Das Recht zur Aussageverweigerung nach § 55 StPO entbindet den Zeugen trotz seiner Ankündigung, hiervon umfassend Gebrauch zu machen, nicht von seiner grundsätzlichen Pflicht, auf Ladung vor Gericht zu erscheinen wenn das Gericht erwägt, aus dem Verhalten des Zeugen in der Hauptverhandlung eine bestimmte Schlussfolgerung im Hinblick auf den den Angeklagten Tatvorwurf zu ziehen.

Auch die Angst des Zeugen vor schwerwiegenden Gefahren für Leib und Leben rechtfertigt nach Ansicht des Oberlandesgerichts Rostock sein Ausbleiben vor Gericht nicht, wenn gerichtsseitig umfassende Vorkehrungen zum Schutz des Zeugen vor diesen Gefahren getroffen wurden.
Im hier vom Oberlandesgericht Rostock entschiedenen Fall hatte der Zeugenbeistand bereits nach Zustellung der Ladung gegenüber dem Landgericht vorgetragen, dass die Verpflichtung zum Erscheinen vor Gericht für seinen Mandanten unverhältnismäßig sei, weil dieser sich zum einen auf ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufen werde und die sich bereits aus dem angeklagten Tatvorwurf ergebende Gefährdung seines Lebens sowie seiner körperlichen Unversehrtheit in keinem Verhältnis zu dem prozessualen Nutzen stehe, den die Abgabe der Erklärung nach § 55 StPO in der Hauptverhandlung haben könne. Der Kammervorsitzende hat dem Zeugenbeistand daraufhin mitgeteilt, dass auch ein umfangreiches Aussageverweigerungsrecht nach § 55 StPO keinen Entschuldigungsgrund i.S.d. § 51 Abs. 2 StPO darstelle, und dass das Landgericht für die Hauptverhandlung umfangreiche Sicherungsmaßnahmen, wie insbesondere Eingangskontrollen und eine Durchsuchung des Verhandlungssaals angeordnet habe, um der möglichen Gefährdung des Zeugen zu begegnen. Ferner bestehe die Möglichkeit, im Vorfeld Maßnahmen abzusprechen, um eine Begegnung des Zeugen mit anderen Verfahrensbeteiligten im Gerichtsgebäude zu unterbinden. Gleichwohl ist der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht erschienen, woraufhin der angefochtene Ordnungsgeldbeschluss erlassen wurde. Das Oberlandesgericht Rostock bestätigte dieses Ordnungsgeld:
Die Angst des Zeugen vor Nachteilen vermag das Fernbleiben nicht zu entschuldigen. Auch die Angst vor dem Angeklagten oder anderen an dem Verfahren beteiligten Personen stellt grundsätzlich keinen Entschuldigungsgrund dar1. Etwas anderes mag ausnahmsweise dann gelten, wenn der Zeuge oder ein ihm nahestehender Angehöriger im Falle seines Erscheinens vor Gericht ersichtlich in Lebensgefahr oder die Gefahr schwerer Angriffe auf seine körperliche Unversehrtheit gerät und ausreichende Schutzvorkehrungen nicht getroffen werden können2. Bei der Beurteilung der bestehenden Gefahren ist aber nicht die subjektive Einschätzung des Zeugen, sondern die objektive Bewertung der Gefährdungslage maßgeblich. Eine solche ist hier aber weder vorgetragen noch ist sie sonst ersichtlich.
Ob dabei aufgrund einer Ankündigung des Zeugen, wonach er sich auf ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht berufen wird, von einer Ladung abgesehen wird, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts3. Selbst wenn das Gericht – wie hier – bereits vor der Vernehmung von einem umfassenden Aussageverweigerungsrecht ausgeht, ist es nicht per se unverhältnismäßig, den Zeugen gleichwohl zu laden. Die Berufung des Zeugen auf sein Aussageverweigerung nach § 55 StPO unterliegt im Verfahren gegen den Angeklagten der freien Beweiswürdigung4. Wenn – wie hier von dem Kammervorsitzenden in dem Schreiben vom 16.07.2012 dargelegt – die Aussageverweigerung eine bestimmte Schlussfolgerung im Hinblick auf den Tatvorwurf gegenüber den Angeklagten ermöglicht, ist es im Sinne des Unmittelbarkeits- und des Mündlichkeitsprinzips nicht unverhältnismäßig, den Zeugen persönlich mit dieser Schlussfolgerung zu konfrontieren, um seine Reaktion in der Wortwahl aber auch in Gestik und Mimik wahrnehmen zu können, selbst wenn er bei seiner Aussageverweigerung bleibt.
Ein Irrtum über die Erscheinenspflicht, der i. Ü. nur in Ausnahmefällen ein Nichterscheinen entschuldigen könnte5 ist weder vorgetragen noch ersichtlich, zumal es sich bei dem Zeugen um einen langjährig berufserfahrenen Strafverteidiger handelte.
Oberlandesgericht Rostock, Beschluss vom 6. Juni 2014 – Ws 127/14