Das mißhandelte Kind und die Bestattungspflicht

Sorgt niemand für die Bestattung, wobei gemäß § 9 Abs. 2 BestattG eine Frist von acht Tagen seit Eintritt des Todes zu beachten ist, hat gemäß § 8 Abs. 4 Satz 1 BestattG die für den Sterbe- und Auffindungsort zuständige Gemeinde die Bestattung zu veranlassen. Die nach Absatz 3 vorrangig Bestattungspflichtigen haften der Gemeinde dann nach § 8 Abs. 4 Satz 2 BestattG als Gesamtschuldner für die Bestattungskosten, die gemäß § 8 Abs. 4 Satz 3 BestattG durch Leistungsbescheid festgesetzt werden. Der Kreis der Bestattungspflichtigen wird durch § 8 Abs. 3 BestattG bestimmt und eine Rangfolge festgelegt. Diese Bestimmung des Niedersächsischen Gesetzes über das Leichen-, Bestattungs- und Friedhofswesen vom 08. Dezember 2005 findet sich – in ähnlicher Form – auch in den Bestattungsgesetzen der anderen Bundesländer.

Das mißhandelte Kind und die Bestattungspflicht

Die Regelungen sind im Grundsatz immer die selben: Bestattungspflichtig sind die nächsten Angehörigen. Sorgen die nicht für die Bestattung, wird diese vom örtlichen Ordnungsamt veranlasst und dabei anfallenden Kosten sodann den Angehörigen in Rechnung gestellt. Aber es gibt auch einige wenige, extreme Sonderfälle, in denen die Angehörigen ausnahmsweise keine Bestattungspflicht trifft. Das niedersächsische Bestattungsgesetz sieht solche Ausnahmen zwar nicht vor, aber das Verwaltungsgericht Stade hält hiergegen:

Auch nach Inkrafttreten des § 8 Nds. BestattG, welcher selbst keine Ausnahmen von der Bestattungspflicht vorsieht, sind Ausnahmen nach allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätzen, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, einzuräumen.

Grundlage der Entscheidung war ein Fall, in dem ein Kind (wie auch sein Bruder) mit drei Jahren nach Mißhandlungen durch den Vater aus seiner Familie genommen und vom Jugendamt in eine Pflegefamilie gegeben wurde. Auch das Sorgerecht war den Eltern entzogen worden, Kontakte zwischen Kind und Vater bestanden seit der Herausnahme aus der Familie vor 25 Jahren keine mehr. Nun war der Vater gestorben und das örtliche Ordnungsamt, dass die Bestattung veranlasst hatte, nahm das Kind auf Erstattung der Beerdigungskosten in Anspruch, wogegen das Kind vor dem Verwaltungsgericht Stade klagte.

Weiterlesen:
Raucherclub unter’m Nichtraucherschutzgesetz?

Grundsätzlich hat das beklagte Ordnungsamt, wie das VG Stade feststelle, die Vorgaben des BestattG beachtet. Die Beklagte war gehalten, die Bestattung in die Wege zu leiten, nachdem der Kläger und sein Bruder es abgelehnt hatten, sich um die Beerdigung ihres Vaters zu kümmern. Der Kläger war auch grundsätzlich zur Beseitigung der Gefahr berufen, also bestattungspflichtig. Nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 BestattG haben die Kinder der verstorbenen Person für deren Bestattung zu sorgen. Bei dem Verstorbenen handelte es sich ausweislich des Auszugs aus dem Familienbuch um den leiblichen Vater des Klägers. Dieser war zum Zeitpunkt des Todes geschieden gewesen, so dass bestattungspflichtige Angehörige nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 BestattG nicht vorhanden waren und der Kläger als Kind des Verstorbenen als nachrangig Verpflichteter an deren Stelle trat.

Die Bestattungspflicht setzt, so die Stader Verwaltungsrichter, allein die Eigenschaft als Kind des Verstorbenen voraus. Auf ein tatsächlich bestehendes persönliches Verhältnis zwischen dem Verstorbenen und dem Bestattungspflichtigen kommt es nicht an. Die Bestattungspflicht ist Ausfluss des familienrechtlichen Verhältnisses zwischen dem Verstorbenen und dem Bestattungspflichtigen. Die Bestimmung der Bestattungspflicht anhand objektiver Verwandtschaftsverhältnisse ist sachgerecht, denn die Bestattungspflicht dient der Gefahrenabwehr. Daher muss sich die Bestimmung des Bestattungspflichtigen an objektiven Maßstäben orientieren, weil die zuständigen Gemeinden nicht innerhalb der Bestattungsfrist Ermittlungen und Untersuchungen über die tatsächlich bestehenden persönlichen Verhältnisse zwischen den Angehörigen und dem Verstorbenen durchführen und gegebenenfalls verifizieren können1. Als Sohn des Verstorbenen war der Kläger demnach zu dessen Bestattung grundsätzlich verpflichtet.

Weiterlesen:
20 Zähne und keine Einwilligung

Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Stade sind jedoch selbst nach Inkrafttreten des § 8 BestattG, welcher selbst keine Ausnahmevorschriften vorsieht, Ausnahmen nach allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätzen, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, einzuräumen2. Diese ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Grundsätze begrenzen die Bestattungspflicht selbst, ohne dass es insoweit einer ausdrücklichen Normierung bedürfte. Zwar hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht bisher offen gelassen, ob die nach § 8 Abs. 3 BestattG bestehende Bestattungspflicht in ganz besonderen Fällen noch einer ungeschriebenen Einschränkung unterliegt3. Es hat aber in seinem Beschluss vom 18. Dezember 20064 am Rande ausgeführt:

„Zu keinem anderen Ergebnis führt die Überlegung, dass die seit dem Jahresbeginn 2006 nach der nunmehr ausdrücklichen Regelung in § 8 Abs. 3 BestattG bestehende Bestattungspflicht dem Wortlaut nach unbegrenzt ist und sich deshalb auch unter Geltung des Bestattungsgesetzes unverändert die Frage nach einer ungeschriebenen Grenze dieser Bestattungspflicht stellt5. Eine solche Grenze kann sich aber nur aus einer teleologischen Reduktion des Wortlauts von § 8 Abs. 3 BestattG ergeben und hängt damit von anderen als den hier maßgebenden Voraussetzungen für eine gewohnheitsrechtliche Verpflichtung ab.“

Vorliegend sieht das Verwaltungsgericht einen besonderen Ausnahmefall als gegeben an, der die in § 8 Abs. 3 BestattG normierte Bestattungspflicht soweit begrenzt, dass die öffentlich-rechtliche Bestattungspflicht entfällt.

Die Stader Verwaltungsrichter folgen insoweit der restriktiven Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts zum vor Inkrafttreten des BestattG geltenden niedersächsischen Gewohnheitsrecht, wonach Abweichungen von der Bestattungspflicht nur in ganz engen Grenzen gerechtfertigt sind. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hält etwa bei schweren Straftaten des Verstorbenen zu Lasten des an sich Bestattungspflichtigen einen derartigen Ausnahmetatbestand für gegeben6. Für die Annahme eines Ausnahmetatbestandes, der die Bestattungspflicht entfallen lässt, hat es des Niedersächsische Oberverwaltungsgericht nicht als ausreichend angesehen, wenn der Verstorbene seiner bestattungspflichtigen Mutter vor mehr als 30 Jahren Geld entwendet hat7. Auch in dem Fall, in dem eine Klägerin erst nach 45 Jahren ihren später verstorbenen Vater ausfindig gemacht hatte, der ihre Mutter verlassen hatte, als die Klägerin noch im Säuglingsalter war und in der Folgezeit weder Unterhalt gezahlt noch eine persönliche Beziehung zu der Klägerin unterhalten hatte, hat es keinen besonderen Ausnahmefall angenommen6. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat aber für den Entzug der elterlichen Gewalt des Verstorbenen über sein Kind einen Ausnahmetatbestand angenommen, weil ein solcher Sorgerechtsentzug ein besonders schwerwiegendes Fehlverhalten der Eltern und eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls voraussetzt8.

Weiterlesen:
Österreichische Unterhaltstitel

Diese zum niedersächsischen Gewohnheitsrecht aufgestellten Grundsätze hält das Verwaltungsgericht für geeignet, um eine teleologische Reduktion des § 8 Abs. 3 BestattG herbeizuführen. Denn die vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht aufgestellten Kriterien konkretisieren die verfassungsrechtlichen Grenzen der Bestattungspflicht und sind daher auch nach Inkrafttreten des BestattG anwendbar.

Die Entziehung des Sorgerechts gemäß §§ 1666, 1666a BGB einhergehend mit der Übertragung der elterlichen Sorge auf das Jugendamt stellt ein die Bestattungspflicht von Kindern begrenzendes Tatbestandsmerkmal dar. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat zu einem ähnlichen Fall in seinem Beschluss vom 18. Dezember 20069 Folgendes ausgeführt:

„Es lässt sich aber kein gewohnheitsrechtlicher Rechtssatz mit dem Inhalt feststellen, dass Kinder eines Verstorbenen auch dann bestattungspflichtig sind, wenn dem Verstorbenen das elterliche Sorgerecht für seine Kinder gemäß §§ 1666, 1666a BGB dauerhaft entzogen worden ist. (…) Gegen eine solche Verpflichtung spricht zudem die Herleitung der streitigen gewohnheitsrechtlichen Bestattungspflicht. Sie wird aus dem Recht und der Pflicht im Rahmen der sog. „Totenfürsorge“ abgeleitet, die wiederum Ausfluss des familienrechtlichen Verhältnisses ist, das den Verstorbenen bei Lebzeiten mit den Überlebenden verbunden hat, und das über den Tod hinaus fortdauernd gegenüber dem toten Familienmitglied Pietät und Pflege seines Andenkens gebietet10.

Dieses familienrechtliche Verhältnis zwischen dem Verstorbenen und seinen Kindern ist hier aber durch den staatlichen Eingriff in Form des 1976 erfolgten Sorgerechtsentzugs tatsächlich aufgehoben und nachfolgend auch nicht wieder begründet worden. Ein solcher Sorgerechtsentzug setzt ein schwerwiegendes Fehlverhalten der Eltern und eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls voraus. Das elterliche Fehlverhalten muss ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleib in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist11. Kommt es daher – wie vorliegend – über die Dauer von mehr als einem Jahrzehnt zur Entziehung des Sorgerechts, so liegt dem ein besonders schwerwiegendes elterliches Fehlverhalten zugrunde. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass das Eltern-Kind-Verhältnis beiderseits grundlegend zerstört ist.

Der Entzug des Sorgerechts als ein die Bestattungspflicht von Kindern begrenzendes Tatbestandsmerkmal ist von der hilfsweise bestattungspflichtigen Behörde auch leicht, verlässlich und ohne eigene Ermittlungen in der Sache festzustellen. Hierin und in dem besonders großen Maß der gegenseitigen Entfremdung der Familienmitglieder ist auch der Unterschied zu den Fällen zu sehen, in denen Kinder ohne staatlichen Eingriff tatsächlich getrennt von einem Elternteil aufgewachsen sind und in denen der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung keinen Grund für die Begrenzung der gewohnheitsrechtlich bestehenden Bestattungspflicht gesehen hat ((vgl. zuletzt Nds. OVG, Beschluss vom 13.07.2005 – 8 PA 37/05 -, Nds. Rpfl. 2005, 382 ff. = NordÖR 2005, 434 f.). War er Kläger somit wegen des erfolgten langjährigen Sorgerechtsentzugs nicht bestattungspflichtig, so kann er nicht zum Ersatz der für die Bestattung seines Vaters angefallenen Kosten herangezogen werden.“

Unter Anwendung dieser Grundsätze war dann auch der Kläger in dem Verfahren des VG Stade nach einer teleologischen Reduktion des § 8 Abs. 3 BestattG nicht bestattungspflichtig.

Weiterlesen:
Neue Freibeträge bei der Prozesskostenhilfe

Verwaltungsgericht Stade, Urteil vom 18. Juni 2009 – 1 A 666/08

  1. vgl. OVG Saarland, Urteil vom 27. Dezember 2007 – 1 A 40/07 – zitiert nach juris[]
  2. vgl. dazu schon VG Stade, Urteil vom 27. Juli 2006 – 1 A 539/05 – zitiert nach juris[]
  3. vgl. z.B. Nds. OVG, Beschluss vom 30. Juli 2008 – 8 LA 40/08 -[]
  4. Az.: 8 LA 131/06[]
  5. vgl. dazu etwa Barthel, BestattG, Kommentar, S. 121 ff.[]
  6. vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 13. Juli 2005 – 8 PA 37/05 – zitiert nach juris[][]
  7. vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 19. Mai 2003 – 8 ME 76/03 – zitiert nach juris[]
  8. vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 18. Dezember 2006 – 8 LA 131/06 – zitiert nach juris[]
  9. 8 LA 131/06[]
  10. vgl. den o.a. Nds. OVG-Beschl. v. 27.9.2004 unter Bezugnahme auf Gaedke/Diefenbach, Handbuch des Friedhofs- und Bestattungsrechts, nunmehr 9. Aufl., S. 104, m. w. N.[]
  11. vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.08.2006 – 1 BvR 476/04 -, FamRZ 2006, 1593 ff., m. w. N.[]