Wird einem Antrag auf anwaltliche Beratung nach dem Beratungshilfegesetz nicht in vollem Umfang entsprochen, muss hierüber grundsätzlich förmlich entschieden werden.

Dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG genügt es nicht, wenn das Amtsgericht den Beratungshilfeantrag nach Erteilung mündlicher Hinweise durch den Rechtspfleger als erledigt erachtet, obwohl ausdrücklich eine anwaltliche Beratung gewünscht war. Zudem überdehnt die Verweisung auf die Beratungsstelle der Behörde, gegen die Widerspruch eingelegt werden soll, den Begriff der „Zumutbarkeit“ vorrangiger anderer Hilfsmöglichkeiten.
Mit dieser Begründung hat jetzt das Bundesverfassungsgericht einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Der Ausgangssachverhalt[↑]
Für die Einlegung eines Widerspruchs gegen die Ablehnung ihres Antrags auf eine Erwerbsminderungsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beantragte die Beschwerdeführerin beim Amtsgericht einen Berechtigungsschein für eine anwaltliche Beratung nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz – BerHG -). Der Rechtspfleger beim Amtsgericht wies die Beschwerdeführerin mündlich darauf hin, dass sie schriftlich oder zur Niederschrift Widerspruch bei der Rentenversicherung einlegen oder sich an die im Bescheid genannte Auskunfts- und Beratungsstelle der Rentenversicherung wenden könne. Er stellte weder einen Berechtigungsschein aus noch beschied er den Antrag förmlich.
Noch am selben Tag legte die Beschwerdeführerin „Erinnerung, hilfsweise Beschwerde“ beim Amtsgericht ein, mit der sie konkret darlegte, aus welchen Gründen sie Widerspruch erheben wolle und aufgrund welcher Erkrankungen sie nicht in der Lage sei, das Widerspruchsverfahren ohne anwaltlichen Beistand zu betreiben. Die Richterin beim Amtsgericht wies die Erinnerung mit Beschluss vom 10.06.2011 zurück. Beratungshilfe sei nicht abgelehnt, sondern durch die Hinweise des Rechtspflegers gewährt worden. Die Sache sei damit gemäß § 3 Abs. 2 BerHG erledigt. Eine Bescheidung einer Ablehnung komme daher nicht in Betracht [1].
Die Beschwerdeführerin richtete daraufhin einen als „Beschwerde“ überschriebenen Schriftsatz an das Amtsgericht, in dem sie ausdrücklich eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör durch die Verweigerung von Beratungshilfe rügte. Das Amtsgericht half dem Rechtsbehelf nicht ab, weil es ihn für unzulässig hielt und legte ihn dem Landgericht Arnsberg vor, das im Hinblick auf die laufende Verfassungsbeschwerde bis heute nicht entschieden hat.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 103 Abs. 1 GG und aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 1 und 3 GG sowie einen Verstoß gegen die Rechtsweggarantie. Im Übrigen erschwere die Praxis des Amtsgerichts, die Beratungshilfe mündlich zu verweigern statt eine schriftliche Ablehnung zu erlassen, die weitere Rechtsverfolgung und verstoße deswegen gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes. Diese Vorgehensweise sei willkürlich und verletze Art. 103 Abs. 1 GG.
Die Entscheidung des Bundesverfassugnsgerichts[↑]
Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.19 Abs. 4 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass der Beschluss des Amtsgerichts Soest und die Nichtbescheidung des Beratungshilfeantrags die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art.19 Abs. 4 GG verletzen. Es hob den Beschluss des Amtsgerichts Soest auf und verwies die Sache zurück an das Amtsgericht.
Der Beschluss vom 10.06.2011 verstößt gegen das Gebot der Rechtsschutzgleichheit.
Gebot der Rechtsschutzgleichheit und Rechtswahrnehmungsgleichheit[↑]
Die Auslegung und Anwendung des Beratungshilfegesetzes obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Das Bundesverfassungsgericht kann hier nur dann eingreifen, wenn Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere wenn die angegriffenen Entscheidungen Fehler erkennen lassen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtswahrnehmungsgleichheit, die auch im außergerichtlichen Bereich Geltung beansprucht [2], beruhen. Die Fachgerichte überschreiten den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung der Bestimmungen des Beratungshilfegesetzes zukommt, jenseits der Willkürgrenze erst dann, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch den einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert wird [3].
Das Grundgesetz verbürgt in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 1 und 3 GG – für den Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt mit Art.19 Abs. 4 GG – den Anspruch auf grundsätzlich gleiche Chancen von Bemittelten und Unbemittelten bei der Durchsetzung ihrer Rechte auch im außergerichtlichen Bereich, somit auch im Hinblick auf die Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz [4]. Dabei müssen Unbemittelte nur solchen Bemittelten gleichgestellt werden, die bei ihrer Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigen und vernünftig abwägen [5] und insbesondere prüfen, inwieweit sie fremde Hilfe zur effektiven Ausübung ihrer Verfahrensrechte brauchen oder diese selbst geltend machen können [6].
Es verstößt nicht gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit, wenn keine Beratungshilfe zugesprochen wird, weil ausreichende Selbsthilfemöglichkeiten bestehen, aufgrund derer auch Bemittelte die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden [7]. Ob Rechtsuchende zumutbar auf Möglichkeiten der Selbsthilfe verwiesen werden können, haben die Fachgerichte unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Insbesondere kommt es darauf an, ob der dem Beratungsanliegen zugrunde liegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, ob Rechtsuchende selbst über ausreichende Rechtskenntnisse verfügen [8] oder ob Beratung durch Dritte für sie tatsächlich erreichbar ist. Keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit ist jedoch die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der den Bescheid erlassenden Behörde [9].
Die Nichtbescheidung durch das Amtsgericht[↑]
Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Entscheidung über die Gewährung von Beratungshilfe genügt der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts Soest nicht. Das Amtsgericht hätte der von der Beschwerdeführerin eingelegten Erinnerung abhelfen und den beantragten Berechtigungsschein für Beratungshilfe erteilen müssen.
Das Amtsgericht durfte nicht davon ausgehen, dass sich das Beratungshilfebegehren der Beschwerdeführerin nach § 3 Abs. 2 BerHG erledigt hat, weil die Beratungshilfe durch die Hinweise des Rechtspflegers auf Selbsthilfe oder auf die Inanspruchnahme der Beratungsstelle des Rentenversicherungsträgers durch das Amtsgericht selbst gewährt worden sei. Dass sich das Beratungshilfebegehren durch diese Hinweise nicht erledigt hat, ergibt sich bereits daraus, dass die Beschwerdeführerin ausdrücklich einen Beratungshilfeschein für die Konsultation eines Rechtsanwalts beantragt hatte.
Zudem wird der Verweis auf Selbsthilfe dem Anspruch der Beschwerdeführerin auf Rechtsschutzgleichheit nicht gerecht. Auch wenn der die Rentengewährung ablehnende Bescheid keine Rechtsbehelfsbelehrung enthält, ging der Hinweis des Rechtspflegers, die Beschwerdeführerin könne selbst Widerspruch erheben, ins Leere, weil ihr der Rechtsbehelf bei Beantragung der Beratungshilfe bereits bekannt und sie auch zu dessen Nutzung entschlossen war. Aufgrund des mit der Erinnerung von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Sachverhalts war hinreichend deutlich, dass das von ihr beabsichtigte Widerspruchsverfahren tatsächliche und rechtliche Fragen aufwirft, für deren Klärung auch ein kostenbewusster solventer Rechtsuchender einen Rechtsanwalt in Anspruch nähme anstatt selbst Widerspruch zu erheben. Besondere Rechtskenntnisse der Beschwerdeführerin, die sie zur eigenen Vertretung in der Angelegenheit befähigen könnten, sind nicht erkennbar.
Auch soweit das Amtsgericht die Inanspruchnahme der Beratungsstelle des Rentenversicherungsträgers als andere zur Verfügung stehende Hilfemöglichkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG für zumutbar erachtet hat, wird die Rechtsschutzgleichheit der Beschwerdeführerin verletzt. Der Begriff der Zumutbarkeit wird von den Fachgerichten überdehnt, wenn ein Rechtsuchender – wie vorliegend die Beschwerdeführerin – für das Widerspruchsverfahren zur Beratung an dieselbe Behörde verwiesen wird, gegen die er sich mit dem Widerspruch richtet [10].
Die Nichtbescheidung des Beratungshilfeantrags durch den Rechtspfleger verletzt ebenfalls die Rechtsschutzgleichheit der Beschwerdeführerin.
Da sich der Beratungshilfeantrag der Beschwerdeführerin nicht durch die Erteilung seiner Hinweise erledigt hat, hätte der Rechtspfleger über die Zurückweisung – nach § 5 BerHG in Verbindung mit §§ 38, 39 FamFG durch einen zu begründenden und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehenden Beschluss [11] – entscheiden müssen. Die hiervon abweichende Vorgehensweise des Rechtspflegers verkennt den Anspruch der Beschwerdeführerin auf weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des außergerichtlichen Rechtsschutzes. Sie erschwert ohne erkennbaren Sachgrund den Zugang der Beschwerdeführerin zu Rechtsberatung für das von ihr beabsichtigte Widerspruchsverfahren. Im Übrigen erschwert eine solche Verfahrensweise auch generell die Durchsetzung des Anspruchs auf Beratungshilfe, weil ein vor Bewilligung von Beratungshilfe in der Regel noch nicht anwaltlich vertretener Antragsteller mangels eines mit Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Beschlusses nicht ohne weiteres weiß, dass und wie er gegen die Versagung der Beratungshilfe vorgehen kann.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 29. April 2015 – 1 BvR 1849/11
- AG Soest, Beschluss vom 10.06.2011 – 8 II Bh 292/11[↩]
- vgl. BVerfGE 122, 39, 50; BVerfGK 15, 585, 586; BVerfG, Beschluss vom 12.06.2007 – 1 BvR 1014/07, NJW-RR 2007, S. 1369[↩]
- vgl. BVerfGE 81, 347, 358[↩]
- vgl. BVerfGE 122, 39, 48 ff.[↩]
- vgl. BVerfGE 81, 347, 357; 122, 39, 51[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.06.2014 – 1 BvR 256/14, 1 BvR 260/14, 1 BvR 269/14, 1 BvR 301/14, 1 BvR 348/14, 1 BvR 349/14, 1 BvR 350/14, 1 BvR 458/14, 1 BvR 700/14, 1 BvR 805/14, 1 BvR 848/14 6[↩]
- vgl. BVerfGK 15, 438, 444[↩]
- vgl. BVerfGK 15, 438, 444; BVerfG, Beschluss vom 28.09.2010 – 1 BvR 623/10 13[↩]
- vgl. BVerfGK 15, 438, 444; 15, 585, 586; 18, 10, 13[↩]
- vgl. BVerfGK 15, 585, 586[↩]
- vgl. Groß, Beratungshilfe/Prozesskostenhilfe/Verfahrenskostenhilfe, 12. Aufl.2014, § 6 BerHG Rn. 4 und 18[↩]