Aktuell hatte sich der Gerichtshof der Europäischen Union in drei Verfahren mit der Frage zu befassen, unter welchen Voraussetzungen die Flüchtlingseigenschaft wegen einer Straftat aberkannt oder abgelehnt werden kann.

Insbesondere muss der Betroffene, wie der Unionsgerichtshof jetzt entschied, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Allgemeinheit berührt, und die Entscheidung muss den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.
Im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen Drittstaatsangehörigen und der jeweiligen nationalen Behörde in Belgien, Österreich und den Niederlanden wurden dem Gerichtshof der Europäischen Union drei verschiedene Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt. In diesen Rechtsstreitigkeiten ging es konkret um die Anfechtung von Entscheidungen über die Aberkennung oder die Ablehnung der Flüchtlingseigenschaft in Bezug auf Drittstaatsangehörige, die wegen einer von den zuständigen Behörden als besonders schwer eingestuften Straftat verurteilt worden waren.
Diese Möglichkeit der Aberkennung bzw. Ablehnung ist in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b und Abs. 5 der „Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes“1 (Anerkennungsrichtlinie) für den Fall vorgesehen, dass der wegen einer „besonders schweren“ Straftat rechtskräftig Verurteilte eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.
In der aus Belgien stammenden Rechtssache2 hat der Conseil d’État (der belgische Staatsrat) den Unionsgerichtshof zur Vorabentscheidung der Rechtsfrage angerufen, welcher Zusammenhang zwischen einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat und dem Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit besteht und in welchem Umfang zu prüfen ist, ob eine solche Gefahr besteht.
Der Unionsgerichtshof entscheidet, dass das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, nicht schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde. Denn eine zur Aberkennung getroffene Maßnahme hängt davon ab, dass zwei unterschiedliche Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich zum einen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, und zum anderen, dass festgestellt wurde, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.
Der Unionsgerichtshof stellt hierbei klar, dass die angefochtene Aberkennungsmaßnahme nur erlassen werden darf, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. Er fügt hinzu, dass die zuständige Behörde in jedem Einzelfall eine Würdigung sämtlicher besonderer Umstände dieses Falls vorzunehmen hat.
Sind die beiden im Unionsrecht vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt, kann ein Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft aberkennen, ohne jedoch verpflichtet zu sein, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Von dieser Möglichkeit ist insbesondere unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Gebrauch zu machen.
Gerade auf diesen Grundsatz und die notwendige Abwägung der Interessen des Flüchtlings gegen diejenigen des Mitgliedstaats in Bezug auf die Gefahr, die der Betroffene für die Allgemeinheit darstellen könnte, zielt das Vorabentscheidungsersuchen des österreichischen Bundesverwaltungsgerichts ab3.
Zu dieser Abwägung führt der Unionsgerichtshof aus, dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft von der Feststellung der zuständigen Behörde abhängt, dass eine solche Maßnahme in Bezug auf die Gefahr verhältnismäßig ist, die der betreffende Drittstaatsangehörige für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. Die zuständige Behörde ist jedoch nicht verpflichtet, im Rahmen dieser Abwägung Ausmaß und Art der Maßnahmen zu berücksichtigen, denen der Drittstaatsangehörige bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre.
Schließlich richtete der niederländische Conseil d’État (Staatsrat) ein Vorabentscheidungsersuchen an den Unionsgerichtsgerichtshof4 zum Begriff der „rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat“ und möchte vom Unionsgerichtshof wissen, anhand welcher Kriterien eine Straftat als solche angesehen werden kann.
Der Gerichtshof der Europäischen Union weist insoweit darauf hin, dass eine Maßnahme der Aberkennung bzw. Ablehnung nur auf einen Drittstaatsangehörigen angewandt werden kann, der wegen einer Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, die aufgrund ihrer spezifischen Merkmale insofern als Straftat, die eine außerordentliche Schwere aufweist, angesehen werden kann, als sie zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen. Dieser Schweregrad kann überdies nicht durch eine Kumulierung verschiedener Straftaten erreicht werden, von denen keine als solche eine besonders schwere Straftat darstellt. Die Beurteilung des Schweregrads beinhaltet eine Würdigung sämtlicher besonderer Umstände des fraglichen Falls, wie etwa insbesondere Art und Maß der angedrohten und erst recht der verhängten Strafe, die Art der begangenen Straftat, etwaige mildernde oder erschwerende Umstände, die Frage, ob diese Straftat vorsätzlich begangen wurde, Art und Ausmaß der durch die Straftat verursachten Schäden sowie die Art des Strafverfahrens zur Ahndung der Straftat.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteile vom 6. Juli 2023 – C-663/21, C-8/22 und C-402/22
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- Flüchtling im Hamburger Hafen: fsHH