Im Bottroper „Apotheker-Skandal“ ist die Verfassungsbeschwerde ohne Erfolg geblieben. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, mit der sich der Apotheker gegen seine Verurteilung durch das Landgericht Essen unter anderem wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz in 14.564 Fällen sowie gegen die Verwerfung seiner Revision durch den Bundesgerichtshof wendet.

Die Verurteilung des Apothekers stellt keinen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz dar, befand das Bundesverfassungsgericht. Auch eine anderweitige Grundrechtsverletzung sei nicht dargetan oder ersichtlich:
Der Ausgangssachverhalt
Der Apotheker war Inhaber einer Apotheke, die patientenindividuelle Arzneimittelzubereitungen für die Krebstherapie herstellte und an onkologische Arztpraxen und Krankenhäuser lieferte. Zwischen Januar 2012 und November 2016 stellte er in 14.564 Fällen unterdosierte Arzneimittel her, die er auslieferte und unter anderem bei den gesetzlichen Krankenkassen monatsweise unter Vorgabe einer ordnungsgemäßen Dosierung abrechnete. Dabei nahm er die unterdosierten Zubereitungen ganz überwiegend eigenhändig vor. In Einzelfällen wurden die unterdosierten Arzneimittel aber auch durch ausgewählte Mitarbeiter „auf Veranlassung oder Anweisung und mit zumindest generellem Wissen und Billigung“ des Apothekers hergestellt. Durch das verordnungswidrige und heimliche Einsparen von Wirkstoffen wollte er den Gewinn der Apotheke steigern, um seinen privaten Finanzbedarf zu decken.
Die strafgerichtlichen Entscheidungen
Mit angegriffenem Urteil vom 06.07.2018 verurteilte das Landgericht Essen den Apotheker unter anderem wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz in 14.564 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Jahren1. Zugleich ordnete die Kammer ein lebenslanges Berufsverbot und die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 17 Millionen Euro an. In Hinblick auf 14.498 ausgelieferte Zubereitungen vermochte das Landgericht die Unterdosierung nur rechenweise festzustellen. So stellte es 25 Wirkstoffe fest, bei denen die eingekaufte Wirkstoffmenge nicht für die im Tatzeitraum hergestellten Zubereitungen ausreichen konnte. Insgesamt bereitete der Apotheker im Tatzeitraum 28.285 Arzneimittel – mit (mindestens) einem dieser Wirkstoffe – zu. Hiervon enthielten 14.498 Arzneimittelzubereitungen überhaupt keinen Wirkstoff. Das Landgericht verurteilte den Apotheker in allen nachgewiesenen Fällen als Täter. In Hinblick auf 14.498 Fälle ging das Landgericht dabei von einer gleichartigen Wahlfeststellung aus.
Die dagegen gerichtete Revision verwarf der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 10.06.20202.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Apotheker insbesondere eine Verletzung des Schuldgrundsatzes sowie des „Grundrechts auf Wahrung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Grundgesetz (GG)“.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht erfüllt seien. Grundsätzliche Bedeutung kommt der Verfassungsbeschwerde nicht zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Apothekers angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Es kann dahinstehen, ob sie den Begründungsanforderungen (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG) genügt und damit zulässig erhoben ist. Denn sie ist jedenfalls unbegründet. Die Verurteilung des Apothekers stellt keinen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz dar, und auch eine anderweitige Grundrechtsverletzung ist nicht dargetan oder ersichtlich.
Das Strafrecht beruht auf dem im Verfassungsrang stehenden Schuldgrundsatz3. Der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ setzt die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann4. Deshalb bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG auf dem Gebiet der Strafrechtspflege die Auffassung vom Wesen der Strafe und dem Verhältnis von Schuld und Sühne5 sowie den Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt6. Mit der Strafe wird dem Täter ein sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen7. Das damit verbundene Unwerturteil berührt den Betroffenen in seinem in der Menschenwürde wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch8. Eine solche staatliche Reaktion wäre ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit der Garantie der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar9.
Der Schuldgrundsatz ist somit zugleich ein zwingendes Erfordernis des Rechtsstaatsprinzips. Das Rechtsstaatsprinzip ist eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes10. Es sichert den Gebrauch der Freiheitsrechte, indem es Rechtssicherheit gewährt, die Staatsgewalt an das Gesetz bindet und Vertrauen schützt11. Das Rechtsstaatsprinzip umfasst als eine der Leitideen des Grundgesetzes auch die Forderung nach materieller Gerechtigkeit12 und schließt den Grundsatz der Rechtsgleichheit als eines der grundlegenden Gerechtigkeitspostulate ein13. Für den Bereich des Strafrechts werden diese rechtsstaatlichen Anliegen in dem Grundsatz aufgenommen, dass keine Strafe ohne Schuld verwirkt wird14. Dieses Prinzip ist durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen sicherzustellen; Tat und Schuld müssen dem Täter prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden15.
Dabei sind die Feststellung strafrechtlicher Schuld und die Auslegung der in Betracht kommenden Vorschriften in erster Linie Sache der Strafgerichte16. Das Bundesverfassungsgericht prüft nur nach, ob dem Schuldgrundsatz überhaupt Rechnung getragen und seine Tragweite bei der Auslegung und Anwendung des Strafrechts grundlegend verkannt worden ist, nicht dagegen, ob die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte in jeder Hinsicht zutreffend gewichtet worden sind oder ob eine andere Entscheidung näher gelegen hätte16.
Der Apotheker zeigt eine sich an diesen Maßstäben orientierende Verletzung des Schuldgrundsatzes nicht auf. Das Landgericht hat die Schuld des Apothekers hinreichend konkret festgestellt. Es hat Feststellungen zum Vorsatz und zur Schuldfähigkeit des Apothekers getroffen. Entgegen der Rüge des Apothekers folgt ein Verstoß gegen den Schuldgrundsatz nicht aus der getroffenen gleichartigen Wahlfeststellung im Hinblick auf die 28.285 Zubereitungen oder der täterschaftlichen Verurteilung des Apothekers in den Fällen, in denen die Arzneimittel durch Mitarbeiter zubereitet wurden.
Sowohl die gleichartige Wahlfeststellung an sich als auch deren konkrete Anwendung im vorliegenden Fall sind im Hinblick auf den Schuldgrundsatz verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Die richterrechtlichen Grundsätze zur gleichartigen Wahlfeststellung sind mit dem Schuldgrundsatz vereinbar. Denn bei der gleichartigen Wahlfeststellung beschränken sich die Zweifel auf den deliktischen Sachverhalt und betreffen – anders als bei der ungleichartigen Wahlfeststellung – nicht auch die Gesetzesanwendung. Bei der gleichartigen Wahlfeststellung steht die schuldhafte Verwirklichung eines bestimmten Straftatbestandes zur Überzeugung des Gerichts fest. Unsicher ist allein der Zeitpunkt oder welche von mehreren Handlungen den Erfolg tatsächlich herbeigeführt hat.
Bei solch einer Sachverhaltskonstellation wäre ein Freispruch mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar. Denn die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Idee materieller Gerechtigkeit verlangt die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zur Sicherung einer am Rechtsgüterschutz orientierten Strafrechtspflege, wenn die Schuld des Angeklagten mit Gewissheit feststeht und sich die Zweifel allein auf Tatsachenfragen beziehen17.
In verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise fügen sich die angegriffenen Entscheidungen in diese Rechtsprechung ein. Die vom Landgericht vorgenommene gleichartige Wahlfeststellung ist nicht zu beanstanden. Die Strafkammer konnte auch nach Ausschöpfung der Aufklärungsmöglichkeiten nicht sicher feststellen, bei welchen 14.498 der insgesamt 28.285 hergestellten Arzneimittelzubereitungen eine Unterdosierung erfolgte. So steht nur fest, dass und wie viele Unterdosierungen es bei den Zubereitungen mit dem jeweiligen Wirkstoff mindestens gegeben hatte, während offenbleibt, in welchen dieser Fälle tatsächlich unterdosiert worden ist; gleichzeitig ist eine Untersuchung der bereits ausgelieferten Arzneimittel nicht mehr möglich. Das Landgericht hat aber nachvollziehbar für jeden einzelnen Wirkstoff dargelegt, wie viele Herstellungen der Apotheker im günstigsten Fall, das heißt bei einer Dosierung von 80 % der verschriebenen Wirkstoffmenge, ausreichend dosieren konnte. Die vorliegende Wahlfeststellung hält sich innerhalb der Grenzen des § 264 StPO. Zu den 28.285 Arzneimittelzubereitungen hat das Landgericht hinreichende Feststellungen getroffen, um die abgeurteilten Fälle ohne Schwierigkeiten von anderen Lebenssachverhalten abzugrenzen. Insbesondere hat das Landgericht neben dem Tatzeitraum auch konkrete Feststellungen zu den Herstellungs, Dosierungs- und Patientendaten getroffen, sodass die Gefahr einer Mehrfachverfolgung ausgeschlossen ist.
Soweit der Apotheker beanstandet, das Landgericht habe die jeweilige Tatbegehung nicht hinreichend konkret beschrieben – insbesondere nicht festgestellt, in welchen Fällen der Apotheker unterdosierte Zubereitungen hergestellt und ausgeliefert habe und für welche Patienten diese jeweils bestimmt gewesen seien, verkennt er die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der gleichartigen Wahlfeststellung. Nach den Grundsätzen der gleichartigen Wahlfeststellung ist eine eindeutige Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage nicht nur möglich, sondern auch geboten, wenn deren Voraussetzungen vorliegen. Dass die festgestellte Tatsachengrundlage Lücken aufweist, ist der gleichartigen Wahlfeststellung nicht nur immanent, sondern vorausgesetzt. Dies gilt auch für die beanstandeten Tatsachenunsicherheiten, insbesondere für die Feststellungen, in welchen Fällen der Apotheker unterdosierte Medikamente herstellte und auslieferte und für welche Patienten diese jeweils bestimmt waren.
Die Verurteilung des Apothekers als Täter auch in den Fällen, in denen die Medikamente nicht durch ihn selbst, sondern nach seinen Vorgaben durch Mitarbeiter hergestellt wurden, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Eine Grundrechtsverletzung ist auf Grundlage des Beschwerdevortrags nicht erkennbar.
Mit der allgemein gehaltenen Behauptung, die Strafkammer habe ihn allein deswegen als Täter verurteilt, weil er seine Mitarbeiter zu den Unterdosierungen unspezifisch veranlasste, verkennt der Apotheker die tragenden Gründe der angegriffenen Entscheidungen. Anders als der Apotheker meint, hat das Landgericht keinen neuen, von der Schuld entkoppelten Zurechnungsgrund geschaffen, sondern ist in einer Gesamtschau zahlreicher Umstände zu einer täterschaftlichen Verurteilung gelangt. Die Strafkammer hat die zur Begründung der mittelbaren Täterschaft in Gestalt der Organisationsherrschaft erforderlichen Tatsachen festgestellt. Sie schloss hierauf nicht bloß aufgrund einer unspezifischen Veranlassung, sondern einer Gesamtschau zahlreicher Umstände, insbesondere der Labororganisation, Wirkstoffbeschaffung, Personalauswahl, Arbeitsorganisation und Mitarbeiterkontrolle. Ob das Landgericht dabei die entscheidungserheblichen Umstände in jeder Hinsicht zutreffend gewichtet hat, ist der verfassungsrechtlichen Prüfung entzogen.
Dass die Strafkammer keine weitergehenden Feststellungen zu der konkreten Veranlassung oder Anweisung getroffen hat, begegnet im Hinblick auf den Schuldgrundsatz keinen Bedenken. Denn das Landgericht hat auch unabhängig davon ausreichende Feststellungen getroffen, beispielsweise zur organisatorischen Hoheit und dem Motiv des Apothekers ; beides lässt in hinreichendem Maße auf eine vom Täterwillen getragene Tatherrschaft schließen. Vor diesem Hintergrund geht schließlich auch die Rüge fehl, auf Grundlage der Feststellungen sei eine Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme nicht möglich. Denn hiermit verkennt der Apotheker sowohl die Feststellungen zur Tatherrschaft als auch jene zum Täterwillen. Der Apotheker hat schon nicht aufgezeigt, inwiefern vor diesem Hintergrund eine bloße Teilnahme möglich erscheinen soll. Es fehlt jede Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme. Die pauschale Behauptung, auch bei der Anstiftung komme es zu der Veranlassung eines Dritten, zeigt keine Grundrechtsverletzung auf.
Einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz legt der Apotheker auch im Übrigen nicht dar. Soweit der Apotheker behauptet, das Landgericht habe nicht ausreichend festgestellt, ob der Apotheker vorsätzlich und schuldhaft gehandelt habe, weil Mitarbeiter auch ohne sein Wissen Unterdosierungen hätten herstellen können, gehen diese Ausführungen an den Feststellungen der Strafkammer vorbei. Denn das Landgericht hat nicht nur ausdrücklich festgestellt, dass der Apotheker die unterdosierten Herstellungen der Mitarbeiter kannte und billigte, sondern auch, dass er seine Mitarbeiter absichtlich zu entsprechenden Unterdosierungen veranlasste oder anwies. Gleichzeitig schloss die Strafkammer ausdrücklich aus, dass Mitarbeiter eigenständig, also ohne Veranlassung, Kenntnis oder Billigung von ihm, unterdosierte Zubereitungen herstellten.
Die angegriffenen Entscheidungen halten sich auch im Rahmen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung und verletzen den Apotheker nicht in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG.
Zwar sind der anerkannten Befugnis der Gerichte zur Fortbildung des Rechts mit Rücksicht auf die Wertentscheidungen des Grundgesetzes, hier vornehmlich der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, sowie den Grundsatz der Gesetzesbindung Grenzen gesetzt18. Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt19. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet; und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein20.
Der Apotheker hat einen hiergegen gerichteten Verstoß nicht aufgezeigt. Die angegriffenen Entscheidungen wahren die verfassungsrechtlichen Schranken richterlicher Rechtsfortbildung. Weder hat der Apotheker dargelegt noch ist sonst erkennbar, dass die Fachgerichte in die Kompetenzen des Gesetzgebers eingegriffen hätten. Vorliegend beschränkt sich der Beschwerdevortrag auf die schlichte Behauptung, die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung seien überschritten, ohne dies in der Sache zu begründen. Die Begründung erschöpft sich in umfangreichen Ausführungen zum vermeintlichen Abweichen der angegriffenen Entscheidungen von der bestehenden Rechtsprechung. Hierzu wiederholt der Apotheker im Wesentlichen den Vortrag zum Schuldgrundsatz. Inwiefern die Strafgerichte eigene Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers gesetzt und den klaren Wortlaut hinantgestellt haben sollen, lässt der Apotheker unbeantwortet. Er setzt sich weder mit den maßgeblichen Normen noch deren Entstehungsgeschichte auseinander.
Vor diesem Hintergrund zeigt der Apotheker auch keine Grundrechtsverletzung auf, wenn er vorbringt, die Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft in Gestalt der Organisationsherrschaft lägen nicht vor. Gleiches gilt für die Behauptung, dass die vom Bundesverfassungsgericht zur ungleichartigen Wahlfeststellung aufgestellten Maßstäbe einer Verurteilung entgegenstünden. Denn in beiden Fällen rügt der Apotheker nicht, dass die fachgerichtliche Auslegung die Gewaltenteilung verletze und unzulässig in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers eingreife, sondern, dass die Auslegung der Fachgerichte von der bisherigen Rechtsprechung unzulässig abweiche.
Soweit der Apotheker in der Sache einen Verstoß gegen das Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG rügt, ist eine Grundrechtsverletzung ebenfalls nicht ersichtlich.
103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Bedeutung dieser Verfassungsnorm erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie21. Dabei ist „Analogie“ nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die – tatbestandsausweitend – über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht22.
Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen kann immer nur der Gesetzestext sein. Somit erweist sich dieser als maßgebendes Kriterium. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten garantieren will, ist die Wortlautgrenze aus dessen Sicht zu bestimmen22. Den Strafgerichten ist es mithin nicht erlaubt, eine Strafbestimmung über ihren eindeutigen, einer Auslegung nicht zugänglichen Wortlaut hinaus allein im Blick auf den Normzweck anzuwenden; dies verstieße gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG festgeschriebene Analogieverbot im Strafrecht23. Nicht verwehrt ist den Strafgerichten hingegen eine weite – seine Grenze aber keinesfalls überschreitende – Auslegung des Wortlauts einer Strafbestimmung. Gerade wenn der Normzweck eindeutig und offensichtlich ist, kann eine daran orientierte weite Auslegung des Wortsinns geboten sein, denn unter dieser Voraussetzung kann der Normadressat das strafrechtlich Verbotene seines Handelns vorhersehen, was zu gewährleisten Sinn des Art. 103 Abs. 2 GG ist24.
Eine sich an diesen Maßstäben orientierende Rechtsverletzung hat der Apotheker nicht dargetan.
Die Auslegung des § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB durch die Fachgerichte begegnet nach den vorstehenden Maßstäben keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Rügen des Apothekers gehen allesamt von der unzutreffenden Prämisse aus, das Landgericht habe die Täterschaft allein aufgrund einer unspezifischen Veranlassung angenommen. Eine belastbare Auseinandersetzung mit den getroffenen Feststellungen lässt der Beschwerdevortrag vermissen. Dies gilt auch für die Behauptung, das Landgericht habe die Zurechnung ohne Weiteres nach den konkurrenzrechtlichen Grundsätzen des uneigentlichen Organisationsdelikts vorgenommen. Auch hier lässt der Apotheker den Kontext und die umfangreichen Feststellungen zum Verhältnis zwischen ihm und seinen Mitarbeitern unberücksichtigt.
Die Annahme einer Wahlfeststellung verletzt den Apotheker nicht in Art. 103 Abs. 2 GG. Die hierin verbürgten Garantien werden durch die Grundsätze der Wahlfeststellung nicht berührt, weil die Grundsätze der Wahlfeststellung nicht strafbarkeitsbegründend wirken25. Die Regeln greifen nicht korrigierend in die Entscheidung des Gesetzgebers über strafwürdiges Verhalten ein; sie bestimmen nicht – über den Inhalt gesetzlicher Strafnormen hinausgehend – die Voraussetzungen, unter denen ein bestimmtes Verhalten als strafbar anzusehen ist26. Das Rechtsinstitut der Wahlfeststellung kommt vielmehr in einer bestimmten prozessualen Lage zur Anwendung, wenn nach abgeschlossener Beweiswürdigung zwar über den konkreten Geschehensablauf Zweifel bestehen, aber sicher feststeht, dass sich der Angeklagte – nach einem bestimmten oder einem von mehreren bestimmten Tatbeständen – strafbar gemacht hat.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 9. August 2023 – 2 BvR 1373/20
- LG Essen, Urteil vom 06.07.2018 – 56 KLs 11/17[↩]
- BGH, Beschluss vom 10.06.2020 – 4 StR 503/19[↩]
- vgl. BVerfGE 123, 267 <413> 133, 168 <197 Rn. 53> 140, 317 <343 Rn. 53>[↩]
- vgl. BVerfGE 140, 317 <343 Rn. 54>[↩]
- vgl. BVerfGE 95, 96 <140>[↩]
- vgl. BVerfGE 57, 250 <275> 80, 367 <378> 90, 145 <173> 123, 267 <413> 133, 168 <197 f. Rn. 54> 140, 317 <343 Rn. 54>[↩]
- vgl. BVerfGE 20, 323 <331> 95, 96 <140> 110, 1 <13> 133, 168 <198 Rn. 54>[↩]
- vgl. BVerfGE 96, 245 <249> 101, 275 <287> 140, 317 <343 f. Rn. 54>[↩]
- vgl. BVerfGE 20, 323 <331> 95, 96 <140> 133, 168 <198 Rn. 54> 140, 317 <344 Rn. 54>[↩]
- vgl. BVerfGE 20, 323 <331> 133, 168 <198 Rn. 55> 140, 317 <344 Rn. 55>[↩]
- vgl. BVerfGE 95, 96 <130>[↩]
- vgl. BVerfGE 7, 89 <92> 7, 194 <196> 45, 187 <246> 74, 129 <152> 122, 248 <272>[↩]
- vgl. BVerfGE 84, 90 <121>[↩]
- vgl. BVerfGE 95, 96 <130 f.> 133, 168 <198 Rn. 55> 140, 317 <344 Rn. 55>[↩]
- vgl. BVerfGE 9, 167 <169> 74, 358 <371> 133, 168 <199 Rn. 56> 140, 317 <345 Rn. 57>[↩]
- BVerfGE 95, 96 <141>[↩][↩]
- zur ungleichartigen Wahlfeststellung vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.07.2019 – 2 BvR 167/18, Rn. 38, 43[↩]
- vgl. BVerfGE 74, 129 <152> 111, 54 <82>[↩]
- vgl. BVerfGE 82, 6 <12> 128, 193 <210> 132, 99 <127 Rn. 75>[↩]
- vgl. BVerfGE 118, 212 <243> 122, 248 <258> 128, 193 <210> 134, 204 <238 Rn. 115>[↩]
- stRspr; vgl. BVerfGE 75, 329 <340> 126, 170 <194> 130, 1 <43>[↩]
- stRspr; vgl. BVerfGE 92, 1 <12> 126, 170 <197> 130, 1 <43>[↩][↩]
- vgl. BVerfGE 26, 41 <42> 47, 109 <121, 124>[↩]
- vgl. BVerfGE 28, 175 <183> 48, 48 <56> 57, 250 <262>[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 05.07.2019 – 2 BvR 167/18, Rn. 28 ff.[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 05.07.2019 – 2 BvR 167/18, Rn. 29[↩]
Bildnachweis:
- Apotheke: Hans Braxmeier | CC0 1.0 Universal