Das Bundesverfassungsgericht hat aktuell der Verfassungsbeschwerde eines Untersuchungsgefangenen gegen einen Haftfortdauerbeschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken1 stattgegeben und festgestellt, dass der Untersuchungsgefangene in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person verletzt ist.

Zur Begründung hat das Bundesverfassungsgericht einerseits angeführt, dass die Terminierung der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) in der gegen den Untersuchungsgefangenen geführten Hauptverhandlung den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verhandlungsdichte nicht genügt. Andererseits enthält der Haftfortdauerbeschluss keine tragfähige Begründung, die ausnahmsweise dennoch die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Sache an das Pfälzische Oberlandesgericht zurückverwiesen, das unter Beachtung der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts erneut darüber zu entscheiden haben wird, ob der Untersuchungsgefangene weiter in Untersuchungshaft bleibt:
Inhaltsübersicht
Der Ausgangssachverhalt[↑]
Der Untersuchungsgefangene befindet sich seit Mai 2016 in Untersuchungshaft. Im August 2016 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Mordes, gefährlicher Körperverletzung und Geiselnahme in Tateinheit mit versuchtem Mord und gefährlicher Körperverletzung. Im Oktober 2016 ließ die zuständige Strafkammer des Landgerichts die Anklage zur Hauptverhandlung zu und ordnete die Haftfortdauer an. Die Hauptverhandlung begann zunächst im November 2016. Bis September 2017 waren 25 Verhandlungstage terminiert. Nach 23 Verhandlungstagen erkrankte die Vorsitzende im August 2017 dauerhaft dienstunfähig. Die Kammer setzte daraufhin die Hauptverhandlung aus. Die Hauptverhandlung begann nach Übernahme der Kammer durch einen neuen Vorsitzenden erneut im Dezember 2017. Bis August 2018 wurde an 25 Tagen, bis November 2018 wurde an vier weiteren Tagen verhandelt. Bis zum 31.01.2019 sind weitere 15 Termine bestimmt.
Die Strafkammer zeigte mehrmals ihre Überlastung an. Zwischenzeitlich wies das Präsidium der Kammer eine weitere Beisitzerin mit einem Arbeitskraftanteil von 0, 2 zu, und es wurden Haftsachen, in denen eine Hauptverhandlung noch nicht begonnen hatte, anderen Strafkammern zugewiesen. Allerdings verhandelte die Kammer zeitgleich in zwei weiteren umfangreichen Haftsachen. Im August 2018 legte der Pflichtverteidiger des Untersuchungsgefangenen Haftbeschwerde ein, mit der er einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot rügte. Das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken verwarf die Beschwerde durch den vorliegend angegriffenen Beschluss vom 16.10.20181 als unbegründet.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[↑]
Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt: Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Grundrechte des Untersuchungsgefangenen angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
Untersuchungshaft und das Freiheitsgrundrecht[↑]
Der Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 16.10.2018 verletzt den Untersuchungsgefangenen in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 GG.
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert2.
Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit3; zugleich haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der Person bestimmen4.
Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist daher stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art.20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist5, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt6.
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen7. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft8. Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu9.
Im Rahmen der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen; insofern sind in erster Linie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung10. Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird dabei auch unter Berücksichtigung der genannten Aspekte nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein11.
Beschleunigungsgebot in Haftsachen[↑]
Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen12. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. So ist nach Anklageerhebung bei Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen13. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig14.
Untersuchungshaft und Verfahrensverzögerungen[↑]
Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen15. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen16.
Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Vielmehr kann die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt17. Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur rechtzeitigen verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen18.
Haftfortdauerentscheidung – und die Begründungstiefe[↑]
Da der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist19, unterliegen Haftfortdauerentscheidungen einer erhöhten Begründungstiefe20. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrem Gewicht verschieben können21. Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein22. Eine Überprüfung der fachgerichtlichen Entscheidung auf die zutreffende Anwendung einfachen Rechts nimmt das Bundesverfassungsgericht hingegen ausschließlich im Rahmen des Willkürverbots vor23.
Die Haftfortdauerentscheidung im vorliegenden Fall[↑]
Diesen Vorgaben genügt der angegriffene Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken nicht. Er zeigt keine besonderen Umstände auf, die die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen könnten, und wird damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Haftfortdauerentscheidungen nicht gerecht.
Das Oberlandesgericht selbst weist zunächst zutreffend darauf hin, dass die Terminierung der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verhandlungsdichte nicht genügt.
Die Strafkammer hat in jedem Betrachtungszeitraum – sowohl in der ersten als auch in der nach der Erkrankung der bisherigen Vorsitzenden erforderlich gewordenen zweiten Hauptverhandlung – weit seltener als an durchschnittlich einem Hauptverhandlungstag pro Woche verhandelt, zuletzt an nur 0, 65 Tagen pro Woche. Die Verhandlungsdichte sinkt noch weiter unter diesen Wert, wenn man die Sitzungstage nicht einbezieht, an denen nur kurze Zeit verhandelt und das Verfahren dadurch nicht entscheidend gefördert wurde24.
Selbst wenn bei der Berechnung der Verhandlungsfrequenz die Urlaubszeiträume des Verteidigers und der Kammermitglieder vollständig unberücksichtigt blieben25, würde die von Verfassungs wegen gebotene Verhandlungsdichte nicht eingehalten. Auf die Frage, ob die Kammer nicht nur einen Ergänzungsrichter und einen Ergänzungsschöffen, sondern auch einen anderen oder einen weiteren Pflichtverteidiger hätte bestellen müssen, um die Unterbrechungszeiträume zu verkürzen und so eine Beschleunigung des Verfahrens zu erreichen26, kommt es daher nicht an.
Die vom Präsidium des Landgerichts als Reaktion auf die Überlastungsanzeigen getroffenen Maßnahmen haben nicht dazu geführt, dass die vorliegende Haftsache nunmehr innerhalb des durch das Beschleunigungsgebot gezogenen Rahmens bearbeitet und die bereits eingetretene Verfahrensverzögerung wirksam kompensiert worden wäre27. Die verfassungsrechtlich gebotene Hauptverhandlungsdichte wurde weiterhin nicht erreicht. Selbst in den Monaten Januar und März 2018, für die das Oberlandesgericht eine „höhere Terminsdichte“ annimmt, haben lediglich vier beziehungsweise zwei Termine stattgefunden. Eine Verhandlungsdichte, die ihrerseits den aus dem Beschleunigungsgrundsatz folgenden Mindestanforderungen nicht entspricht, ist erst recht nicht geeignet, eine bereits eingetretene Verfahrensverzögerung zu kompensieren.
Der Untersuchungsgefangene kann auch nicht darauf verwiesen und die Verzögerung seines Verfahrens kann nicht dadurch kompensiert werden, dass nunmehr die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, dass andere, zukünftige Verfahren hinreichend beschleunigt verhandelt werden können. Erst recht nach der Erkrankung der bisherigen Vorsitzenden und dem hierdurch bedingten Neubeginn der Hauptverhandlung zu einem Zeitpunkt, als die Untersuchungshaft bereits über eineinhalb Jahre andauerte, hätte es einer Verhandlungsdichte bedurft, die – mindestens – einen Verhandlungstag pro Woche erreicht.
Der Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken enthält keine tragfähige Begründung, die ausnahmsweise – trotz der ungenügenden Verhandlungsdichte – die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte.
Das Oberlandesgericht hat nicht nachvollziehbar dargelegt, dass die erschwerte Terminfindung ihre Ursache allein in dem konkreten Strafverfahren hatte und nicht vielmehr darauf zurückzuführen ist, dass die Strafkammer neben dem gegenständlichen Verfahren mehrere weitere, teilweise umfangreiche Haftsachen zu bewältigen hatte. In diesem Zusammenhang hätte sich das Oberlandesgericht insbesondere damit auseinandersetzen müssen, dass bereits die damalige Vorsitzende in ihrer Überlastungsanzeige vom 10.04.2017 mitgeteilt hatte, dass die Strafkammer „in den nächsten Monaten über keinerlei Terminkapazitäten mehr verfügt“, und dass auch nach den Überlastungsanzeigen vom 12.09.2017; und vom 12.12 2017 keine Terminskapazitäten mehr bestanden beziehungsweise die Kammer mit Sitzungstagen maximal belastet war. Vor diesem Hintergrund drängt sich auf, dass die geringe Verhandlungsdichte nicht etwa auf die – vom Oberlandesgericht jeweils ausführlich dargelegte – Verhinderung einzelner Verfahrensbeteiligter, insbesondere des Pflichtverteidigers wegen seiner häufigen, teils mehrwöchigen Urlaubsabwesenheit, sondern vor allem darauf zurückzuführen ist, dass die Strafkammer aufgrund ihrer Belastung mit weiteren Verfahren ohnehin keine freien Verhandlungskapazitäten mehr zur Verfügung hatte.
Soweit das Oberlandesgericht ausführt, zu Beginn der zweiten Hauptverhandlung sei die Strafkammer zwar stark ausgelastet gewesen, eine Überlastung mit Haftsachen sei aber noch nicht feststellbar, steht dies nicht nur im Widerspruch zur Einschätzung der mit der Sache befassten Strafkammer in ihren wiederholten Überlastungsanzeigen, sondern auch mit dem vom Oberlandesgericht zugleich angeführten Umstand, dass die Kammer auch in zwei weiteren, zeitgleich anhängigen Haftsachen an 32 beziehungsweise 39 Sitzungstagen verhandelt hat.
Die vom Oberlandesgericht im Übrigen angeführten Gesichtspunkte – namentlich die Komplexität des Verfahrens, die äußerst schwerwiegenden Tatvorwürfe und die Verfahrensverzögerungen wegen des Verhaltens des Verteidigers – mögen zwar die Untersuchungshaft als solche und die Anzahl der benötigten Hauptverhandlungstage und deren Dauer rechtfertigen, nicht jedoch das Unterlassen einer dichteren Terminierung28. Auch die Erkrankung der bisherigen Vorsitzenden kann als unvorhersehbares, schicksalhaftes Ereignis zwar ausnahmsweise die Fortdauer der Untersuchungshaft auch während der erforderlich werdenden neuen Hauptverhandlung rechtfertigen, nicht aber eine durchgehend zu geringe Termindichte.
Demgegenüber hat sich das Oberlandesgericht nicht hinreichend mit den Gesichtspunkten auseinandergesetzt, die grundsätzlich geeignet sein können, die Fortdauer der Untersuchungshaft trotz ungenügender Verhandlungsdichte verfassungsrechtlich zu rechtfertigen.
So verhält sich der Beschluss nicht dazu, ob die Belastungssituation der Strafkammer – wie der Präsident des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) in seiner Stellungnahme vom 03.12 2018 schreibt – erst zu Beginn des Jahres 2017 eingetreten ist und nachweislich – etwa durch eine im Vergleich außergewöhnlich hohe Zahl von Verfahrenseingängen, insbesondere besonders umfangreicher Haftsachen – unvorhersehbar und somit unvermeidbar war, oder ob die Strafkammer bereits vorher dauerhaft, nicht nur vorübergehend überlastet war und damit letztlich eine unzureichende Personalausstattung oder -verwaltung die wesentliche Ursache für die lange Verfahrensdauer ist. Maßgeblich ist dabei nicht der theoretische Deckungsgrad der Strafabteilung des Landgerichts nach dem Personalbedarfsberechnungssystem29 der Justizverwaltung, sondern allein die tatsächliche Belastungssituation des zuständigen Spruchkörpers, wie sie sich hier insbesondere aus den zahlreichen Überlastungsanzeigen ergibt. Dabei ist zu beachten, dass es nicht Aufgabe eines Gerichts sein kann, eine strukturell zu geringe Personalausstattung oder eine dauerhafte Überlastung mit Haftsachen durch einen langfristig überobligatorischen Arbeitseinsatz oder eine langfristige Beschränkung ihrer Verhandlungskapazitäten ausschließlich auf Haftsachen zu kompensieren.
Auch setzt sich der angegriffene Beschluss nicht mit den von der Justizverwaltung aus Anlass der Überlastungsanzeigen jeweils getroffenen Abhilfemaßnahmen auseinander, die in der Stellungnahme des Ministeriums der Justiz Rheinland-Pfalz und der dort wiedergegebenen Stellungnahme des Präsidenten des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) dargestellt sind. Das Oberlandesgericht wäre insoweit gehalten gewesen, ausgehend von der tatsächlichen Belastungssituation der Strafkammer darzulegen, inwieweit die jeweils von der Justizverwaltung getroffenen Maßnahmen nach Art, Zielrichtung und Umfang rechtzeitig, geeignet und hinreichend wirksam waren, um die Voraussetzungen für eine dem Beschleunigungsgebot genügende Verfahrensgestaltung (wieder)herzustellen, oder ob die Justizverwaltung die gebotenen Maßnahmen erst zu einem Zeitpunkt getroffen hat, zu dem eine den rechtsstaatlichen Anforderungen genügende Verfahrensführung nicht mehr zu gewährleisten war30.
Für den Fall, dass sowohl eine außergewöhnliche, unvorhersehbare Belastungssituation der Strafkammer anzunehmen ist als auch die Reaktionen der Justizverwaltung hierauf jeweils als ausreichend zu erachten sind, wäre schließlich darzulegen gewesen, ob die – nach Erkrankung der bisherigen Vorsitzenden neu besetzte – Strafkammer im Rahmen der neu begonnenen Hauptverhandlung das vorliegende Verfahren unter den gegebenen Voraussetzungen tatsächlich hinreichend beschleunigt betrieben hat und etwaige Verfahrensverzögerungen ihre Ursache ausschließlich in dem konkreten Strafverfahren haben.
Die Folgen…[↑]
Es ist daher gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festzustellen, dass der Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 16.10.2018 den Untersuchungsgefangenen in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG verletzt. Der Beschluss ist unter Zurückverweisung der Sache aufzuheben (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG). Das Oberlandesgericht wird unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen erneut über die Haftfortdauer zu entscheiden haben.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18
- OLG Zweibrücken, Beschluss vom 16.10.2018 – 1 Ws 214/18[↩][↩]
- vgl. BVerfGE 35, 185, 190; 109, 133, 157; 128, 326, 372; BVerfG, Beschluss vom 13.10.2016 – 2 BvR 1275/16 39; Beschluss vom 22.08.2017 – 2 BvR 2039/16 39; Beschluss vom 25.06.2018 – 2 BvR 631/18 30[↩]
- vgl. BVerfGE 22, 180, 219; 45, 187, 223; 58, 208, 224 f.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.10.2016 – 2 BvR 1275/16 40; Beschluss vom 22.08.2017 – 2 BvR 2039/16 40; Beschluss vom 25.06.2018 – 2 BvR 631/18 31[↩]
- vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 74, 358, 370 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 20, 45, 49 f.; 36, 264, 270; 53, 152, 158 f.; BVerfGK 15, 474, 479; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 32; Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/1419; Beschluss vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/17 15; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18 27[↩]
- BVerfGE 20, 45, 49 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 36, 264, 270; 53, 152, 158 f.[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 140, 161; 15, 474, 480; 17, 517, 522; BVerfG, Beschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12 40[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 37[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.09.1999 – 2 BvR 1775/99 16; Beschluss vom 11.06.2008 – 2 BvR 806/08 36; Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 24[↩]
- vgl. BVerfGE 20, 45, 50; 36, 264, 273[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2011 – 2 BvR 2781/10 15; Beschluss vom 14.11.2012 – 2 BvR 1164/12 43; Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 21; Beschluss vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/17 16; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18 28, 37; Beschluss vom 01.08.2018 – 2 BvR 1258/18 25[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 21, 46 f.; 7, 140, 157; BVerfG, Beschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 49 ff.[↩]
- vgl. BVerfGK 15, 474, 480; 17, 517, 523; BVerfG, Beschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12 41[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 140, 156; BVerfG, Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 22; Beschluss vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/17 17; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18 29[↩]
- BVerfGE 36, 264, 273 ff.; BVerfG, Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 23[↩]
- BVerfGE 36, 264, 275; BVerfG, Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 23; Beschluss des vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/17 18; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18 30[↩]
- vgl. hierzu BVerfGE 53, 30, 65; 63, 131, 143[↩]
- vgl. BVerfGE 103, 21, 35 f.; BVerfGK 7, 140, 161; 10, 294, 301; 15, 474, 481; 19, 428, 433; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 38[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 140, 161; 10, 294, 301; 15, 474, 481; 19, 428, 433; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 38[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 421, 429 f.; 8, 1, 5; 15, 474, 481 f.; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 39; Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 25; Beschluss vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/1719; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18 31[↩]
- stRspr; vgl. BVerfGE 18, 85, 92 f.; 65, 317, 322[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 21, 46 f.; BVerfG, Beschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12 52[↩]
- vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 53; Beschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12 51[↩]
- vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 17.07.2006 – 2 BvR 1190/06 9; Beschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 49 ff.[↩]
- vgl. hierzu BVerfGK 12, 166, 168; BVerfG, Beschluss vom 13.10.2016 – 2 BvR 1275/16 57; Beschluss vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/17 21; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18 36[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 56[↩]
- „PEBB§Y“[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/17 21; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18 35[↩]