Abschiebehaft – und die Prüfpflicht des Gerichts

Das nationale Gericht hat von sich aus zu prüfen, ob eine gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen oder einen Asylbewerber erlassene Haftmaßnahme rechtmäßig ist.

Abschiebehaft – und die Prüfpflicht des Gerichts

Aus dem Unionsrecht, insbesondere der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger1, in Verbindung mit Art. 6 der Charta der Grundrechte (Recht auf Freiheit), ergibt sich, dass der Erlass oder die Aufrechterhaltung einer Haftmaßnahme gegen einen ausländischen Staatsangehörigen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat oder sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, einer Reihe von Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen unterliegt.

Dieser Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union liegen mehrere Fälle aus den Niederlanden zugrunde: Ein algerischer, ein marokkanischer und ein sierra-leonischer Staatsangehöriger wandten sich vor verschiedenen niederländischen Gerichten gegen Haftmaßnahmen, die gegen sie erlassen worden waren. Der niederländische Staatsrat und das Bezirksgericht Den Haag haben daraufhin Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu der Rechtsfrage gerichtet, ob das Unionsrecht Gerichte verpflichtet, von sich aus zu prüfen, ob eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer Haftmaßnahme möglicherweise nicht erfüllt ist, die von der betroffenen Person nicht geltend gemacht wurde.

In seinem jetzt verkündeten Urteil weist der Unionsgerichtshof zunächst darauf hin, dass jede Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen, sei es im Rahmen eines Rückkehrverfahrens infolge eines illegalen Aufenthalts, der Bearbeitung eines Antrags auf internationalen Schutz oder der Überstellung einer Person, die einen solchen Schutz beantragt hat, in den für die Prüfung ihres Antrags zuständigen Mitgliedstaat einen schwerwiegenden Eingriff in das in Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht auf Freiheit darstellt.

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Stellt sich heraus, dass die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft nicht oder nicht mehr erfüllt sind, ist die betroffene Person daher unverzüglich freizulassen. Dies gilt u. a. dann, wenn festgestellt wird, dass das Rückkehrverfahren, das Verfahren zur Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz oder das Überstellungsverfahren nicht mehr mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt wird oder die Haftmaßnahme nicht oder nicht mehr verhältnismäßig ist.

Ferner hat sich der Unionsgesetzgeber im Kontext der Inhaftnahme von Ausländern nicht darauf beschränkt, gemeinsame materielle Normen festzulegen, sondern hat, geleitet vom Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes, auch gemeinsame Verfahrensnormen eingeführt, die gewährleisten sollen, dass in jedem Mitgliedstaat eine Regelung besteht, die es der zuständigen Justizbehörde ermöglicht, die betroffene Person, gegebenenfalls nach einer Prüfung von Amts wegen, freizulassen, sobald sich erweist, dass ihre Inhaftierung nicht oder nicht mehr rechtmäßig ist.

Daraus folgt, dass die für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Haftmaßnahme zuständige Justizbehörde sämtliche ihr zur Kenntnis gebrachten, insbesondere tatsächlichen Umstände, wie sie im Rahmen von Prozessmaßnahmen ergänzt oder aufgeklärt werden, die sie gemäß ihrem nationalen Recht für geboten hält, berücksichtigen und anhand dieser Umstände gegebenenfalls den Verstoß gegen eine sich aus dem Unionsrecht ergebende Rechtmäßigkeitsvoraussetzung feststellen muss, auch wenn dieser Verstoß von der betroffenen Person nicht geltend gemacht wurde. Diese Verpflichtung besteht unbeschadet der Verpflichtung dieser Justizbehörde, die Parteien gemäß dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens aufzufordern, sich zu dieser Voraussetzung zu äußern.

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  1. ABl.EG 2008, L 348, S. 98) und Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen ((ABl.EU 2013, L 180, S. 96[]

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