Grundsätzlich erschöpft sich der Spezialitätsschutz (§ 83h Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 IRG) in den Fällen der Übergabe nach dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten [1] (RB-EuHB) – anders als bei der Auslieferung – in der die Vollstreckung hindernden Wirkung [2].

Dies gilt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber dann nicht, wenn eine Gesamtstrafe mit nicht dem Spezialitätsschutz unterliegenden Strafen zu bilden ist. In diesen Fällen würde der Spezialitätsschutz bei Übergaben nach RB-EuHB bereits die Ausurteilung der Gesamtstrafe verhindern [3].
Der Bundesgerichtshof hat noch nicht entschieden, ob § 83h Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 IRG in Fällen aufeinanderfolgender Übergaben durch verschiedene Mitgliedstaaten, zwischen denen der Angeklagte freiwillig das Bundesgebiet verlassen hat, hinsichtlich der vorangehenden Übergabe anwendbar ist.
Im Blick darauf, dass mit § 83h Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 IRG die Regelungen betreffend die Spezialität im RB-EuHB (Art. 27 Abs. 2, 3 RB-EuHB) inhaltsgleich in nationales Recht umgesetzt sind [4], hat der Bundesgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union mit Beschluss vom 21.04.2020 [5] folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 27 Abs. 2, 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten [6] in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26.02.2009 geänderten Fassung [7] dahin auszulegen, dass der Grundsatz der Spezialität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, dann nicht entgegensteht, wenn die Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaates nach der Übergabe freiwillig verlassen hat, später von einem anderen Vollstreckungsmitgliedstaat aufgrund eines neuen Europäischen Haftbefehls abermals in das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaates übergeben worden ist und der zweite Vollstreckungsmitgliedstaat die Zustimmung zur Verfolgung, Verurteilung und Vollstreckung wegen dieser anderen Handlung erteilt hat?
Mit Urteil vom 24.09.2020 [8] hat der Gerichtshof der Europäischen Union auf das Vorabentscheidungsersuchen hin für Recht erkannt:
Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26.02.2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der in Abs. 2 dieses Artikels aufgestellte Grundsatz der Spezialität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme gegenüber einer Person, gegen die ein erster Europäischer Haftbefehl ergangen ist, wegen einer anderen und früheren Handlung als derjenigen, die ihrer Übergabe in Vollstreckung dieses Haftbefehls zugrunde liegt, nicht entgegensteht, wenn diese Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats dieses ersten Haftbefehls freiwillig verlassen hat und dorthin in Vollstreckung eines zweiten, nach dieser Ausreise zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls übergeben worden ist, sofern im Rahmen des zweiten Europäischen Haftbefehls die diesen vollstreckende Justizbehörde ihre Zustimmung zur Ausweitung der Verfolgung auf die Handlung erteilt hat, derentwegen die fragliche freiheitsbeschränkende Maßnahme verhängt worden ist.
Diese vom Unionsgerichtshof vorgenommene gemeinschaftsrechtliche Auslegung von Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt auch die Interpretation des auf diesem Rahmenbeschluss beruhenden § 83h Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 IRG. Danach ist das Landgericht mit Recht davon ausgegangen, dass der Grundsatz der Spezialität die Verurteilung des Angeklagten wegen der verfahrensgegenständlichen Tat nicht hindert.
Der aus der Übergabe durch Portugal aufgrund des ersten Europäischen Haftbefehls resultierende Spezialitätsschutz ist mit der Übergabe des Angeklagten aufgrund des zweiten Europäischen Haftbefehls von Italien an Deutschland entfallen, ohne dass es dafür auf die Ausnahmetatbestände des § 83h Abs. 2 IRG ankommt. Verlässt nämlich der Angeklagte nach einer Übergabe aufgrund eines europäischen Haftbefehls freiwillig das deutsche Staatsgebiet, bildet bei einer nachfolgenden Übergabe aufgrund eines weiteren von einer deutschen Strafverfolgungsbehörde ausgestellten Europäischen Haftbefehls allein letzterer den Rahmen für einen möglichen Spezialitätsschutz im Sinne von § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG [9].
Dafür streitet bereits der Wortlaut von § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG. Ebenso wie Art. 27 Abs. 2 RB-EuHB stellt die Bestimmung auf „die Übergabe“ im grammatikalischen Singular ab [10]. Demgemäß bezieht sich der Spezialitätsgrundsatz auf die Vollstreckung eines bestimmten Europäischen Haftbefehls [11]. Im Fall mehrfacher Übergaben ist das der letzte vollstreckte Europäische Haftbefehl. Denn lediglich dieser ist – jedenfalls nach freiwilligem Verlassen – ursächlich für den Aufenthalt des Angeklagten im Bundesgebiet. Auf die Frage, ob der Spezialitätsschutz aus der ersten Übergabe in jedem Fall bereits durch freiwilliges Verlassen des Bundesgebiets erlischt [12], kommt es vorliegend nicht mehr an.
Die Maßgeblichkeit allein der letzten Übergabe ist darüber hinaus aus dem Zweck der Übergaberegeln zu schließen. Zwar räumt Art. 27 RB-EuHB den Mitgliedstaaten gewisse Befugnisse bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ein, wozu auch der Spezialitätsschutz gehört. Diese Befugnisse sind aber Ausnahmen von dem in Art. 1 Abs. 2 RB-EuHB niedergelegten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Strafverfolgung und der strafrechtlichen Urteile sowie der daraus folgenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten, grundsätzlich jeden Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken [13].
Wegen dieses Ausnahmecharakters unterliegen die Regeln über den Spezialitätsschutz der einschränkenden Auslegung. Sie dürfen insbesondere nicht in einer Weise interpretiert werden, die zu einer Vereitelung des mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziels führen würde, die Übergaben zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten zu vereinfachen und zu beschleunigen, um einen unionsweiten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu schaffen [14]. Dies wäre jedoch hier der Fall, wenn der Spezialitätsschutz aus der auf den ersten Europäischen Haftbefehl gründenden Übergabe (hier: aus Portugal) die Übergabe wegen des zweiten Europäischen Haftbefehls (hier: aus Italien) überdauern würde. Das Ergebnis widerspräche dem Grundsatz der Anerkennung nicht nur in Bezug auf die deutsche Strafverfolgung, sondern ebenso in Bezug auf die Übergabe und die Zustimmung zur Strafverfolgung der hier verfahrensgegenständlichen Tat durch Italien als Vollstreckungsmitgliedstaat. Eine solche – unbeschränkte – Fortdauer des Spezialitätsschutzes ist von Art. 27 RB-EuHB und mithin von § 83h Abs. 1, 2 IRG nicht gedeckt. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Angeklagte nach Vollstreckung der Strafe aus dem dem ersten Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Verfahren den ersuchenden Mitgliedstaat freiwillig verlassen hat [15]. Die von der Revision mit Schriftsatz vom 28.10.2020 vorgebrachten Motive für die Ausreise stehen der Annahme der Freiwilligkeit nicht entgegen.
Das erweist auch der Vergleich mit den Regeln der Auslieferung. Danach entfällt die Bindung der Spezialität, wenn der Verfolgte den ersuchenden Staat verlassen hat und dorthin zurücküberstellt wird (§ 11 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 IRG). Zwar enthält § 83h Abs. 1 IRG keine ausdrückliche Regelung in diesem Sinne. Das bedeutet jedoch nicht, dass bei Übergaben in solchen Fällen die Spezialität fortbesteht [16]. Denn gegenüber der Auslieferung ist die Übergabe nach RB-EuHB das wirksamere und einfachere System [17].
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 4. November 2020 – 6 StR 41/20
- ABl. L 190 vom 18.07.2002, S. 1[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 01.12.2008 – – C- 88/08, Leymann und Pustovarov, NStZ 2010, 35, 39, Rn. 73[↩]
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 16.11.2016 – 2 StR 246/16, NStZ-RR 2017, 116, 117; vom 20.10.2016 – 3 StR 245/16, NStZ-RR 2017, 28; Urteil vom 28.08.2019 – 2 StR 25/19[↩]
- vgl. BT-Drs. 15/1718, S. 24, 25[↩]
- BGH, Beschluss vom 21.04.2020 – 6 StR 41/20, NStZ-RR 2020, 228[↩]
- ABl. L 190 vom 18.07.2002, S. 1, RB-EuHB[↩]
- ABl. L 81 vom 27.03.2009, S. 24[↩]
- EuGH, Urteil vom 24.09.2020 – C‑195/20 PPU[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 24.09.2020, – C‑195/20 PPU Rn. 41; BeckOK-StPO/Inhofer, 37. Ed., IRG § 83h Rn. 10[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 24.09.2020, – C‑195/20 PPU Rn. 37[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 24.09.2020, – C‑195/20 PPU Rn. 38[↩]
- vgl. dazu BGH, Beschluss vom 21.04.2020 – 6 StR 41/20, NStZ-RR 2020, 228, 229[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 24.09.2020, – C‑195/20 PPU Rn. 33[↩]
- vgl. EuGH, Urteile vom 24.09.2020, – C‑195/20 PPU Rn. 35; vom 28.06.2012 – – C‑192/12 PPU, West, Rn. 53[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 24.09.2020, – C‑195/20 PPU Rn. 43[↩]
- zutreffend OLG Braunschweig, Beschluss vom 26.08.2019 – 1 Ws 154/19; aM OLG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 18.07.2019 – 2 Ws 77/19[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 24.09.2020, – C‑195/20 PPU, Rn. 31, 32[↩]
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