Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO ist die Berufung zwingend zu verwerfen. Eine den Anforderungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 8. November 2012 [1] entsprechende konventionsfreundliche Auslegung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO ist nach Ansicht des Oberlandesgerichts Braunschweig nicht möglich.

Für eine Verfahrenrüge, die auf eine vermeintlich unberechtigte Verwerfung einer Berufung bei Anwesenheit eines Verteidigers gestützt wird, bedarf es im Hinblick auf § 234 StPO der Darlegung, ob der Verteidiger von dem Angeklagten zu seiner Vertretung schriftlich bevollmächtigt worden ist und ob der Verteidiger diese schriftliche Vollmacht dem Gericht nachgewiesen hat.
§ 329 Abs. 1 StPO bestimmt, dass dann, wenn bei Beginn der Hauptverhandlung weder der Angeklagte noch in den Fällen, in denen dies zulässig ist (§§ 232 Abs. 1 S. 1, 233 Abs. 1 S. 1, 234, 411 Abs. 2 Satz 1 StPO) ein Vertreter des Angeklagten erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist, das Berufungsgericht eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen hat. Ein Ermessen, anders zu entscheiden, besteht nicht.
Unabhängig von der das deutsche Strafprozessrecht betreffenden Vorlagesache [2] hatten aufgrund dieser eindeutigen Rechtslage schon die Oberlandesgerichte in Düsseldorf [3] und Hamm [4] die Frage verneint, ob eine frühere Entscheidung des EGMR [5] zu einer den Anwendungsbereich des § 329 Abs. 1 StPO einschränkenden Auslegung zwingt. Dem haben sich nunmehr, und zwar in Kenntnis der o.g. jüngsten Entscheidung des EGMR, ausdrücklich auch die Oberlandesgerichte München [6] und Celle [7] angeschlossen.
Auch das Oberlandesgericht Braunschweig schließt sich dieser Rechtsprechung an.
Der innerstaatliche Rang der Europäischen Menschenrechtskommission entspricht dem eines Bundesgesetzes. Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben. Eine konventionsfreundliche Auslegung endet allerdings dort, wo der Wille des nationalen Gesetzgebers in Gestalt von bestehendem Gesetzesrecht entgegensteht. Die Europäische Menschenrechtskonvention eröffnet den Gerichten keine Verwerfungskompetenz für eindeutig entgegenstehende Gesetze [8].
Nach diesen Maßstäben ist eine dem Urteil des Europäsichen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 8. November 2012 entsprechende Auslegung des § 329 StPO nicht möglich, da diese gegen den eindeutigen Wortlaut, den Willen des historischen Gesetzgebers und den Gesetzeszweck verstoßen würde. Vor diesem Hintergrund musste das Landgericht Braunschweig die Berufung des Angeklagten nach dieser Vorschrift verwerfen.
Oberlandesgericht Braunschweig, Beschluss vom 19. März 2014 – 1 Ss 15/14
- EGMR, Urteil vom 08.11.2012 – Individualbeschwerde 30804/07[↩]
- EGMR, Urteil vom 08.11.2012 – Individualbeschwerde Nr. 30804/07 – N. gegen Deutschland[↩]
- OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27.02.2012 – III‑2 RVs 11/12[↩]
- OLG Hamm, Beschluss vom 14.06.2012 – III‑1 RVs 41/12[↩]
- EGMR – Individualbeschwerde Nr. 13566/06 – P. gegen Finnland[↩]
- OLG München, Beschluss vom 17.01.2013 – 4 StRR (A) 18/12[↩]
- OLG Celle, Beschluss vom 19.03.2013 – 32 Ss 29/13[↩]
- BGH, Beschluss vom 09.11.2010 – 5 StR 394/10[↩]