Das Widerspruchsverfahren ist in Niedersachsen mit Inkrafttreten des Gesetzes vom 5. November 20041 zum 1. Januar 2005 außerhalb der in § 8a Abs. 3 Nds. AG VwGO a. F. ausdrücklich und spezialgesetzlich aufgeführten Rechtsgebiete (Beamten- und Sozialrecht) und der unmittelbar aus höherrangigem Recht folgenden Fallgruppen insgesamt abgeschafft und damit unzulässig geworden, ohne den Betroffenen eine Wahlmöglichkeit zwischen Widerspruch und Klage zu eröffnen2. So ist in der abschließenden Beratung im Niedersächsischen Landtag zum Änderungsgesetz vom 5. November 2004 unwidersprochen von der Opposition kritisiert worden, dass „vom Frühjahr 2005 an immer mehr Leute feststellen werden, dass sie kein Widerspruchsrecht mehr haben, sondern dass sie, wenn sie sich gegen einen Bescheid wehren wollen, zum Verwaltungsgericht gehen und wesentlich höhere Kosten erstatten müssen“3. An die Stelle des Vorverfahrens ist in nach dem „Evaluationsbericht“ der vom Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport beauftragten Gutachtergruppe der Universität Lüneburg in der Praxis teilweise ein sog. „Beschwerdemanagement“ getreten, mit dem die Behörde innerhalb der laufenden Klagefrist auf Einwände des Betroffenen gegen den Ausgangsbescheid reagiert. Ein fakultatives Widerspruchsverfahren soll in Niedersachsen aus Sicht der Landesregierung aber auch zukünftig nicht eingeführt werden4.

Der so verstandene § 8a Nds. AG VwGO a. F. stand auch mit § 68 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO in Übereinstimmung. § 68 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO enthält abweichend von § 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGG5 eine uneingeschränkte Ermächtigung, durch (Landes-)Gesetz das Widerspruchsverfahren abzuschaffen. Die vom Kläger geltend gemachte ungeschriebene Einschränkung, die Abschaffung dürfe nur „bereichsspezifisch“ erfolgen, hat im maßgeblichen Gesetzeswortlaut keinen Niederschlag gefunden6; über die Bedeutung und Reichweite einer solchen ungeschriebenen Einschränkung bestand entgegen einer teilweise in der Literatur7 vertretenen Einschätzung auch in dem Gesetzgebungsverfahren zum 6. VwGOÄndG vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626), mit dem § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO seinen heutigen Inhalt erhalten hat, keine Klarheit8. Inwieweit die Länder von der Ermächtigung des § 68 Abs. 1 VwGO zur Abschaffung des Widerspruchsverfahrens Gebrauch machen, ist demnach eine rechtspolitische Frage9. Jedenfalls steht danach Bundesrecht der in § 8a Nds. AG VwGO a. F. enthaltenen Regelung nicht entgegen. Schon das Verwaltungsgericht hat zutreffend ergänzend darauf hingewiesen, dass § 8a Nds. AG VwGO a. F. ohnehin nicht die vollständige Abschaffung des Widerspruchsverfahrens enthielt, sondern ein Widerspruchsverfahren nicht nur in den bereits unmittelbar kraft höherrangigem Recht vorgeschriebenen Fällen10, sondern auch in den in § 8a Abs. 3 Nds. AG VwGO a. F. ausdrücklich aufgeführten, „zentralen“ Rechtsgebieten wie etwa dem Bau-, Schul- und Umweltrecht unverändert weiterhin notwendig war. Zeitnah ist auf Grund der in der Praxis gewonnenen Erfahrungen durch Änderungsgesetz vom 7. Dezember 200611 der Kreis der Rechtsgebiete, in denen ein Widerspruchsverfahren weiterhin erforderlich ist, erweitert worden. Zusätzlich enthielt § 8a Nds. AG VwGO a. F. eine Befristung, um die Wirkung der – in dem genannten Umfang erfolgten – Abschaffung des Vorverfahrens bis zum Jahresende 2009 umfassend zu „evaluieren“. Eine solche gegenständlich begrenzte und zeitlich befristete, also zunächst „probeweise“ Abschaffung des Widerspruchsverfahrens wäre selbst dann mit § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu vereinbaren, wenn man danach über den Wortlaut der Norm hinausgehend eine besondere sachliche Rechtfertigung für eine weitgehende Abschaffung des Widerspruchsverfahrens durch Landesrecht für notwendig erachten würde12.
Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 14. Mai 2010 – 11 LA 547/09
- Nds. GVBl. S. 394, geändert durch Gesetz vom 07.12.2006, Nds. GVBl. S. 580[↩]
- vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 03.11.2009 – 4 LB 181/09; Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686[↩]
- PlProt. 15/4769[↩]
- vgl. LT-Drs. 16/1414, S. 4[↩]
- vgl. LT-Drs. 15/2166, S. 7[↩]
- vgl. Bay. VerfGH, Beschluss vom 23.10.2008 – Vf. 10-VII-07, NVwZ 2009, 716 ff., m. w. N.[↩]
- vgl. die Nachweise des Bay. VerfGH, Beschluss vom 23.10.2008, a. a. O.; sowie v. 15.11.2006 – Vf. 6-VII-05, Vf. 12-VII-05, BayVBl 2007, 79 ff.[↩]
- vgl. die Darstellung des Verfahrens bei Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686, 691[↩]
- vgl. zur Diskussion in Niedersachsen van Nieuwland, NdsVBl 2007, 38 ff., sowie zuletzt etwa LT-Drs. 16/1880, 1[↩]
- vgl. LT-Drs. 15/2166, S. 5[↩]
- Nds. GVBl. S. 580[↩]
- vgl. Bay. VerfGH, Beschluss vom 15.11.2006 – Vf. 6-VII-05, Vf. 12-VII-05, BayVBl 2007, 79 ff.[↩]