 – 5 StR 410/19
- vgl. BGH, Urteil vom 22.01.1998 – 4 StR 354/97, NStZ 1998, 405 mwN[↩]
- vgl. BGH, aaO; sowie BGH, Urteil vom 07.06.1995 – 2 StR 206/95, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 21[↩]
- BGH, Urteil vom 22.01.1998 4 StR 354/97, aaO[↩]
- vgl. z.B. BGH, Beschlüsse vom 08.07.1999 – 4 StR 269/99, NStZ 1999, 611, 612; vom 02.07.2002 – 1 StR 194/02, NStZ 2002, 590, 591; vom 17.02.2009 – 3 StR 27/09, NStZ-RR 2009, 169, 170; vom 22.02.2011 – 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202, 203; vom 25.04.2012 – 4 StR 81/12 Rn. 5[↩]
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 08.07.1999 – 4 StR 269/99, aaO; vom 02.07.2002 – 1 StR 194/02, aaO; vom 17.02.2009 – 3 StR 27/09, aaO[↩]
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 08.07.1999 – 4 StR 269/99, aaO; vom 02.07.2002 – 1 StR 194/02, aaO[↩]
- in diesem Sinne BGH, Beschluss vom 25.04.2012 – 4 StR 81/12, aaO; BVerfG [Kammer], NJW 2012, 513, 514; SSWStGB/Kaspar, 4. Aufl., § 63 Rn. 25; siehe aber auch BGH, Urteil vom 05.06.2019 – 2 StR 42/19[↩]
- insoweit zu Polizeibeamten BGH, Beschluss vom 19.01.2017 – 4 StR 595/16, NStZ-RR 2017, 203, 205[↩]
- aA betreffend „einfache Krankenpflegerinnen“: BGH, Beschluss vom 25.04.2012 – 4 StR 81/12, aaO[↩]
- vgl. auch BGH, Beschluss vom 13.12 2011 – 5 StR 422/11, NStZ-RR 2012, 107, 108[↩]
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 08.07.1999 – 4 StR 269/99, aaO; vom 02.07.2002 – 1 StR 194/02, aaO; jeweils: „und unter Umständen auch gegen Mitpatienten“[↩]
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