Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes verlangt nicht nur, dass jeder potentiell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der richterlichen Prüfung unterstellt ist; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen1.

Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG stellt, im Zusammenwirken mit den Gewährleistungen der Unabhängigkeit der Gerichte, des gesetzlichen Richters und des rechtlichen Gehörs vor Gericht sowie weiteren, aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anforderungen an das gerichtliche Verfahren die zentrale verfassungsrechtliche Verbürgung gerichtlichen Rechtsschutzes auch in Bezug auf die Grundrechte im Verfahren vor den Fachgerichten dar.
Die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen kann die rechtsstaatlich gebotene Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten materiellen Rechte nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht2; deshalb gewährleistet Art.19 Abs. 4 GG grundsätzlich die vollständige Nachprüfung des Verwaltungsakts in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht3. Dabei sind die Anwendung des einfachen Rechts und die dazu erforderliche Aufklärung des Sachverhalts grundsätzlich Sache der Fachgerichte. Diese unterliegen dabei einer Kontrolle, ob das Willkürverbot verletzt ist oder Fehler erkennbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen4.
Wie das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Sachaufklärungspflichten aus § 26 FamFG oder § 10 Abs. 1 StrRehaG festgestellt hat, darf ein Gericht die prozessualen Möglichkeiten zur Sachverhaltsaufklärung nicht so eng auslegen, dass eine sachliche Prüfung des anhängigen Falles nicht mehr möglich ist und das vom Gesetzgeber verfolgte Verfahrensziel deshalb nicht erreicht werden kann5. Gleiches gilt für die verwaltungsgerichtliche Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Ihr kann – bezogen auf Asylverfahren – besonders dann verfassungsrechtliches Gewicht zukommen, wenn hinreichend substantiierte Behauptungen von Schutzsuchenden oder andere für das Verfahren relevante Erkenntnisse auf Umstände zielen, die, ihr Vorliegen unterstellt, für die Verwirklichung hochrangiger grundrechtlicher Gewährleistungen von ausschlaggebender Bedeutung sind. Dies gilt auch in Ansehung des Umstands, dass im Asylrechtsstreit die gerichtliche Aufklärungspflicht durch Mitwirkungspflichten des Klägers ergänzt und partiell überlagert wird (vgl. etwa § 15 AsylG). So kann im Einzelfall ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur umfassenden und hinreichend aktuellen Sachaufklärung und erschöpfenden Ausnutzung prozessualer Aufklärungsmöglichkeiten eine Verletzung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes begründen, wenn das Gericht eine im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt durchführbare Aufklärungsmaßnahme, die zudem eine Vielzahl von Fällen betrifft, unterlassen hat. Dies kann besonders dann der Fall sein, wenn nicht nur aussichtsreiche Aufklärungsmöglichkeiten seitens des Gerichts unterblieben sind, sondern dabei auch spezifische institutionalisierte Quellen, die den Gerichten gerade für die Aufklärung asylrechtlicher Sachverhalte aufbereitet und bereitgestellt werden, außer Acht gelassen wurden. Eine entsprechende Verpflichtung der Gerichte ist etwa bei Abschiebezielstaaten im Dublin-System anzunehmen, wenn dort eine häufig und in erheblichem Umfang wechselnde politische Situation im Hinblick auf die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen besteht, die sich über Einzelaspekte hinaus auf die generelle Fähigkeit oder Bereitschaft auswirkt, den Verpflichtungen im Rahmen des Dublin-Systems zu entsprechen.
Im vorliegenden Fall spricht für das Bundesverfassungsgericht einiges dafür, dass es das Verwaltungsgericht Schwerin6 schon unterlassen hat, sich mit den – wenn auch allgemein gehaltenen – Hinweisen in dem Schriftsatz vom 03.11.2022 auf die systemischen Schwachstellen des italienischen Aufnahmesystems und eine aktuell drohende politische Verschärfung der Lage für Flüchtlinge hinreichend gründlich auseinanderzusetzen. Vor allem aber hat es versäumt, sich – auch unabhängig vom Vortrag der Beschwerdeführerin – im Rahmen der Amtsermittlung über die aktuelle Aufnahmesituation in Italien zu informieren und die Mitteilungen hinsichtlich des Aufnahmestopps zu berücksichtigen, obwohl dies zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich gewesen wäre. Denn Italien gehört zu denjenigen Dublin-Staaten, die in besonderer Weise von häufig und in erheblichem Umfang wechselnden politischen Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen betroffen sind, die sich über Einzelaspekte hinaus auf die generelle Fähigkeit oder Bereitschaft auswirken, den Verpflichtungen im Rahmen des Dublin-Systems zu entsprechen. Die Anordnung, ab sofort und für einen nicht näher bestimmten beziehungsweise begrenzten Zeitraum keinerlei Rücküberstellungen mehr zu akzeptieren, stellt vielmehr einen sämtliche Fälle von Rücküberstellungen nach Italien in Dublin-Verfahren gleichermaßen entscheidungserheblich betreffenden – und damit für die Arbeit des Gerichts maßgeblichen – Umstand dar, dessen Berücksichtigung in allen anhängigen Verfahren geboten ist. Wäre das Gericht seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung nachgekommen, hätte es spätestens am 21.02.2023, jedenfalls anhand der gängigen Datenbank „Asylfact“, von den Mitteilungen der italienischen Dublin-Einheit vom 05. und 7.12.2022 Kenntnis erhalten. In die erst im April 2023 ergangene angegriffene Entscheidung hätte diese Erkenntnislage einbezogen werden müssen.
Die Verfassungsbeschwerde war jedoch gleichwoghl unzulässig, weil der Vortrag der Beschwerdeführerin jedenfalls nicht hinreichend substantiiert ist. Sie hat es insbesondere versäumt, substantiiert darzulegen, dass für sie ein Antrag gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO offensichtlich nicht erfolgversprechend gewesen wäre. Eine Darlegung der Umstände, insbesondere des Zeitpunkts der Kenntniserlangung von den Mitteilungen der italienischen Dublin-Einheit vom 05. und 7.12.2022, wäre für die Prüfung der Erfolgsaussichten eines solchen Antrags erforderlich gewesen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass ein entsprechender Antrag auch unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO als Anregung zu einer abändernden Entscheidung von Amts wegen gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO verstanden werden kann7. Als Folge dieses Substantiierungsmangels lässt sich nicht zuverlässig feststellen, ob die Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf den Grundsatz der formellen Subsidiarität nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zulässig ist. Beschwerdeführer müssen nicht nur den Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erschöpfen, sondern darüber hinaus alle ihnen zumutbaren Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verhinderung oder Beseitigung der geltend gemachten Grundrechtsverletzung formal durchlaufen. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt, dass ein Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO eine solche Rechtsschutzmöglichkeit darstellt8. Unsubstantiiert sind die Darlegungen der Beschwerde auch hinsichtlich des von ihr erhobenen Vorwurfs der Willkür des angegriffenen Hoheitsaktes, der unterlassenen Sachaufklärung hinsichtlich des Bruders der Beschwerdeführerin sowie in Bezug auf ihre Rügen zu Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 2. August 2023 – 2 BvR 593/23
- vgl. BVerfGE 35, 263 <274> 84, 34 <49> stRspr[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 13.09.2020 – 2 BvR 2082/18, Rn. 25; und vom 03.11.2021 – 2 BvR 828/21, Rn. 29[↩]
- vgl. BVerfGE 15, 275 <282> 35, 263 <274> 101, 106 <123>[↩]
- vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.> stRspr[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 09.12.2014 – 2 BvR 429/11, Rn. 14; Beschluss vom 14.09.2015 – 1 BvR 1321/13, Rn. 22; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 03.05.1995 – 2 BvR 1023/9419 f.[↩]
- VG Schwerin, Beschluss vom 04.04.2023 – 5 B 1613/22 SN[↩]
- vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 24.07.2019 – 2 BvR 686/19, Rn. 36[↩]
- vgl. BVerfGE 69, 233 <242 f.> 70, 180 <187 f.> BVerfG, Beschluss vom 09.01.2002 – 2 BvR 2124/01, NVwZ 2002, S. 848; BVerfG, Beschluss vom 20.07.2016 – 2 BvR 1385/16, Rn. 7[↩]
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