Abschiebungsbedingtes Einreise- und Aufenthaltsverbot – und die noch nicht abgeschlossene Berufsausbildung

Der Erfüllung des zentralen Merkmals einer in Abschnitt 4 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes geregelten Anspruchsgrundlage für die Erteilung eines Aufenthaltstitels während des asylverfahrensbezogenen Aufenthalts im Bundesgebiet begründet ein aufenthaltsrechtlich beachtliches Rückkehrinteresse, dem im Rahmen der Befristung eines abschiebungsbedingten Einreise- und Aufenthaltsverbots Rechnung zu tragen ist.

Abschiebungsbedingtes Einreise- und Aufenthaltsverbot – und die noch nicht abgeschlossene Berufsausbildung

Der Abschluss einer qualifizierten Berufsausbildung bis zu dem für die Beurteilung der Sachlage maßgeblichen Zeitpunkt lässt es vorbehaltlich etwaiger Besonderheiten des Einzelfalles angezeigt erscheinen, die Geltungsdauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf die Hälfte des gefahrenabwehrrechtlich bestimmten Wertes festzusetzen. Die bloße Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung vermittelt dem Ausländer zwar unter den Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a AufenthG eine Bleibe, jedoch in aller Regel keine die Geltungsdauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots überdauernde Rückkehrperspektive.

Die Schutzwürdigkeit des Interesses des Ausländers an einer angemessenen Rückkehrperspektive wird insbesondere durch Art. 6 und Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 GRC sowie durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprägt.

Einer angemessenen Rückkehrperspektive bedürfen im Lichte des Schutzes des Familienlebens im Sinne von Art. 6 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 Var. 2 GRC insbesondere Ausländer, die im Bundesgebiet in familiärer Lebensgemeinschaft mit einem deutschen oder einem ausländischen langfristig aufenthaltsberechtigten Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährigen ledigen Kind leben oder eine sozial-familiäre Beziehung mit einem solchen minderjährigen ledigen Kind pflegen.

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Entsprechendes gilt für Ausländer, die den verfassungs- und völkerrechtlichen Schutz sogenannter faktischer Inländer1 genießen. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 Var. 2 GRC beschränken die Berücksichtigung der Gesamtheit der gewachsenen Bindungen zum Bundesgebiet, die das Privatleben des Ausländers ausmachen, aber nicht auf diese Fälle. Bei der Gewichtung einer an schutzwürdige Bindungen anknüpfenden Rückkehrperspektive sind dabei neben der Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen an das Bundesgebiet auch die Stärke der Bindungen an das Herkunftsland zu berücksichtigen2.

Der erfolgreiche Abschluss einer im Bundesgebiet durchgeführten qualifizierten Berufsausbildung vermittelt hiernach dem Ausländer eine im Rahmen des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zu beachtende aufenthaltsrechtliche Rückkehrperspektive. So kann einer Fachkraft mit Berufsausbildung gemäß § 18a AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer qualifizierten Beschäftigung erteilt werden, zu der ihre erworbene Qualifikation sie befähigt. Fachkraft mit Berufsausbildung im Sinne dieses Gesetzes ist nach § 18 Abs. 3 Nr. 1 Alt. 1 AufenthG ein Ausländer, der eine inländische qualifizierte Berufsausbildung besitzt. Die Annahme einer entsprechenden Rückkehrperspektive setzt nicht voraus, dass dem Ausländer bereits eine die Wiedereinreise ermöglichende Stelle angeboten wurde; eines solchen Angebots bedarf es erst in einem späteren Visumverfahren. Hiervon geht auch § 20 Abs. 1 Satz 1 AufenthG aus, dem zufolge einer Fachkraft mit Berufsausbildung eine Aufenthaltserlaubnis für bis zu sechs Monate zur Suche nach einem Arbeitsplatz, zu dessen Ausübung ihre Qualifikation befähigt, erteilt werden kann, sofern die Fachkraft über der angestrebten Tätigkeit entsprechende deutsche Sprachkenntnisse verfügt. Ebenso wenig setzt die Berücksichtigung des erfolgreichen Abschlusses einer qualifizierten Berufsausbildung im Rahmen der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots voraus, dass der Ausländer seinem Beruf nicht auch in dem Zielland der Abschiebung nachgehen könnte. Ein solches Erfordernis trüge den sich unter anderem in dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz widerspiegelnden Interesse an einer Ermöglichung von Zuwanderung ausgebildeter Fachkräfte nur unzureichend Rechnung. Der Abschluss einer qualifizierten Berufsausbildung bis zu dem nach § 83c i.V.m. § 77 Abs. 1 AsylG und § 75 Nr. 12 AufenthG maßgeblichen Zeitpunkt lässt es vorbehaltlich etwaiger Besonderheiten des Einzelfalles im Hinblick zum einen auf die hierdurch gefestigten wirtschaftlichen Bindungen des Ausländers an das Bundesgebiet und zum anderen auf das öffentliche Interesse an einer Deckung der Bedarfe des Wirtschaftsstandortes Deutschland und der Fachkräftesicherung3 angezeigt erscheinen, die Geltungsdauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf die Hälfte des in Fällen ohne erkennbare Besonderheiten bestimmten Wertes, bei ansonsten angesetzten 30 Monaten mithin auf die Dauer von 15 Monaten festzusetzen. Wird die qualifizierte Berufsausbildung erst nach dem vorbezeichneten für die Beurteilung der Sachlage im asylgerichtlichen Verfahren maßgeblichen Zeitpunkt abgeschlossen, so ist der Ausländer darauf verwiesen, nach Maßgabe des § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG die Verkürzung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots bei der dann zuständigen Ausländerbehörde4 zu beantragen.

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Demgegenüber begründet allein die bloße Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung ohne deren erfolgreichen Abschluss zwar unter den Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a AufenthG eine Bleibe, jedoch entgegen der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts in aller Regel keine die Geltungsdauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots überdauernde Rückkehrperspektive. Die Erteilung einer Ausbildungsduldung hindert für die Dauer ihrer Geltung eine Abschiebung des Ausländers. Im Falle ihrer Erteilung und eines in der Folge realisierten erfolgreichen Abschlusses der qualifizierten Berufsausbildung ist dem Ausländer unter den Voraussetzungen des § 19d Abs. 1a AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Liegen indes die Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausbildungsduldung nicht vor, so stehen die mit der Abschiebung des Ausländers gemäß § 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG in Lauf gesetzten Sperrfristen des § 11 Abs. 1 AufenthG in aller Regel der Annahme einer realen Perspektive, in das Bundesgebiet zum Zwecke der Fortsetzung bzw. einer Wiederaufnahme der im Bundesgebiet begonnenen qualifizierten Berufsausbildung zurückzukehren, entgegen.

Zu den eine aufenthaltsrechtlich begründete Rückkehrperspektive nicht vermittelnden niederschwelligen Integrationserfolgen zählen auch Kenntnisse der deutschen Sprache, die der Ausländer während seines Aufenthalts im Bundesgebiet erworben hat. Ebenso wie sonstige denkbare gelegentlich des asylverfahrensrechtlichen Aufenthalts erzielte niederschwellige Integrationserfolge wie etwa ein Schulbesuch, eine bestandene Integrations- oder Fördermaßnahme, die Ausübung einer kurzfristigen Aushilfstätigkeit, ehrenamtliches oder gesellschaftliches Engagement etc. sind entsprechende Sprachkenntnisse, mögen sie auch überdurchschnittlicher Art sein, allein kein Anknüpfungspunkt für eine legale Rückkehr in das Bundesgebiet zu einem im Aufenthaltsgesetz vorgesehenen Aufenthaltszweck. Auch neben einer erfolgreich absolvierten Ausbildung kommt ihnen grundsätzlich kein eigenständiger „Mehrwert“ zu, der es rechtfertigte, die Befristung auf weniger als die Hälfte der in Fällen ohne erkennbare Besonderheiten veranlassten Geltungsdauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots vorzunehmen.

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Nach diesen Maßstäben war im hier vom Bundesverwaltungsgerichts entschiedenen Fall ist die seitens des Bundesamts gegenüber dem Asylbewerber für die Dauer von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung festgesetzte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden:

Umstände, die ein Fernhalten des Asylbewerbers von dem Bundesgebiet für die Dauer von mehr als 30 Monaten geböten, sind seitens des Oberverwaltungsgerichts nicht festgestellt worden. Eine Bemessung der Geltungsdauer des abschiebungsbedingten Einreise- und Aufenthaltsverbots auf einen Zeitraum von weniger als 30 Monaten war im Hinblick auf die von dem Asylbewerber aufgenommene, aber bis zu dem maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung nicht erfolgreich abgeschlossene qualifizierte Berufsausbildung sowie die während seines Aufenthalts im Bundesgebiet erworbenen Kenntnisse der deutschen Sprache nicht veranlasst.

Ob der Asylbewerber die Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausbildungsduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a AufenthG erfüllte, ist nicht Gegenstand dieses asylgerichtlichen Rechtsstreits. Dessen allein auf das Einreise- und Aufenthaltsverbot beschränkte Rechtshängigkeit hätte der Erteilung einer solchen mit Blick auf § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und Nr. 6 AsylG jedoch nicht entgegengestanden. Ungeachtet dessen wird einem abgelehnten Asylbewerber, der während seines Asylverfahrens eine qualifizierte Berufsausbildung aufgenommen und abgeschlossen hat und die in § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG geregelte Ausbildungsduldung wegen Nichterfüllung der Voraussetzung „nach Ablehnung des Asylantrags“ nicht erhalten konnte, ein Anschlussaufenthalt nach Maßgabe der § 60c Abs. 6 Satz 2 bzw. § 19d Abs. 1a AufenthG nicht verwehrt werden dürfen, sofern alle sonstigen Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausbildungsduldung während der Ausbildung gegeben waren. Es verstieße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, demjenigen, dessen Asylverfahren seine Ausbildung überdauert hat, anders als demjenigen, dessen Asylverfahren vor Abschluss der Ausbildung beendet war, den „Spurwechsel“ zu versagen, weil für eine derartige Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund nicht ersichtlich ist.

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Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 7. September 2021 – 1 C 47.20

  1. vgl. hierzu BVerfG, Kammerbeschluss vom 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16, NVwZ 2017, 229 Rn.19 ff.; EGMR, Urteile vom 20.12.2018 – Nr. 18706/16, Cabucak; vom 09.04.2019 – Nr. 23887/16, I.M. – und Entscheidung vom 20.11.2018 – Nr. 16711/15, Mohammad; OVG Bremen, Urteil vom 15.11.2019 – 2 B 243/19 24 f.[]
  2. vgl. EGMR, Urteil vom 02.08.2001 – Nr. 54273/00, Boultif, Rn. 48; EGMR , Urteile vom 18.10.2006 – Nr. 46410/99, Üner, Rn. 57 f.; und vom 23.06.2008 – Nr. 1638/03, Maslov, Rn. 71 und 73 und EGMR, Urteile vom 25.03.2010 – Nr. 40601/05, Mutlag, Rn. 54; und vom 13.10.2011 – Nr. 41548/06, Trabelsi, Rn. 55; ferner BVerwG, Urteil vom 27.01.2009 – 1 C 40.07, BVerwGE 133, 72 Rn.20[]
  3. BT-Drs.19/8285 S. 1[]
  4. vgl. BVerwG, Urteil vom 25.01.2018 – 1 C 7.17, Buchholz 402.242 § 11 AufenthG Nr. 16 Rn. 12[]